sehr ihr auch die Kraft abgeht, sich eine Tätigkeit zu finden und zu schaffen, die ihre Persönlichkeit ganz aufsaugen und ausfüllen könnte. In diesem letzten Ausgange ist das beklagenswerte Schicksal dieser Frau nicht mehr aus ihrem Dirnentum zu begreifen: es ist das allgemeine Frauenschicksal der Gegenwart und ist menschliche Tragödie ganz allgemein. So bedeutend ist das Leben dieser Verlorenen. Margarete Böhme hat die Tagebuch-Blätter im Verlage von F. Fontane, Berlin , herausgegeben. Sie hat ursprünglich einen Roman daraus machen wollen, ist aber später davon abgekommen. Glücklicherweise. Denn Kokottenromane selbst in Tagebuchform haben wir genug. Allerdings hat man nicht überall in diesem Buche da? Gefühl, wirklich nicht die Arbeit einer Romanschrift- stelleriu zu lesen. Die ersten hundert Seiten etwa nimmt man nur skeptisch hin: sie könnten in der Tat sehr wohl aus kleinen Andeutungen, die sich in den wichtigsten Blättern der Dirnenzeit verstreut finden, frei erfunden sein, nur ein ganzes Lebensbild der Thymian von Kindesbeinen an und so für das Schlußwort: Gott bewahre unsere Kinder I die rechte Unterlage und Aufnierksamkeit zu gewinnen. Margarete Böhme sollte jedenfalls Gelegenheit nehmen, noch ein- mal klar zu sagen, ob alles echt und was etwa ihre eigene schrift- fiellerische Zugabe(vielleicht nach mündlichen Mitteilungen) ist. Durchaus echt muten jedenfalls die Blätter von dem Momente ab an, wo Thymian alle zögernden Be- denken beiseite geworfen hat und tief in den ge- fährlichen Strudel hineingerät. So gesättigte, bis in den Sprachstil hinein von der Dirnensphäre gefärbte Bilder kann nur das volle eigene Erleben zeichnen. Bis dann zum Schluß wieder Züge sich einmischen, die von zweiter Hand gekommen sein könnten. Aber selbst wenn die Mitarbeit der Herausgeberin umfangreicher sein sollte, als zugegeben wird: Bedeutung hat das Buch, und zwar schon deshalb, weil es im Kerne eine Lebenskundgebung ist, die Herzblut und Herzschlag hat. Es soll in diesen Zeilen keine ausgespoimene Skizze des Lebensganges gegeben werden, die dem Buche das Gerüst bilden. Es genügt, anzudeuten, daß Thymian klein- städtischen Verhältnissen entstammt, oben im Holsteinischen als Tochter eines Apothekers geboren und vom Provisor des väterlichen Geschäfts gewiffeulos in jungem Alter verführt wurde; man nimmt ihr das Kind, dem fie das Leben schenkte, gibt es einer Hamburgischeu Konsulsfamilie und sie selber wird in ein Pastorales Besseruugsfamilienheim gesteckt. Das Ergebnis ist, daß fie diesem Aufenthalt entflieht und nun in Hannover . Hamburg , Berlin als Kokotte Brot und Glück sacht. Die Versuche, sich als Sprachlehrerin fie versteht eine ganze Reihe Sprachen und zugleich als PensionShaltcrin don der wüsten Vergangenheit freizu- arbeiten, schlagen fehl. Ein Arzt und ein alter Graf nehmen schließ- lich ihr Geschick in die Hand: als Ausgehalteue führt sie ihr Leben zu Ende, vergebens um ein Wiedereingliedern in den Kreis der ehrbaren bürgerlichen Gesellschaft kämpfend. Sie stirbt an der Schwindsucht. Ihr Leben ging aus als das Leben einer Kokotte, die zu denoberen Vierhundert" gehörte. Es wird im ganzen typisch gewesen sein, das Bemerkenswerteste findet fich aber im Individuellen. Im einzelnen ihres Lebcnsganges liegen eine Menge Erinnerungen an Gestalten und Szenen bekannter dichterischer Werke aufbewahrt. In knanchem muß man an Jakob Wassermanns Renate Fuchs denken. Rose Bernds Klage:Blau sollte doch eine Mutter haben", wird hörbar. Ausblicke Gabriele Reuters regen sich. Und das geht bis zu einem leibhafttgen deutschen Ebenbild des verbummelten Barons in Gorkis Nachtasyl " und bis zu szenischen Stoffen in WedekindsErdgeist". Unendlich viel von jener Wirklichkeit, aus der all