375 der Untersekunda hätte neu beobachten und nochmals abstempeln wollen, wäre nie durchgedrungen; schon darum nicht, weil der ge­wohnte Ruf auf den alten Lehrer noch so gut seine Wirkung übte, wie vor sechsundzwanzig Jahren. Man brauchte nur auf dem Schul- Hofe, sobald er vorbeikam, einander zuzuschreien:.Riecht es hier nicht nach Unrat?" Oder:.Oho, ich wittere Unrat I" Und sofort zuckte der Alte heftig mit der Schutter, immer mit der rechten, zu hohen, und sandte schief aus seinen Brillengläsern einen grünen Blick, den die Schüler falsch nannten und der scheu und rachsüchtig war: der Blick eines Tyrannen mit schlechtem Gewissen, der in den Falten der Mäntel nach Dolchen späht. Sein hölzenies Kinn mit dem dünnen graugelben Bärtchen darum klappte herunter und herauf. Er konnte dem Schüler, der geschrieen hatte,nichts beweisen" und muhte weiterschleichen auf seinen mageren eingeknickten Beinen und unter seinem fetttgen Hut. Das Ende dieses Tyrannen zu schildern hat Heinrich Mann unternommen. Von Unrats Vorleben erfahren wir sehr wenig: nur dah er einmal es ist aber schon so lange her, daß nur wenige sich noch dunkel dessen entsinnen können und keiner mehr es recht glauben will als Hülfslehrer adrett und nett war, daß er eine Witib hat heiraten müssen, die ihm das Geld gab, um seine Studien beenden zu können und die ihm, so lange sie lebte, ihre Knechtschaft aufzwang, dah sein Sohn ihm viel Verbrüh machte: er trieb sich mit zweideutigen Frauenzimmern auf dem Martte herum. Das ist alles. Wie er allmählich zu dem Unrat geworden ist, zu erklären, bleibt uns überlasten, kaum dah Heinrich Mann uns einige dürstige Anhaltspunkte gibt: Unrat ist ein Opfer der Schülergrausanckeit. Die Schüler haben ihm einen unparlamentarischen Spitznamen angehängt und das hat ihn zu ihrem Feinde gemacht. Was in seinen Kräften steht, legt er ihnen in den Weg, damit sie das.Ziel der Klasse" nicht erreichen, d. h. die Versetzung. Ewige Fehde herrscht zwischen ihnen und ihm. Er ist gegen die ganze Stadt, denn sie rekrutiert sich aus seinen ehemaligen Schülern, und sie gegen ihn. Mögen sie auch jetzt schon lange seiner Gewalt ent- wachsen sein und seiner Zuchtrute, für ihn bleiben sie immer seine Schüler, die ihn so gewissenlos geärgert haben und denen er es manchmal nur nicht.beweisen" konnte. Und es steht so ziemlich auher Zweifel, dah Unrat in Groll und Hah gegen seine Schüler und ohne Triumph über sie aus der Welt gegangen wäre, wenn nicht die Künstlerin Fröhlich in seinen Lcbensgang eingegriffen hätte. Sie, die er aller Welt zum Trotz zu seinem ehelichen Weibe macht, der er ohne Bedenken seine Karriere opfert, erlegt einen seiner Schüler nach dem anderen durch ihre Reize, mit denen sie, wenn es ihr darauf ankommt, nicht kargt. Diese Künstlerin Fröhlich hat eine sehr bewegte Vergangenheit hinter sich, sie feiert die Feste wie sie fallen auch ein Kind hat sie, das Unrat adopttert sie ist eine Tingeltangelsängcrin fünften Ranges, es gibt nichts Gemeinsames zwischen ihr und dem Gymnasialprofessor, und doch weih sie ihn zu kapern und er läht sich kapern. Mit Vergnügen sogar. Er merkt, dah die Künstlerin Fröhlich ihm in sein einsames, einförmiges Leben ein anderes Element bringen wird, dah sie es ergänzen, bereichern und verschönern wird. Auf ihre Art, eine Art, von der er bisher nichts gewuht hat. Diese Künstlerin Fröhlich ist eine Ranna im kleinen Stil, eine Miniaturnanna, harmloser, nicht so gerissen, gutmüttg in ihrer Weise, lüstern, von einer naiven Verderbtheit. Unrat und diese Künstlerin Fröhlich sind ein paar prächtig gelungene Gestatten, wenn man auch bei dem Professor nie das Gefühl loS wird: der Mann ist übertrieben, eine