Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 192.
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Dienstag, den 3. Oftober
( Nachdruck verboten.)
Das Duell.
169 Conte Criat
1905
vor Strafe und sicher keine Gewissenhaftigkeit und Reue, sondern eben Hypnose. Eine Art abergläubischer Furcht vor der machtvollen, unerreichbaren Handlungsweise Erwachsener, eine Art ehrfürchtigen Schreckens eines Wilden vor den Zauberkreisen eine Schamanen.
"
Und nun fitze ich hier, wie ein Schüler, wie ein Knabe, den man am Bein festgebunden hat," dachte Romaschow, durch das Zimmer schlendernd.
Die Tür ist offen. Ich kann gehen, wohin ich will, tun, ich will, sprechen, lachen und site dennoch am Faden. Das bin ich, der hier sitzt, ich, ich."
was
Die Tür donnerte und Heinàn sprang ins Zimmer. Er hüpfte von einem Fuß auf den andern, und bewegte die Schultern wie beim Tanzen. Dabei rief er:
Roman von A. Kuprin . Einzig autorisierte Uebersetzung von Adolf He B. Romaschow schritt in seiner grauen, aufgeknöpften Litewka in seinem kleinen Zimmer hin und her, stieß mit dem Fuße gegen die Bettstelle und mit dem Ellbogen gegen die wackelige, staubige Etagere. Zum erstenmal seit andert. halb Jahren war er, dank eines unglücklichen, zufälligen Umstandes, mit sich selbst allein. Früher waren ihm der Dienst, Dujourpflichten, Kasinoabende, Kartenspiel, Besuche bei der Peterson, Abende bei Nikolajews im Wege gewesen. Bisweilen, wenn eine müßige Stunde kam, lief Romaschow, von Langeweile und Untätigkeit gequält, gleichsam aus Furcht vor sich selbst schnell in den Klub oder zu Bekannten oder einfach auf die Straße, bis er irgendeinen unverheirateten geh Kameraden traf die Sache endete dann stets mit einer Sauferei. Jezt aber dachte er mit Befümmernis, daß ein ganzer Tag der Einsamkeit vor ihm läge, und sonderbare, unbequeme und überflüssige Gedanken tamen ihm in den Kopf.
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„ Herr Leutnant, der Kasinodiener gibt keine Zigaretten mehr. Er sagt, Leutnant Skrjabin hat keine Erlaubnis gegeben, dir zu borgen."
„ Ach Teufel!" entfuhr es Romaschow.„ Nun, geh schon, Wie fann ich ohne Zigaretten bleiben?... Ganz egal, du kannst gehen, Heinàn."
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Woran habe ich doch eben gedacht?" fragte Romaschow sich selbst, als er wieder allein war. Er hatte den Faden seiner Gedanken verloren und konnte ihn, da er nicht gewohnt war, fonsequent zu denken, nicht gleich wiederfinden. Woran dachte ich doch? An etwas Wichtiges und Notwendiges. Halt: Ich muß zurückgehen... ich size im Arrest. auf der Straße gehen Leute... als ich klein war, hat meine Mutter mich angebunden... mich... ja, ja... also jetzt
In der Stadt wurde der Spätgottesdienst eingeläutet. Durch das noch nicht herausgenommene Doppelfenster drangen die zitternden, gleichsam einer aus dem anderen entstehenden Klänge der Betglocke zu Romaschow, die bezaubernd traurig in den Frühling hineinläutete. Dicht vor dem weiter Fenster lag der Garten, in dem massenhaft Vogelkirschen wuchsen, deren weiße, runde und krause Blüten wie eine Herde schneeweißer Schafe, wie eine Mädchenschar in weißen Kleidern erschienen. Zwischen ihnen ragten hier und da die schlanken, geraden Pappeln in die Luft mit Zweigen, die himmelan strebten und alte Kastanien, die ihre mächtigen, tuppelförmigen Wipfel weithin ausbreiteten; die Bäume waren noch fahl und schwarz von nackten Zweigen, begannen aber schon, sich mit dem ersten, wolligen, fröhlichen Grün, faum merklich für das Auge, leicht zu färben. Es war ein heiterer, flarer, feuchter Morgen. Die Bäume zitterten leise und schaukelten sich langsam. Man fühlte, daß ein fühler Morgenwind schmeichelnd zwischen ihnen dahinſtrich und sie scherzend und spielend und die Zweige nach unten biegend füßte.
Aus dem Fenster rechts konnte man durch den Eingang einen Teil der schwarzen, schmutzigen Straße sehen mit einem Stück Zaun diesseits. An diesem Zaune entlang schritten langsam Passanten, die mit den Füßen vorsichtig trockene Stellen aufsuchten.„ Die haben noch den ganzen Tag vor sich," dachte Romaschow und folgte ihnen mit neidischen Bliden, deswegen beeilen sie sich auch nicht. Einen ganzen freien Tag!"
