Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 213.

81]

Das Duell.

Roman von A. Kuprin .

Mittwoch, den 1. November.

( Nachdruck verboten.)

Einzig autorisierte Uebersetzung von Adolf Heß.

1905

Soldat, ich freß Dich auf!" aber der Soldat antwortet ihm und sagt: Nein, Du kannst mich nicht fressen, ich bin ja selbst ein Zauberer..

"

Romaschow ging wieder zum Einschnitt. Er empfand deutlich die abgeschmackte Unsinnigkeit und Unverständlichkeit des Lebens und wurde dadurch bedrückt. Am Abhang stehen bleibend, erhob er die Augen zum Himmel. Dort lag wie früher eine kalte Weite und unendlicher Schrecken. Und fast unerwartet für sich selbst hob er die Fäuste über den Kopf, schüttelte sie und rief wahnsinnig:

,, Du alter Betrüger! Wenn Du etwas kannst und ver­stehst nun: Mach, daß ich mir ein Bein breche."

Dann stürzte er halsüberkopf mit geschlossenen Augen den steilen Abhang hinunter, übersprang mit zwei Säßen die Schienen und stürmte ohne stehen zu bleiben mit einem Schwung nach oben. Schwung nach oben. Seine Nüstern blähten sich, die Brust atmete abgerissen. Aber in seinem Herzen flammte plötzlich ein stolzer, kühner und verzweifelter Entschluß auf. 17.

In Chlebnikows Halse knackte und follerte etwas, aber er blieb beim Schweigen. Gleichzeitig bemerkte Romaschow, daß der Soldat heftig und schnell zitterte; sein Stopf zitterte, und es zitterten auch mit leiſem Geräusch die Kinnladen. Einen Augenblick war dem Offizier schrecklich zumute. Diese schlaflose, fieberhafte Nacht, das Gefühl der Einsamkeit, das gleichmäßige, matte, tote Mondlicht, die schwärzliche Tiefe des Abgrundes unter den Füßen, und neben ihm der schwei­gende von Schlägen um den Verstand gebrachte Soldat alles das fam ihm wie ein wüster, quälender Traum vor, ähn­lich dem Traume, den die Menschen während der letzten Tage vor dem Weltuntergang träumen würden. Aber plötzlich ergriff ein Strom warmen, sich selbst vergessenden, unend­lichen Mitleids sein Herz. Er empfand seinen persönlichen Seit dieser Nacht ging in Romaschow eine tiefe innere Kummer als klein und nichtig, fühlte sich im Vergleich mit Veränderung vor sich. Er begann sich von den übrigen Offi­diesem verlorenen, gehezten Menschen erwachsen und verzieren abzusondern, meistens zu Hause, besuchte gar nicht ständig, schlang zärtlich und fest seine Hände um Chlebnikoms mehr die Tanzabende im Kasino und hörte auf zu trinken. Hals, zog ihn an sich und begann in heißem, leidenschaftlich Er war in den letzten Tagen gleichsam reifer, älter und ernster zuredendem Tone: geworden und bemerkte das selbst an der traurigen und gleich­mütigen Ruhe, mit der er sich jetzt gegen Menschen und Dinge verhielt. Bisweilen fielen ihm dahingehörige von irgend je­mand früher einmal gehörte oder gelesene Worte ein, wonach das menschliche Leben in mehrere Lustren" zerfiel jedes Lustrum sieben Jahre und im Verlaufe eines Lustrums die ganze Blut- und Körperbeschaffenheit, alle Gedanken, Ge­fühle und der Charakter eines jeden Menschen sich ver­änderten. Romaschow hatte kürzlich sein einundzwanzigstes Jahr beendet.

,, Chlebnikow , ist Dir schlecht? Auch mir ist schlecht, lieber Freund, mir ist auch schlecht, glaub mir. Ich versteh nichts von dem, was in der Welt geschieht. Ist alles ein wüster, sinnloser, grausamer Unsinn! Aber man muß aushalten, mein Freund, muß aushalten... das ist nötig."

Der tief herabgebeugte Kopf Chlebnikows fiel plötzlich auf Romaschows Knie. Und der Soldat umklammerte die Beine des Offiziers und näherte ihnen sein Gesicht, während der ganze Körper von einem heftigen Zittern befallen wurde, stöhnte, und sich vor unterdrücktem Schluchzen zusammenzog. " Ich kann nicht mehr..." stammelte Chlebnikow un­zusammenhängend ich kann nicht mehr Ach Gott . fie schlagen mich, lachen mich aus... der Feld­webel will Geld haben... der Unteroffizier schreit. wo soll ich's hernehmen? Mein Leib ist verhoben. Schon als Knabe... ich habe einen Bruch, Herr; ach Gott, ach Gott !" Romaschow beugte sich über seinen Kopf, der wie in Verzückung auf seinen Knien hin und her schwankte. Er spürte den Geruch eines schmutzigen, ungefunden Körpers, unge­waschener Haare, und den säuerlichen Geruch eines Mantels, der beim Schlafen zum Zudecken dient. Unendlicher Summer, Schrecken, Nichtverstehen und tiefes, schuldiges Mitleid er füllten das Herz des Offiziers, preßten es schmerzhaft zu­sammen und bedrückten es. Und er beugte sich tief zu dem stacheligen, schmutzigen Kopf nieder und flüsterte faum hörbar:

Mein Bruder!"

