Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 102.
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flammen.
Freitag, den 26. Mai.
( Nachdrud verboten.)
Seit vierzehn Tagen befand Grabaus sich wieder in Jena . Aeußerlich war alles wieder im alten Gleis, innerlich aber das Feuer, das sich damals in seiner Brust entzündet hatte, brannte weiter, strahlte heller und heller und erleuchtete den ganzen Umkreis seines Lebens. Wenn ehedem trübe und helle Stunden abgewechselt hatten, je nachdem ihm die äußeren Umstände günstig oder widrig waren, so wandelte er jegt wie in einem ewigen Licht.
1905
behindert, und er hatte sie nicht gedrängt mitzukommen. Sie fanden den Major als Patienten auf dem Sofa liegen. Ischias , sein altes Leiden, das ihn schon mehrere Winter schwer geplagt hatte und seinerzeit auch der Grund seines Abschiedes gewesen war, hatte ihn wieder ergriffen. Außer dem Major und seiner Frau war auch dessen Bruder, ein Arzt, anwesend, der mit im Hause lebte.
Doktor Platen oder Onkel Rudolf, wie er von den Familienmitgliedern genannt wurde, hatte außer gewissen gemeinschaftlichen Familienzügen, die man erst nach längerer Kenntnis der Brüder entdeckte, gar keine Aehnlichkeit mit dem Major. Die aufgeworfenen Lippen über dem struppigen, grau melierten Bart gaben seinem Gesicht einen brummigen AusAlles glückte ihm über die Maßen. Er hatte sich vor dem druck. Tiefe Querfalten durchschnitten die mächtige Stirn, Wiedersehen mit seiner Frau gefürchtet. Aber Frau Konstanze deren Wandung aus einer noch härteren und festeren Knochenwar nach seiner Rückkehr wie ausgewechselt. Der Umstand, masse zu bestehen schien als bei anderen Menschen. Er war daß der allmächtige Geheimrat sich für ihren Mann verwenden fleiner als sein Bruder, von gedrungener Gestalt und gewollte, ließ ihr dessen Karriere als gesichert erscheinen, und beugter Haltung. Im Gehen oder Stehen pflegte er meist die als nach einigen Tagen gar ein Brief von Grabaus' Vater Hände auf den Rücken zu legen und auf seine Stiefelspitzen zu eintraf, worin dieser schrieb, Wohlbold hätte sich sehr freundlich schauen. Blickte er aber jemanden an, so geschah es mit solcher über Heinrich ausgesprochen und etwas von einer bevorstehenden eindringlichen Kraft, daß dem Betroffenen vor diesem stummen Ueberraschung verlauten lassen, da hielt Frau Konstanze die Beobachter wohl unheimlich werden konnte. Berufung ihres Mannes als ordentlicher Professor nach Als die Besucher ins Zimmer traten, erhob dieser Mann Preußen für ausgemachte Sache. Und während sie, die Beine fich aus einem Lehnstuhl in der finstersten Ecke des Zimmers, weit gespreizt, auf ihrem umfangreichen Schoß die beiden ergriff beim Vorstellen mit seiner ungefügen Rechten eines Kinder schaukelte und bald das eine, bald das andere herzte, jeden Hand und quetschte ihm die Finger zusammen, daß sie rechnete sie ihm vor, wieviel Gehalt er dann bekommen würde, frachten. Dann sette er sich wieder stumm in den Lehnstuhl. wieviel Umzugsvergütung, wieviel Wohnungszuschuß und, In der ganzen Zeit vor und während des Essens sprach er kaum später einmal, wieviel Pension! Ein Mann mit Pensions- dreimal, und das war mehr ein Gebrumme als zusammenberechtigung war in ihren Augen das Muster der Vollkommen- hängende Worte. Aber immer wieder in kürzeren oder längeren heit. Pappi war jetzt der große Mann in der Familie, selbst 3wischenräumen spürte Grabaus die durchdringende Last seiner Mammifind merkte mit feinem Instinkt, daß eine gewaltige Blicke, und so befangen machte dieser schweigsame Beobachter Veränderung eingetreten sei, und behandelte die Manuskripte ihn, daß darüber das Glück, die geliebte Frau wieder zu sehen, ihres Vaters, die sie früher schonungslos beklert hatte, mit ihm gar nicht rein zum Bewußtsein kommen wollte. Vergeblich achtungsvoller Scheu. mühte er sich ab, fröhlich zu sein. Immerfort mußte er denken: was für ein unheimlicher Mensch! Was will er nur? Was geht in ihm vor? Wie kant Marie Luise es nur in seiner Gesellschaft aushalten?
