Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 125.6

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flammen.

Freitag, den 30. Juni.

( Nachdrud verboten.)

Noman von Wilhelm Hegeler  . Grabaus stand auf, sich loszureißen von der ermattenden, besinnungraubenden Vorstellung, doch einmal mächtig ge­worden, gab sie ihn nicht mehr preis, verschwand nur, um wieder von neuem aufzutauchen, während er, ohne auf den Weg zu achten, durch die engen, schwülen Straßen irrte, in denen die Luft mit vielerlei Gerüchen erfüllt war aus den Spezereiläden, den Obstständen, den Weinschänken. Ueberall Leben und Lärmen. In großen Trupps trollten italienische Arbeiter vorbei, schwazende Weiber standen in Gruppen vor den Haustüren. Aus dunkler Laubpracht flammten bunte Lichter. Hier schwebte zu gedämpfter Klavierbegleitung ein fentimentales Lied aus einem geöffneten Fenster, dort tän­zelten leichte Harmonikaklänge über eine rosenbewachsene Gartenmauer. Das alles tat ihm weh, riß an seinen Nerven, steigerte sein Fieber und die jagende Angst.

Durch dunklere Straßen fam er endlich zur Wassermauer und atmete befreit auf. Aber schwer war die Luft auch hier, nichts von kristallener Frische war darin. Schwer, schwül und so weich, so süß, durchströmt von reifer Trauben Duft, vom Aroma sonnendurchglühter. Pfirsiche, von Rosen, Glyzinien, von tausend unbekannten Blumen. Leis glucksend hüpften die Wasser der Talfer, weiß wölbten sich unterm Mondlicht ihre Wellchen. In wunderbarem Fluß der Linien ruhten die dämmerigen Hügel, deren Konturen den Umrissen eines schlummernden Weibes zu gleichen schienen.

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1905

bildung, alles, was in ihm wogte, wirbelte, gärte, zusammen in dem Wunsch, sie möchte jetzt ans Fei ter treten.... Die zitternden Hände geballt, starrte er mit gespanntem Gesicht hinauf, flüsterte tonlos mehrmals ihren Namen und verharrte regungslos mehrere Minuten lang, ohne zu atmen aber als sich hinter den erleuchteten Vierecken nicht das mindeste regte, trat er langsam mit zu Boden gerichtetem Gesicht in das Hotel, ließ sich seinen Schlüssel von dem Portier aushändigen und hatte bereits die Treppe erreicht, als dieser ihm nachrief, daß die Dame ihn von Zimmer neunzehn, zwanzig ihn zu sprechen wünschte. Da Grabaus sich mit verständnisloser Miene umwandte, fragte er ihn nochmals nach seiner Zimmernummer und fügte hinzu, es hätte seine Richtigkeit. Grabaus erhob schon den Fuß, um die Treppe hinaufzueilen, kehrte jedoch zu­rück und drückte mit verwirrtem, aber vor Freude strahlendem Lächeln dem Portier einen Gulden in die Hand, wofür dieser sich mit diskret und nicht ohne leise Mißbilligung gemurmel­tem Dank verbeugte.

Beschwingt vom Gefühl feligster Erlösung, flog Grabaus dann die Treppe hinauf und trat, nachdem sein Klopfen be­antwortet war, ins Zimmer, ergriff die Hand Marie Luisens, die im Sofa gesessen und viele zerstreute, vollgeschriebene Briefbogen vor sich liegen gehabt hatte, küßte und preßte sie an seine Wangen und stammelte: ,, Du Du Liebe- verzeih mir! Verzeih mir!" Warum denn?"

"

Warum? Um

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Ohne Worte zu finden, küßte er ihr Stirn und Schläfe, der ein leiser Eau de Cologne  - Geruch entströmte, und fragte erschrocken:

Hast Du Kopfschmerzen?"

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Ein bißchen. Aber sie sind schon besser. Es war gut, daß ich mich eine Stunde ruhen konnte. Aber wo hast Du nur so lange gesteckt? Ich dachte, Du würdest überhaupt nicht mehr kommen."