Chlebnikow ergriff die Hand des Offiziers und No­maschow fühlte an ihr außer warmen Tränen die kalte und klebrige Berührung fremder Lippen. Aber er zog seine Hand nicht weg und sprach einfache, rührende, beruhigende Worte, wie ein Erwachsener zu einem gekränkten Kinde spricht.

Dann führte er Chlebnikom selbst ins Lager. Man mußte den wachhabenden Unteroffizier der Rotte, Schapowalento, herausrufen. Er fam im bloßen Unterkleid, gähnend, mit den Augen blinzelnd und sich den Rücken und Leib scheuernd. Romaschow befahl ihm, Chlebnikow sofort vom Wach­dienst zu befreien. Schapowalento versuchte zu erwidern:

Herr Leutnant, an dem ist noch nicht die Reihe!.. " Red' nicht!" schrie. Romaschow ihn an. Sag' morgen dem Rottenkommandeur, ich hätte es befohlen. also, fommst Du morgen zu mir?" fragte Chlebnikow , und dieser antwortete ihm schweigend mit einem schüchternen, dankbaren Blick.

Langsam ging Romaschow das Lager entlang und kehrte nach Haus zurück. Ein Geräusch in einem der Zelte ließ ihn sich umwenden und horchen. Mit halb erstickter, langgedehnter Stimme erzählte jemand ein Märchen:

Da schickte der Teufel zum Soldaten seinen Haupt­zauberer. Da kommt der Zaubermann und sagt:" Soldat,

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wiederholte Aufforderung. Dann besuchte er ihn häufiger. Der Soldat Chlebnikom kam zu ihm, aber erst auf Anfangs erinnerte sein Anblick an den eines hungrigen, räudigen, vielgeschlagenen Hundes, der furchtsam vor der schmeichelnd ausgestreckten Hand zurückspringt. Aber die Auf­merksamkeit und Güte des Offiziers erwärmten und schmolzen allmählich sein Herz. Durch gewissenhafte Nachforschung er­fuhr Romaschow Einzelheiten über sein Leben, die ihm Schuld­bewußtsein und Kummer verursachten. Zu Hause lebte seine Mutter mit einem Trunkenbold von Vater, einem halb blöd­sinnigen Sohn und vier minderjährigen Töchtern; ihr Land hatte die Dorfgemeinde ungerechterweise mit Gewalt an sich gebracht; alle fanden irgendwo in Hütten, deren Besitzer aus­gestorben waren, durch die Gnade eben derselben Dorf: verwaltung ein Unterkommen; die Eltern arbeiteten bei fremden Leuten, die Kinder gingen betteln. Geld von zu Hause erhielt Chlebnikow nicht und zu freiwilligen Arbeiten wurde er seiner schwachen Konstitution wegen nicht genommen. Ohne alles Geld aber kann ein Soldat schwer auskommen: Da gibt es keinen Tee, keinen Zucker, er fann nicht einmal Seife kaufen und muß doch von Zeit zu Zeit seinen Feldwebel und Unteroffizier in der Kantine mit Schnaps bewirten. Die ganze Löhnung beträgt zweiundzwanzig und eine halbe Kopeke monatlich und geht für Geschenke an die Vor­gesetzten drauf. Er wurde jeden Tag geschlagen, ausgelacht, gefoppt und außer der Reihe zu den allerschwersten und un­angenehmsten Arbeiten bestimmt.

Voll Verwunderung, mit Gram und Schrecken begann Romaschow zu verstehen, daß das Schicksal ihn täglich in un­mittelbare Berührung mit hundert dieser grauen Chlebnikows brächte, von denen jeder seinen eigenen Kummer, seine eigene Freude hätte, denen allen aber die Persönlichkeit genommen und die durch ihre eigene Unwissenheit, durch die allgemeine Knechtschaft, die Gleichgültigkeit, Willkür und Vergewaltigung der Vorgesetzten bedrückt wurden. Und am allererschrecklichsten war der Gedanke, daß nicht einer von den Offizieren, wie bis dahin Romaschow selbst, auch nur ahnte, daß die grauen Chlebnikows mit ihren gleichmäßig ergebenen und gedanken­losen Gesichtern in der Tat lebende Menschen und nicht mechanische Größen seien, die man Rotten, Bataillone, Regi menter nannte..*