Anterhallungsblatt des Horwärls Nr. 135. 1] Freitag, den 14. Juli. 1905 (Nachdruck verboten.) Gobleck. Von Konor'6 Balzac. Deutsch von Alfred Brieger. Es war im Winter des Jahres 1829 auf 1830.— Gegen ein Uhr morgens waren im Salon der Vikomtesse von Grandlieu noch zwei Herren anwesend, die nicht zur Familie gehörten. Einer von ihnen, ein hübscher, junger Mann, ver- abschiedete sich, als er bald darauf die Stutzuhr schlagen hörte. Vom Hofe her wurde das Rollen seines Wagens hörbar, der aus dem Portal auf die Straße einbog. Die Vikomtesse fand also jetzt nur noch ihren Bruder und einen intimen Freund des Hauses im Zimmer; sie beendigten ihre Partie Piquet. Die Dame schritt zu chrer Tochter hinüber, die, vor dem Kamin stehend, scheinbar einen Lampenschirm mit Porzellanlichtbildern betrachtete, in Wahrheit aber dem Ge- rausch des davonfahrenden Kabrioletts mit einer Spannung nachhorchte, die die Befürchtungen der Mutter als begründet gelten ließ. „Kamilla," sagte sie,„wenn Du Dein Benehmen dem jungen Grafen Restaud gegenüber nicht änderst, so zwingst Du mich damit, ihn nicht mehr zu empfangen. Höre auf mich, mein Kind— Du hast doch Vertrauen zu mir und so laß Dich auch von mir durchs Leben leiten. Mit siebzehn Jahren be- denkt man weder die Zukunft, noch die Vergangenheit, noch gewisse gesellschaftliche Rücksichten. Restaud hat eine Mutter, die Millionen aufzehren würde, eine Frau von schlechter Geburt, ein früheres Fräulein Goriot , das seinerzeit recht viel von sich reden zu machen wußte. Sie hat sich ihrem Vater gegenüber derartig häßlich benommen, daß sie einen so guten Sohn sicherlich nicht verdient. Der junge Graf betet sie an und uingibt sie mit einer kindlichen Pietät, die des höchsten Lobes wert ist; vor allem legt er für seinen Bruder und seine Schwester eine rührende Sorgfalt an den Tag. Wie be- Munde«vngswürdig aber seine Handlungsweise auch sein mag," fetzte die Gräfin nach einer Weile mit einem freundlich ver- fchmitzten Ausdruck in den Augen hinzu,„solange seine Mutter ain Leben ist, werden alle Familien davor zurückschrecken, die Zukunft und das Vermögen ihrer Töchter dem jungen Restaud anzuvertrauen." „Ich habe da gerade einige Worte aufgeschnappt, auf die hin ich nicht übel Lust verspüre, mich zwischen Sie, Frau Vikomtesse, und Ihr Fräulein Tochter zu drängen," rief der vertraute Freund des Hauses.„Ich habe gewonnen, Herr Graf," wendete er sich dann an seinen Spielgegner.„Ich lasse Sie jetzt allein, um Ihrem Fräulein Nichte zu Hülfe zu eilen." „Das nenne ich aber pchte Advokatenohren!" nieinte lächelnd die Gräfin.„Mein bester Derville, wie haben Sie das nurchören können, was ich doch nur ganz leise zu Kamilla gesagt habe?" „Ich habe aus Ihren Blicken gelesen," entgegnete Derville, indem er in einem Sessel zur Seite des Kamins Platz nahm. Der Onkel gesellte sich zu dem jungen Mädchen, und die Frau des Hauses ließ sich auf einem bequemen Lehnstuhl zwischen ihrer Tochter und Derville nieder. „Ich glaube, Frau Vikomtesse, es ist Zeit, daß ich Ihnen eine Geschichte erzähle, die Sie vielleicht veranlassen wird, Ihr über die Vermögenslage des Grafen Ernest Restaud gefälltes Urteil einer Aenderung zu unterziehen." „Eine Geschichte?" rief Kamille lebhaft.„So fangen Sie doch schon an!" Derville warf der Gräfin einen Blick zu, aus dem sie entnehmen durfte, daß seine Erzählung sich für sie sehr inter- essant gestalten würde. Die Vikomtesse von Grandlieu war infolge ihres großen Vermögens und durch das Alter ihres Namens eine der be- deutendsten Frauen des Faubourg Saint-Germain. Und wenn es fast unnatürlich scheint, daß ein Pariser Advokat in der- artig familiärem Ton zu ihr sprach und sich auch sonst bei ihr so ungezwungen benahm, so ist dies Phänomen andererseits doch unschwer zu erklären. Die Gräfin war mit der königlichen Familie nach Frank- reich zurückgekehrt und hatte sich in Paris niedergelassen. An- fänglich lebte sie von der Unterstützung, die