Grabaus aber, in dem Gefühl, daß jetzt, wo er sich innerlich von seiner Frau losgesagt hatte, er desto mehr für ihr äußeres Wohlergehen sorgen müsse, stürzte sich auf die Arbeit mit so freudiger, fampfbereiter Hast, wie ein Landmann, der in der Ferne ein Gewitter drohen sieht und den Rest der schönen Ernte noch vorher in die Scheuern bringen will. Auch in ihm schien ganz unmerklich in der Stille der verflossenen Jahre eine reiche Ernte herangewachsen zu sein, er fühlte es drängen und regen in seiner von der Fülle wie auseinander gepreßten Brust, und die Gedanken lösten sich ab mit solcher Leichtigkeit, wohlgestaltet in prangender Schwere wie der reife Ueberfluß von den Fruchtbäumen der Gärten. Außer zahlreichen kleineren Arbeiten, die ihm vor allem schnellen Verdienst sichern sollten, begann er ein größeres Werk, an das er sich lange nicht herangetraut hatte. Jetzt aber, wo er es mutig unternahm, schien es längst auf ihn gewartet zu haben, und er schrieb daran, nicht wie einer, der dem fernen Ziel zustrebend, zugleich ängstlich bedacht ist, daß er sich nicht verirrt, sondern als wenn er von einer unsichtbaren Hand geführt, geradenwegs diesem Ziel entgegenliefe.
Auch in seinem Kolleg erlebte er eine freudige Ueberraschung. Denn trotzdem der Gegenstand, den er behandelte, dem allgemeinen Interesse fernlag, hatten sich weit mehr Studenten eingefunden als in den vergangenen Jahren. Und Grabaus sprach gleich in den ersten Vorlesungen mit solchem Feuer, wußte das engbegrenzte Gebiet so mit dem großen Ganzen menschlichen Wissens zu verweben, daß seine Zuhörer ihm nicht nur jedesmal Beifall spendeten, sondern daß sich in den nächsten Stunden auch noch immer mehr Hörer einfanden, statt daß, wie es sonst üblich, die Bänke allmählich leerer wurden. So flogen die Tage dahin, Werkeltage, vom frühen Morgen bis in die späte Nacht mit Arbeit angefüllt, und doch eine festliche Zeit, eine Zeit höchster Spannung, glücklichsten Gelingens. Ergriffen war er ganz und gar von jenem Feuer, das jedes Teilchen seines Wesens zur höchsten Kraft entflammte und bis in die letzten Tiefen alles Dunkle, Trübe und Zweifelhafte verzehrte.
8.
Nach dem Essen machte man einen Spaziergang. Rauhreif bedeckte Baum und Busch, und der weite Rasen breitete sich wie eine silbergraue Decke von zartestem Südenplüsch. Nach einigen vergeblichen Versuchen war es Grabaus gelungen, mit Marie Luise hinter den anderen zurückzubleiben. Da sagte er, als wenn diese Bemerkung ihm schon lange auf der Zunge gebrannt hätte:
Was für ein eigentümlicher Mensch, Ihr Herr Schwager!"
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Man muß Geduld mit ihm haben," erwiderte Marie Quise mit einem Lächeln.„ Er ist kein Mensch, der ouf den ersten Eindruch wirkt. Aber je näher man ihn kennen lernt, desto lieber gewinnt man ihn."
,, Das mag wohl sein. Einstweilen aber muß ich offen sagen, werde ich aus ihm nicht flug. So etwas von Schweigsamkeit!"
,, Er ist von Natur verschlossen, und dann hat er auch viel Schweres durchgemacht. Vor einigen Jahren sind ihm beide Kinder an Diphtherie gestorben. Seitdem hat er seinen Beruf aufgegeben und will überhaupt von der ganzen Medizin nichts mehr wissen."
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,, Also ist er Witwer!" sagte Grabaus erstaunt. Und ich hielt ihn für den richtigen eingefleischten Junggesellen." ,, Er lebt von seiner Frau geschieden. Auch das hat wohl Sehen Sie, er ist dazu beigetragen, ihn niederzudrücken. ein Mensch für die Stunden der Not. Dann lernt man seine treue Seele schäßen. In anderen Stunden freilich
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Sie brach ab, doch als wenn es ihr unmöglich wäre, von diesem Menschen, der sie offenbar seit langem viel beschäftigt hatte, loszukommen, fuhr sie nach wenigen Schritten fort:
" Ich glaube, daß Menschen, die selbst nicht glücklich sind, auch andere nicht glücklich machen können. Sein Hauptunglück aber besteht darin, daß bei ihm der Verstand die Quellen seines Gemütes verstopft hat. Verstehen Sie, was ich meine?" " Ich glaube."