diese Dichter der Gegenwart und andere mehr geschöpft, fließt in diesem Ausschnitte aus einem für so viele Augen verborgenen Stücke gesellschaftlichen Lebens zu- sammen. Hier kann man sich Deutungen für merkwürdige psychische Vorgänge der Dirnennatur holen; man kann z. B. lernen, wieviel seelischen ernsthaften Inhalt das bekannte Wort von der Genesis aller Betschwestern haben kann, das moralistische Jahrhunderte aus- geheckt haben. Thymian wird nie zur Frömmleri», deren Wesen lastig fallen könnte; aber wenn bei ihr Stimmungen der Frömmig­keit ausbrechen, so wird man deutlich das Treibende gewahr, und das ist eine klare Sehnsucht nach innerster Ruhe und Reinheit. Je weiter man in die zweite Hälfte des Buches hineinliest, um so mehr wächst das Urteil: sie ist eine starke und reine Natur, trotz alledem! Einmal naht ihr die Möglichkeit, ihrem Dirnendasein, diesem Leben unterLeichen", mit dem.Aichstempel des Elends" gebrandmarkt, zu entrinnen: ein begüterter Freund hat seine Frau ver- stoßen, um Thymian zu heiraten. Wer da regt sich der Drang, eine gute Tat zu tun, ihm alles zu sagen und ihn wieder mit seiner kleinen Frau zu versöhnen", und sie sagt ihm die ganze grausige Wahrheit ihres verlorenen Lebens; er verläßt fie, ver- fiändnislos, rasend:sein Rasen und Schimpfen verriet mir aber, daß er mich nur ein gewöhnlicher Durchschnittscuropäer ist. und daß seine blöden Philisteraugen nicht durch die Außenwand der Wirkungen hindurchdringen und die tiefinneren Ursachen erforschen konnten". Als er tobend schreit:Ich habe heute den Glauben an die Menschen verloren", ent gegnet sie kalt:Dann haben Sie viel gewonnen." Di.' Kraft sol er Antwort zeigt mit einem Schlage das Ungewöhn- liche ihrer P«.>önlichkeit. S'.e ist so recht eins von den Wesen, die das Leben verschlagen hat, Wollen und Getriebenwerden mischt sich in eins. Solche Leben sind voll schwerster Tragik: sie wollen nicht fühlen, wie das Leben sie hinspült, wollen blind hinein und sehen doch deutlich durch die geschlossenen Lider. Einmal, als es ihr schlecht geht, schreibt Thymian:Ich komme mir vor wie eine Fregatte, die Schiffbruch gelitten hat und nun abgetakelt wird, um ein ruhmloses Ende als Kohlenfahrer zu finden. Wenn ich mich nur erst so weit hätte. daß ich mich wirklich nur mehr als Kohlenschute fühle. Das ist ja meine Tragik, daß ich noch immer nicht in die moralische Narkose hineingerate, die zu einen, Leben, wie die Ponys(zwei Berliner Kokotten gewöhnlicheren Schlages) es führen, unbedingt notwendig ist. Mit vollem Bewußtsein und wachen Simren kann man eS nicht, ist es ganz unmöglich." Zwei Naturen sind in ihr. vielleicht kann man sagen: zwei Kulturen. Sie schalten einander nicht aus, aber sie durchdringen sich auch nicht: fie leben neben- einander, hassen sich wie extreme Widersprüche und haben doch über einander nicht Macht Gründe sozialer Art mischen sich mit diesem sinnlichen Gebundensein an eine Lebensart, in der tägliches Be- täuben zu den natürlichen Kampfmitteln gegen die Misere der Welt zählt. Wie in Hypnose geht dieses Leben hin: versierte Kultur, aber den Dumpfen und Ssimipfen ein Gnadenbringer. In Thynsian aber lebt über diesem hintaumelnden Triebe, dessen nicht zu bewälsigende Macht vielleicht der Mißbrauch des noch nicht zur vollen sinnlichen Reife eigenen Verlangens gediehenen Mädchenkorpers erklärt, diese andere Kultur, in der nicht nur stärkste geistige Gesundheit, sondern auch gesundestes Verlangen des weiblichen Organismus herrscht. Noch eins ihrer Worte:Wenn ich nachts so mit offenen Augen da» liege und sinne und sinne und die Erinnerung an all das Häßliche, Ekelhafte, Schmutzige. Gemeine, das ich erlebt habe, wie eine schmie» rige Flut un, mich herum wogt, steigt die Sehnsucht