Hlnterhalttmgsblatt des VorwärtsNr. 121. Sonntag, den 25. Juni. 1905lNachdruck verdaten.)41] flammen.Noman Bon Wilhelm H e g e l e r.„Die Liebe zu Dir, Du Lieber! Du warst der tiefe, tiefsteAbgrund."Sie drückte ihm liebkosend die Hand und drängte ihndann leise von sich.„Lies weiter, Heinrich! Lies!"Er schlug das Buch auf, das er dann aber mit unwill-kürlicher Bewegung von sich stieß.„Ich kann nicht."Er schritt zum Fenster und blieb dort versunken stehen,bis sie neben ihn trat.„Was hast Du?"„Was ich habe?— An das Lied muß ich denken."„An welches Lied?"Er sah sie an, sah ihr in die Augen, und ihre Brauenzitterten leise, als sie ihn verstand.„An den, der's gemacht hat. An den, der's gelebt hat.An all die Glücklichen muß ich denken."„Heinrich, wir wollen wciterlesen. Komm!''„Ich mag nicht lesen. Ich Hab einen Ekel vor allenBüchern."„Ist das wirklich?"„Ja, was soll ich mit Büchern?!"„Weißt Du, was ich oft gedacht habe— aber ich habees nie geglaubt, denn es wäre ja schrecklich— daß Du Dichverändert hast— daß Du arm geworden bist gegen früher."„Arm geworden?"„Ja. Früher da tratst Du mir entgegen wie ein ganzstarker, einheitlicher Mensch, wie ein Mensch aus einer anderenWelt, den eine unverlierbare Frcundesschar umgibt, den alles,was die anderen trifft, alles Glück und Unglück nicht treffenkann, nicht im Innersten wenigstens. Aber nun kommst Dumir vor, als hättest Du die Freunde von Dir gestoßen unddamit auch alles Starke und Große, als wärst Du arm ge-worden und haltlos und—„Ich will Dir sagen, Marie Luise, wie es um meineArmut bestellt ist. Früher— eh ich Dich kannte— da warmein Leben so eine blasse, stille Nacht, erleuchtet von tausendSternen. Nun aber ist mir die Sonne aufgegangen, und dieSterne, die sind— ich weiß nicht, wo?".„O, dann wollt ich, es wäre wieder Nacht!"„Ich habe das Gefühl, als Hütt ich ein Schattendaseingeführt und mit Schattenwesen gelebt. Erst durch Dich habeich sehen gelernt, habe ich gelernt, wie schön die Welt ist.—Jetzt im Augenblick, da bin ich vielleicht arm. Weil mir daseinzige fehlt, was allem Wert gibt. Aber mit Dir wäre ichreich. Warum kann das nicht sein? Warum—"Da fiel ihm sein Versprechen ein, und er brach ab, sowie er oft nachts die rasenden Gedanken jäh unterbrochen undzum Stillstand gebracht hatte. Er setzte sich wieder auf denStuhl und schaute, während die aufstützende Hand seine Augenbeschattete, grüblerisch in sich hinein. Was hatte sie gesagt?Er sei arm geworden.— Er hatte es selbst so oft gefühlt.Aber sein Verstand, der graue, nüchterne, alte Verstand, derunbeirrbar aus alles chaotische Treiben seines Herzens hinab-blickte, hatte ihm dann immer geantwortet, daß alles wieder-kommen wiirde, was er verloren hatte. Er würde weiterlebenund weiterstreben. Nur freilich— daß der hochgestimmte Mutvon einst, die fröhliche Menschenliebe, das klingende Sehnenund Hosfen auf etwas in der Ferne Verheißungsvolles, nurfreilich, daß alles dies sich wandeln würde zu wermutbitteremGram, zum bohrenden Geschwür, das nie tötet, aber auch nieverheilt. Und wenn nach mühselig und bis zur Erschöpfungverbrachtem Tag der Abend kam-- Während er die Augenfchloß, war er der augenblicklichen Umgebung entrückt, hattedas Gefühl, an seinem Schreibtisch zu sitzen: hinter ihmlasteten die gewaltigen Bücherregale, und draußen graute eindüsterer nordischer Negenabend. Die Einsamkeit tat ihm weh,ihn verlangte nach einem menschlichen Laut. Er stand., aus,näherte sich der Tür, legte die Hand auf die Klinke und wagtedoch nicht, sie zu öffnen, wagte nicht einzutreten in dasZimmer nebenan, in dem sich seine Frau befand'. Die Handsank, sein verlorener Blick irrte umher, bis er auf einem Bildan der Wand haftete— dem Bild Marie Luisens. Es hingzwischen denen von Lessing, Shakespeare, Kant, zwischen denender„Freunde", der tote Schatten, eine Tote, ein Schattenauch sie....Ihn fror, während er dies auskostete, und ihm war, alswenn flammende Holzscheite in Asche versänken. Dann besanner sich und schaute auf. Marie Luise hatte sich am Fensterumgewandt. Ihre schwarze Gestalt zerstoß jetzt fast mit demumgebenden Dunkel, aber desto blasser trat, vom fahlen Lichtdraußen seitlich erhellt, ihr Gesicht hervor, auf das ein gram-versunkenes Sinnen seine herben Falten legte. Er erhob sich,näherte sich ihr langsam und ergriff ihre Hand.