Und er verspürte plötzlich den ungeduldigen, leidenschaftlichen Wunsch, sich sofort anzufleiden und so aus dem Zimmer zu gehen. Dieser Wunsch war so heftig, daß er beinahe geweint hätte. Es zog ihn nicht wie sonst ins Kasino, sondern einfach auf die Straße, in die frische Luft. Er hatte früher gleichsam den Wert der Freiheit nicht gefannt und wunderte fich jetzt darüber, wieviel Glück in der einfachen Möglichkeit Tag, zu gehen, wohin man wollte, ohne an die Folgen zu denken. Diese Möglichkeit erschien ihm plötzlich wie ein großer Feiertag im Innern.
Gleichzeitig fiel ihm ein, wie in seiner frühesten Kindheit, noch vor der Schule, die Mutter ihn dadurch bestraft hatte, daß fie ihn mit einem dünnen Faden am Bein ans Bett band und selbst ausging. Und der kleine Romaschow saß gehorsam Stundenlang da. Er dachte nicht einen Augenblick daran, den ganzen Tag aus dem Hause zu laufen, wozu er sich aus der zweiten Etage an der Dachrinne herablassen mußte; dagegen entschlüpfte er bei anderer Gelegenheit oft auf diesem Wege, folgte der Militärmusik bis ans andere Ende Moskaus oder lief hinter einem Begräbnis her; er stahl der Mutter Eingemachtes und Zigaretten für ältere Freunde, aber der Faden! der Faden übte auf ihn eine sonderbare, hypnotifierende Wirkung aus. Er fürchtete sich sogar, ihn straffer anzuziehen, damit er nicht etwa zerrisse. Es war das feine Furcht
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Ich size im Zimmer. Dieses ist nicht verschlossen. Ich will herausgehen und wage es nicht. Warum wage ich es nicht? Habe ich ein Verbrechen begangen? Einen Diebstahl? Mord? Nein! Beim Sprechen mit einem andern, mir gleichgültigen Menschen habe ich die Füße nicht zusammengehalten und etwas dabei gesagt. Bielleicht hätte ich die Füße zu sammenhalten müssen? Warum? Ist das wirklich von" Bedeutung? Ist das wirklich die Hauptsache im Leben? Da vergehen zwanzig bis dreißig Jahre, eine Sefunde gegenüber der Zeit, die bis zu meiner Eristenz verstrichen ist und nach ihr verstreichen wird. Eine Sekunde! Mein Ich erlischt wie eine Lampe, deren Docht heruntergedreht ist, aber die Lampe wird wieder angezündet und nochmals und abermals; mein Ich aber existiert nicht mehr. Und es existiert weder dies Zimmer mehr, noch der Himmel, noch das Regiment, noch Militär, noch Sterne, noch der Erdball, noch meine Hände und Füße... Eben, weil mein Ich nicht mehr da ist " Ja, ja.. das ist so... Nun gut wart einmal.. ich muß allmählich... Also weiter... Ich bin nicht da. Es war dunkel, jemand hat mein Licht angezündet und es sogleich wieder ausgelöscht, und wieder ist es dunkel, für immer, für alle Ewigkeit.. Was habe ich in dieser winzig furzen Spanne Zeit getan? Ich habe die Hände an der Hosennaht gehalten, habe aus Leibeskräften geschrien:„ Das Gewehr über," habe geschimpft und mich entrüstet wegen eines nicht genügend herangezogenen Kolbens, habe vor hundert Leuten gebebt... Warum? Diese Wahngebilde, die mit meinem Ich sterben, haben mich gezwungen, hundert unnötige und unangenehme Dinge zu tun, und haben dafür mein Ich gefränkt und erniedrigt; mein Ich!! Warum hat sich mein ch den Wahngebilden untergeordnet?"
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Romaschow setzte sich an den Tisch, stützte die Ellbogen auf und preßte den Kopf zwischen den Händen zusammen. Er verweilte mit Mühe bei diesen für ihn ungewöhnlichen, schnell wieder enteilenden Gedanken.
Hm... Hast du denn alles vergessen? Das Vaterland? Die Die Wiegen der Kleinen? Die Gebeine der Bäter? Altäre? Und die militärische Ehre und Disziplin? Wer wird dein Vaterland verteidigen, wenn ausländische Feinde Ja, ich sterbe doch aber, und in dasselbe einbrechen? dann gibt es kein Vaterland, keine Feinde, keine Ehre mehr! Sie leben nur, solange mein Bewußtsein lebt! Nimm aber Vaterland und Ehre, Uniform und alle großmächtigen Worte fort mein Ich bleibt unberührt. Folglich ist mein Ich doch wichtiger, als alle diese Pflicht-, Ehr- und Liebesbegriffe? Ich diene jezt... Plötzlich aber sagt mein Ich: Ich will nicht! Nein nicht mein Ich, sondern mehr: Eine ganze
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