nach Liebe wie ein überirdisches Wesen mit ausgebreiteten Flügeln in mir empor. Ich möchte ein Kind haben, ich möchte noch einmal Mittler werden..." Und eben deshalb, weil in ihrem Verhälmis mit dem um dreiund- dreißig Jahre älteren Grafen von dieser ersehnten Liebe, in der die ganze Weiblichkeit sich erschöpfen kann, nicht die Rede ist, deshalb gärt mehr und mehr gegen ihre Lage, so golden sie sein mag, ein hefsiger Groll enipor. Gallig schreibt sie: ihr sei zuweilen, als sei sie eigentlich jetzt schlechter und verächtlicher als zuvor; allerdings fie stapfe nicht mehr so im Morast herum, man bekomme die Schuhe nicht schmutzig dabei,und die Atmosphäre, die ich jetzt atme, stinkt nicht, wie die. andere, sie hat für eine seine Nase höchstens den süßlichen Geruch der Fäulnis, der sterbendem Laub und welken Blumen eigen ist." Enge Spießermoral umgab Thymian, als sie heranwuchs, und enge Spießermoral hat weidlich geholfen, das begabte Geschöpf auf den Weg zu treiben, der sie zur gönzlich Ausgestoßenen werden ließ. Sie hat den Feind kennen gelernt, der immer noch in mächsigen Domänen herrscht und schlimme Wirkungen über unzählige Menschen- linder verbreitet. Sie mit ihren,heißen, unruhigen Blut," mit ihrembrennenden Sehnen nach etwas Weitem, Unsichtbaren," diesem Sehnen, das nach einer alle Kräfte anspaimenden Tätigkeit schreit und doch ewig ratlos bleibt, was zu be- ginnen fei, sie gerade mußte den Feind in seiner ganzen Kläglichkeit empfinden, und so drückt sie auch Pfeile einer glühenden,' aus tiefftcm Innern züngelnden Wut ans ihn ab. Tränen in, Auge, bricht es bitter aus ihr empor:Ganz recht, so eine Dirne ist ja nichts weiter als eine pappschachtelne Attrappe. angefüllt mit Lüsternheit, Geldgier und Gemeinheit. Eine Seele und ein sehnsüchtiges Herz find nur Privilegien der Ehrbaren, An» ständigen..." Sie kennt die ganze schwere Schuld der bürger» lichen Moral eine Blutschuld ist's, aus Riesen- Hügeln von Menschenleibern gehäuft, kenitt die vielen, vielen Möglichkeiten, wo diese Moral ihre verderbliche Saat zu streuen beginnt. Und sie weist auf die gefährlichsten Stellen mit anklagenden Händen. Sie erkennt klar genug, wie zu helfen ist:Es gibt so viel Wohltätigkeit und Humanität in der Welt, es gibt Kinderkrippen und Altersversorgungen, Fürsorge für Straf- linge und Gott weiß was sonst noch für nützliche Institute, es wird so viel bazart, gemimt, getanzt zum Wohl der leidenden Mitwelt, aber in die Welt des siessten Elends, der äußersten Finsternis dringt selten ein Strahl barmherziger, werktätiger Nächstenliebe hinab. Wie manche würde sich gernretten" lassen. Freilich nicht durch Besserungsan st alten und Stadt- Missionen, immer von oben herab, von dem Kothurn der überlegenen Moral:...Ich danke dir, Gott, daß ich nicht bin wie andere" und so weiter.-- Nee, auf den Schwindel fällt keine herein.-- Nein, um hier zu ändern und zu bessern, müßte schon eine neue Weltordnung, eine vollständige Umkrempelung der Begriffe und Verhältnisse vorangehen. Die Menschen müßten ihren alten Adam ausziehen und ihre Vorurteile wie einen Haufen verlauster Wäsche verbrennen. Die Schranken müßten fallen." Und dann,wenn das Gewerbe der Hingabe aufhörte, em ver- ächtliches Gewerbe zu sein, würde sich das Heerder Gewerbetterbenden" um vier Fünftel, ja, ich möchte kühn behaupten, um neun Zehntel vermindern. So aber sind die Pforten hinter uns abgeschlossen. Ihr, die ihr hier einttetet, lasset alle Hoffnung draußen!" Das Buch der Verlorenen ist voll von Golgathaschreien des weiblichen Geschlechtes. Die Worte können Waffen in, Erlosnngs kämpfe sein. Margarete Böhme wird schon recht haben, wen» sie von der Toten sagt: Vielleicht war ihr Leben nicht einmal cm ver­lorenes. Franz Dieben ch.