„Sei nicht böse, wenn ich Dir weh getan habe. Ich wolltediesen traurigen Tag noch nicht trauriger machen.— Ich weißja, es kann nicht sein. Denn— der Grund tiegt ja nicht inden Umständen, nicht in Deinem Mann, nicht in meiner Ehe,In Dir selbst liegt er, daß Du so bist, wie Du bist. Seitdem ichDich erkannt habe, da bin ich im tiefsten Herzen ganz ruhig ge-worden, wenn auch oben noch die Wünsche toben und aufbc-gehren.— Sieh, was mir Dein Bruder von Dir erzählte, istmir nun klar geworden: daß Du wunschlos bist. Ja, Du ge<hörst wirklich in die andere Welt, in der ich war, und in dieich auch zurückkommen werde. Daß wir uns eins fühlen, istDir genug. Und was ich einmal sagte,— und damals glaubteich es auch— die Wirklichkeit sei nichts, wenn man nur glaubendürfte, ein Glück zu besitzen: auf Dich trifft das zu. Und ichwar ungerecht und undankbar, daß ich, als Du mir sagtest,Deine Seele gehörte mir, daß ich da.-- Aber Du weißt nicht,was in mir vorgeht, was nachts in einem wühlt, was einenbehext wie das verfluchte Lied und— Ach, Marie Luise, sichherausreißen aus alledem und wie Du werden— wunschloswie D und rein wie Du—"Da ging ein Schauer durch ihren Körper, eine Erschütte-rung, die sich aus tiefsten Tiefen nach außen fortpflanzte, alswären dort unten Schmerzen gewaltsam losgebrochen, alsfluteten zurückgedämmte Tränenströme haltlos dahin, und er-höben mundtot gemachte Klagen sich zu wildem Sturm. Undwährend er noch sprach, und aus seinen Worten herausklang,daß sie ihm wie eine Ueberirdische erschien, der die dunkelstenQualen erspart sind, wenn die dürstende Seele sich windetüber den Flammen des Bluts, nmßte sie an das Erwachenheut morgen denken, wie ihr Kopfkissen vom Weinen durchnäßtgewesen, an andere Morgen, an fiebcrvcrglühte, schwarzeStunden, an das Auffahren nachts, wenn sie, von ihren wirrenGedanken in Schlaf gehetzt, im Traum ihren Arm um ihngeschlungen hatte und beim Erwachen begriff, daß es nur einTraum war. Die entsetzcnsvolle Leere, die verzweifelnde Angst,der ganze schmachvolle Jammer umklammerten sie. Sic hörtenicht mehr auf ihn, sondern flehte nur: �„Sei still! Du kennst mich ja nicht. Wenn du wüßtest—"Und wie besinnungslos preßte sie ihren Kopf an feineBrust in dem einzigen Bedürfnis, sich von dem Gefühl, dassie dabei empfand, vom Glück des Geborgenseins, von dertiefen, tiefen Ruhe ganz durchdringen zu lassen, es auszukostenfür alle Ewigkeit, sich daran zu stärken für die furchtbarenNächte, die kommen würden.Er hatte sie umschlungen, ihre Hand hielt feine, die aufihrer weichen Brust lag, und aus der Tiefe fühlte er die dumpfzitternden Töne ihres erregten Herzens. So standen sie langeZeit, bis auf dem Flur eine nahe Tür schlug, Gepolter einesBesens oder von Schuhen und die scheltende Stimme desStubenmädchens laut wurde. Da machte Marie Luise sich er-schrocken los, aber zurückgerissen von einem stärkeren Er-schrecken, preßten ihre rauhen und trocknen Lippen sich aufseinen Mund, in schmerzvoll stummem Kuß aus Seelennot undSinnengual, der sich erst löste in tiefem Ermatten.Dann saßen sie beide wieder, wie sie vor einer Stundegesessen hatten, in der Ecke des kleinen Sofas sie, das schwereHaupt voll dumpfer Glut gegen das kühle Lederkissen pressend,und er die Stirn auf die Hand stützend über dem aufgeschlagenen Tasso. Dunkelheit umhüllte sie beide pnd wogendeEmpfindungen, die noch dunkler waren......_.____