ihr Ludwig der Achtzehnte aus seiner Zivilliste zukommen ließ. Das war für sie eine unerträgliche Lage. Der Advokat fand zufällig einige Formfehler heraus, die seinerzeit beim Verkaufe des Grandlieuschen Palais, den von der Republik ins Werk gesetzt worden war, den Behörden unterlaufen sein mußten. Er stellte die Behauptung auf, daß der Gräfin ihr Eigentum zurückerstattet werden müsse; in solchem Sinne leitete er einen Prozeß ein und gewann ihn. Durch diesen ersten Erfolg ermutigt, setzte er einem Kloster so lange zu, bis er die Herausgabe der Waldungen von Liceney erlangte. Dann ließ er noch einige Aktien des Orleans-Kanals und verschiedene Grundstücke eintreiben, die der Kaiser als Dotationen an staatliche Anstalten verliehen hatte, so daß das Vermögen der Vikomtesse durch die Geschick- lichkeit des jungen Advokaten bis zu einer Jahreseinnahme von sechzigtausend Frank wiederhergestellt wurde, wobei die gewaltigen Summen nicht inbegriffen sind, die ihr auf Grund des neuen Entschädigungsgesetzes zuflössen. Als kluger, gebildeter, bescheidener Mann von un- antastbarer Ehrenhaftigkeit, als angenehmer, unterhaltender Gesellschafter wurde der Rechtsanwalt ein intimer Freund des Hauses. Wenngleich die anerkennenswerte Sorgfalt und Um- ficht, mit der er sich der Sache der Gräfin annahm, ihm wohl die Wertschätzung und Klienteln der ersten Familien des Faubourg Saint-Germain einzutragen imstande war, so zog er doch aus diesen glücklichen Umständen nicht den Nutzen, den seine ehrgeizigeren Kollegen sich nicht hätten entgehen lassen. Er schlug das Anerbieten der Gräfin aus, die ihn dazu bestimmen wollte, seine Praxis zu verkaufen und in die Verwaltung einzutreten— eine Karriere, in der er dank ihrer Protektion der schnellsten Beförderung sicher gewesen wäre. Mit Ausnahme des Palais Grandlieu, in dem er hin und wieder einen Abend verbrachte, ging er in die große Gesell- schaft nur soviel, als es zur Aufrechterhaltung seiner Be- Ziehungen unerläßlich notwendig war. Derville konnte von Glück sagen, wenn seine Begabung durch die Tätigkeit für die Vikomtesse in ein helleres Licht gerückt worden war; sonst hätte er vielleicht Gefahr laufen können, sein ganzes Bureau in die Brüche gehen zu lassen. Er fühlte nicht die rechte Berufung für seinen Stand in sich und er besaß auch keine echte Advokatenseele. Seit Graf Ernest Restaud sich im Hause Grandlieu hatte einführen lassen, seitdem Derville die Sympathie erkannte, die Kamille diesem jungen Manne entgegenbrachte, war er bei der Gräfin ein so eifriger, häufiger Gast geworden, wie allenfalls ein erst kürzlich in die Kreise des vornehmen Faubourgs zugelassener Dandy der Chaussäe-d'Antin. Erst vor wenigen Tagen war Derville mit Kamille auf einem Balle zusammengetroffen. Bei dieser Gelegenheit hatte er mit ihr über den Grafen gesprochen. „Schade, nicht wahr, daß der junge Mensch nicht über zwei oder drei Millionen verfügt!" „Ist das ein so großes Unglück?" entgegnete sie.„Ich glaube doch kaum. Graf Restaud ist sehr begabt, er hat viel gelernt und er ist in dem Ministerium, bei dem er arbeitet, sehr gern gesehen. Ich glaube bestimmt, daß er noch eine sehr bedeutende Persönlichkeit wird. Der„junge Mensch" wird soviel Vermögen finden, wie er nur haben will— wenn er es einmal zu einer Stellung gebracht hat." „Sicherlich. Wenn er aber bereits reich wäre?" � „Ja, wenn er reich wäre— ," erwiderte sie errötend—, „dann würden alle jungen Mädchen hier im Saale sich ihn streitig machen," setzte sie schnell hinzu, indem sie besonders eifrig die Quadrillen betrachtete. „Und dann," fuhr der Advokat fort,„und dann wäre Mademoiselle de Grandlieu nicht die einzige, zu der er fort- während Herüberblicken könnte. Deswegen also erröten Sie? Er gefällt Ihnen, Sie empfinden etwas für ihn. nicht wahrll Sagen Sie s mir doch!"
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22 (14.7.1905) 135
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