Karikatur, eine Farce. Die Fröhlich ist aber wirkliches Leben efe kräftig pulsierendem Blut in den Adern. mit einem, wenn auch Mmi, Kokottcnköpfchcn für sich: eine Schwester Sidonie Chöbe. Wenn sie hübsch angezogen ist und ordent- lich zu essen und zu trinken hat, wünscht sie sich nichts weiteres auf dieser Welt: Höheres tangiert und beschwert sie nicht. Ohne dah Heinrich Mann sich breite Schilderungen und viele Worte gestattete, weih er uns die Stadt, in der Tyrann Unrat und seine Künstlerin Fröhlich ein Jahr lang so siegreich das Szepter führen und alle, auch die anfangs Widerstrebenden, unterjochen, zu schildern in ihrer Beschränkthett, Enge der Mauern und der Anichauungen, einen Herrenhuter greift er heraus, eine famose komische Figur: Unrat glaubt was bei ihm über die Künstlerin Fröhlich erfahren zu können. Sie kommen nicht gleich aufs Thema, überdies versteht ihn der Schuster falsch und es entspinnt sich folgender Dialog:.Auch mein Weib ist eine Sünderin," sagte der Schuster leise, schob die Finger über den Magen durcheinander und sah auf mit einem Be- kennerblick..Und ich selbsten muh sprechen: Herr, Herre. Denn FleischcSsünder sind wir allzumal." Wie erstaunte Unrat:.Sie und Ihre Frau? Sie sind doch rechtmähig verheiratet?" Oo oh jah, das sind wir wohl. Aber Fleischessünde, Herr Professor, bleibt eS immerdar, und Gott erlaubt eS auch nnhr--' der Herrenhuter richtete sich auf zu etwas Wichtigem. Seine Augen wurden rund und ganz bleich vor Geheimnis.Nun?" fragte Unrat nachsichttg. Und jener flüsternd:»Das wissen die andern Menschen man nich, dah Gott eS nur darum erlaubt, auf dah er in seinen Himmel dort oben mehr Engel kriegt." Glänzend in der Charakteristik wie Unrat und die Fröhlich find auch die drei Schülertypen Lohmann der Idealist und Weltschmerzdichter, Ertzum der Landmnker, der sich auf der Schulbank kreuzunglücklich fühlt, ein robuster Mensch und beschränkter Kopf, mit einem Gesicht, das fein Fremid Lohmann.den besoffenen Mond" nennt, und Kieselack mit einem Wort ein Schubjack. Man kann über Heinrich MannS Puch viel sagen, einzelnes, wie z. B. dah wir Unrat als etwas Fertiges, dessen Entwicklung wir nicht verfolgen oder auch mit Wahr« fcheinlichkeit feststellen können, hinnehmen müssen, mit Recht antasten aber im Grunde tut man gut, eS selbst zu lesen: es ist keine alltägliche, schon so und so oft erzählte Geschichte, es ist originell in Form und Anlage und ein guter Wurf. Etwas, das unS auch bei Arams Roman nicht zu vollem Genuß kommen läht, ist eine gewisse Zwiespältigkeit in der Ausführung. Bei Mann beunruhigt uns von Zeit zu Zeit daS Gefühl: dieser Unrat ist eigentlich ein Fabelwesen, ein Mensch mit einer fixen, ihn vollständig beherrschenden Idee; bei Aram erwarten wir nach An- läge und Expositton einen Tendenzroman und schliehlich, allmählich wird es eine interessierende und ergreifende Menschengefchichte: am Schlich haben wir die Tendenz nur ganz sacht noch. Der alte Joachim redet einiges, das wie Ueberleitung und Brücke zu dem Vorhergegangenen aussieht. Tendenz ist berechttgt, manchmal durch- aus am rechten Platze, aber in der Kunst von Uebel. So kann ich rnir's sehr wohl vorstellen, dah jemand Arams Buch, wenn er hundert Seiten gelesen hat, unzuftieden aus der Hand legt. Die Leute reden, reden, reden. Der alte Baron Joachim fürs Land, der junge Baron Albrecht plädiert für die Stadt. Natürlich kommen sie nicht zu- sammen. Schloh Ewich und seine Belvohncr sprechen ja eigenttich schon in vollster Deutlichkeit für die Vorzügttchkeit des Landes gegen» über der Stadt einfachere und besiere Lebensweise, natiirlichs und bessere Menschen sdavon hört man immer wieder) trotzdem setzt