"

"

Er rang nach Atem, schaute um sich, aber wohin er sah, aufwärts, zu seinen Füßen, in die Runde, der ganze weite, vom feuchtschimmernden Sternhimmel überwölbte, von schwar­zen Riesenleibern, vom schwebenden Lichtmeer der Stadt um­schlossene nächtliche Raum schien ihn zu höhnen, zu locken mit seinem schimmernden Silberglanz, seinem blinkenden, blenden- ,, Und ich dachte, Du wolltest mich nicht mehr sehen. Da den Spiel, seinen schweren Düften und verklingenden Tönen, bin ich herumgelaufen in verzweifelter Stimmung." schien ihn hinabzuziehen, festzuhalten und einzulullen; mochte Aber ich sagte doch noch: bleiben Sie nur nicht so in höheren Zonen ein frischerer Lufthauch ziehen voll Klarheit lange aus. Mehr konn te ich doch vor den anderen nicht und stählerner Kühle, unerreichbar war er für ihn, wie die sagen." bessere Einsicht und das überwindende Wollen unerreichbar über seiner matten und betäubten Seele schwebten, unerreich bar für ihn, der sich im Schoß eines tiefen, weichen, über ihn hingleitenden Wassers daliegen sah und, wenn er mit furcht­barster Straftanstrengung den Blick zu den rettenden Ufern erhoben hatte, dann wieder hinabsank, tiefer und tiefer.

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Ein linder, lauer Atem strich über sein Gesicht da sah er zwei Arme sich ihm entgegenstrecken und die hohe Ge­ftalt Marie Luisens sich zu ihm hinabbeugen, aber als er nun mit erschrockenen und weit aufgeriffenen Augen sie umfing, veränderte sich das ihm so wohlbekannte Lächeln und entstellte das ganze Gesicht, so daß die Gestalt wohl ihr glich, doch nicht sie war und plötzlich sah er dann ihr wahres Antlig, blaß, mit zuckendem Mund, mit Tränen zwischen den geröteten Lidern.

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Da sprang er auf und schlug den Heimweg ein. Als er aus den dunklen Schatten eines Gemäuers zur Rechten der Straße, das ein Neubau oder eine zerfallene Ruine sein mochte, eine Gestalt sich loslösen sah, die näher kam, ergriff ihn der rasende Wunsch, daß es ein nächtlicher Strolch sein möchte, der ihm auflauerte, ihn anfallen wollte, mit dem er kämpfen müßte auf Leben und Tod, um Angst, Schmerzen, Wut, über­haupt irgend etwas anderes zu empfinden als das, was ihn jezt unentrinnbar gepackt hatte.

Es mochte auf Mitternacht gehen, als er den Johanns­platz erreichte. Hinter der grünen Wand von Lorbeer- und Oleanderbüschen saßen an den Tischen nur noch wenige Gäste. Während er die Hotelfassade überflog, mit den meist dunklen Fenstern, blieb sein Blick auf zwei haften, aus denen noch helles Licht strahlte. Und diese Fensteres konnte nicht anders sein gehörten zu den Zimmern Marie Luisens.

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Er blieb stehen. Wie ein Spieler, der alles Geld, Silber, Gold, Scheine, seine Uhr und Ringe, überhaupt alles, was er Wertvolles bei sich trägt, zusammenrafft und auf eine Karte fett: so raffte er alle Kraft des Willens, alle Macht der Ein­

Bleiben Sie nur nicht so lange aus..." wiederholte er, sich erinnernd, mit nachdenklicher Stimme. Ja, das hast Du gesagt. Und ich habe es nicht verstanden. Auf Wieder­sehen, fagtest Du noch- und ich dachte, das wäre nur ein leeres Wort. Aber nun ist ja alles gut. Nun sehe ich Dich, Marie Luise... liebe, liebe Marie Luise!" sagte er leise, und während er sie mit inbrünstigem, schmerzlöfendem Lächeln ansah, glätteten sich die zerrissenen Züge des Grams auf seiner Stirn.

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Wo warst Du denn nur?"

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Ach, wo ich war! Kreuz und quer- auf der Wasser ich weiß selbst nicht mehr. Ich war so vera Warum?"

mauer zweifelt.

Er schüttelte den Kopf und nahm, ohne sie aus der Um­schlingung seines Arms loszulassen, auf dem roten Plüschsofa an ihrer Seite Platz.

" Ich möchte ganz still neben Dir sizzen Nun ist ja alles gut. Liebe.

Du

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ganz still.

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Nun erkenne ich Dich doch wieder, Er strich ihr leise übers Haar.

,, Du bist so schön, und... ich war zuerst so verzweifelt ich dachte, es wäre alles aus."

,, Aber warum denn?"

" Ich weiß nicht. Aber wie Du da mit Deinen Ver­wandten immer schwattest und für mich keinen Blick übrig hattest- Du warst überhaupt so gänzlich anders: da kam mir das alles wie damals auf dem Reichstagsfest vor. Mauern lagen zwischen uns, ach, mehr wie Mauern Du wohntest einfach auf einem anderen Planeten."

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,, Wie komisch Du bist," erwiderte sie, und etwas wie die Rührung einer Mutter schwebte über ihr Gesicht, während sie den fast findischen Ausdruck auf seinem gewahrte, wie durch lebte Angst sich von neuem in glückseliges Vertrauen verwan delte. Ich konnte mich doch mit meinen Verwandten nicht