der alte Joachim, den wir allmählich als einen ganz Pracht- vollen im Stil der Fontaneschen Alten kennen lernen, das noch un- ermüdlich und ausführlich dem jungen mir sehr umsympathischen Albrecht auseinander. Dieser Albrecht erscheint als kein angenehmer Mitmensch. Aram hat ihn wohl absichtlich als das auch gezeichnet. Aber er scheint am Schluß, wenn Albrecht geläutert vom Lande und sittlich aufgebessert erscheint ob er es in Wahrheit ist, bezweifle ich für ihn Sympathien einsammeln zu wollen, und die mutz ich ihm rundweg verweigern. Es ist mir genau so unangenehm, wenn wir ihn verlassen, als damals wo wir ihn kennen lernten. Es ist ganz Bramsche Tendenz, leider. Wir können nach den von ihm gegebenen Proben nicht glauben, dah ein Umschwung in ihm vor- gegangen ist, wenn das Aram durch seine Mittelspersonen auch vcr- sichert. Der ändert sich nicht so leicht und so schnell. Einfach als Geschichte, ohne Tendenz, und diese augenfällige und uuverhüllte noch dazu, würbeSchloh Ewich" ausgezeichnet sein, wie der Roman in Mitte und Schluh, wo das Menschliche auch stark und lebenswahr zum Durchbruch und Ausdruck kommt, auch bedeutend wirkt. Einzig die Regine nehme ich aus, wenigstens ist sie nicht tendenziös ge- färbt höchstens in purer Wirklichkeit, nicht in Theorie sie ist ganz Leben, das Land in seiner unverbrauchten Kraft und Frische symbolisiert sich in ihr. Schattenhafter als Joachim und Regine bleibt die Mutter, die alte Ruth. Wenn man den Roman einmal gelesen hat, ist man versucht, die schönsten und kräftigsten Szenen noch einmal zu geuiehen Regines Erwachen zur Jungfräulichkeit. des Alten Sterben da merkt man denn: das Buch hat doch ein Dichter geschrieben und kein Tendenzschriftsteller. Nun müssen wir es hinnehmen wie es ist, und uns heraussuchen, waS unS das Liebst« ist. Und deS Gute» finden wir nicht wenig. Alfred Sem er a«. Klciiud feirillcton. er. Dir Verarmten. Blühend und duftend, prangend in ihre» ganzen Maienpracht lagen die Gärten am Kurfürstcndamm; Gold- lack, Narzissen, Stiefmütterchen und Vergißmeinnicht leuchteten wie ftinkclnde Edelsteine aus dem Smaragdgrün des jungen Rasens, der Faulbaum hing voll Weiher Trauben, an den Fliederbüschcn sprangen die ersten Blüten, und über allem warmer, lachender Sonnenschein. Ja es war wundervoll! Marie blieb einen Augenblick stehen, lieh das Auge entzückt über all die Pracht schweifen und atmete die frische, reine Luft in vollen Zügen ein. Das war hier ein anderes Wandern als drinn in der Markusstrahc. Wer hier wohnen konnte! Wer überhaupt s» hinaus konnte in den Frühling, auf's Landl� Na, vielleicht können sie es nun auch einmal. Sie seufzte schwer, und über ihr Gesicht ging ein sorgenvoller Zug, verschwand aber auch sofort wieder. Ach gäwitz können siel Tante Wand« würde das Geld schon geben; wenn sie hörte, dah Mag so krank war und dah er unbedingt hinaus mühte, um die schwachen Lungen wieder zu kräftigen, konnte sie doch nicht nein sagen, sie konnte doch den Sohn ihrer einzigen Schioestcr nicht verlassen l Nein, nein, sie war ja immer gut gcwesetc. Und Marie beflügelte ihren Schritt, schon nach wenigen Minuten hatte sie das elegante Hang an der Uhlandstrahe erreicht. Eine Zofe mit koketter weißer Schürze und ebensolchem Häubchen öffnete. Ja. die gnädige Frau war zu Hause aber ob auch zj| sprechen?..." Etwas herablassend maß das Mädchen die schlicht gcklcideie junge Frau:Na, sie wollte sehen." Eine Flucht eleganter Salons, Tcppiche, in denett der Fuß vec sank; schwellende Polster, geschnitzte Möbel, Gemälde erster Meister. Marie hielt unwillkürlich den Fuß an, es überkam sie wie eine Qg Heime Scheu, aber sie schüttelte sie rasch ab. Nch wast.Es Vau