Romaschotv hatte dafür gesorgt, daß Chlebnitow einendeinen Verdienst erhielt. In der Rotte bemerkte man dieseungewöhnliche Protektion, die der Offizier dem Gemeinenangedeihen ließ. Romaschow nahm oft wahr, daß die Unter-offiziere in seiner Gegenlvart mit übermäßiger, lächerlicherHöflichkeit sich an Chlebnikow wandten und absichtlich süßlichmit ihm redeten. Wahrscheinlich erfuhr auch HauptmannSliwa davon. Wenigstens brummte er bisweilen zur Seitegewandt:„Nun sag' einer. Sind die Liberalen auch zu uns ge-kommen! Verderben die ganze Rotte! Hauen inuß man dieSchufte; sie aber sprechen in Flötentönm mit den Kerls."Tetzt, wo Romaschow mehr freie Zeit hatte und mehrallein war, kamen ihm immer häufiger und häufiger ganzungewöhnliche, sonderbare und oerwickelte Gedanken in denKopf, wie sie ihn einen Monat früher an einem Tage seinesArrestes so erschüttert hatten. Das geschah gewöhnlich nachdem Dienst in der Dänunerung, wenn er still unter den dichten,schlafenden Bäumen umherwandelte und einsam, voll Trauer,dem Stimmen der Nachtkäfer lauschte und den ruhigen, rosigen,allmählich sich verdunkelnden Himmel anblickte.Dieses neue Innenleben überraschte ihn durch seineMannigfaltigkeit. Früher hatte er nicht verstanden und ge-ahnt, welche Freude und welche Macht und welch ttefes Interessein einem so einfachen, gewöhnlichen Dinge, wie der menschlicheGedaule es war, lägen.Er wußte jetzt schon ganz bestimmt, daß er nicht weiterdienen, sondern unbedingt zur Reserve gehen würde, sobalddie drei Pflichtjahre, die er wegen seiner Ausbildung in einerKriegsschule ableisten mußte, verflossen wären. Aber er konntesich durchaus nicht vorstellen, was er später als Zivilist machenwürde: Er ging alles der Reihe nach durch: Die Steuer.Eisenbahn, Kommerzmm, dachte an eine Verwalterstelle aufeiner Besitzung oder an ein Verwaltungsressort, lind beidieser Gelegenheit machte er sich zuerst voll Erstaunen all dieverschiedenen Beschäftigungs- und Berufszweige klar, in denendie Menschen tätig waren.„Woher kommen nur," dachteer,„die verschiedenen lächerlichen, absonderlichen, unsinnigenund schmutzigen Berufszweige? Wie kommt es zum Beispiel,daß das Leben Gefängnisaufseher, Akrobaten, Hühneraugen-operateure, Henker, Schauspieler, Hundebarbiere, Gendarmen,Zauberkünstler, Prostituierte, Bader, Roßärzte, Totengräber,Pedelle mit sich bringt? Oder gibt es vielleicht überhauptkeinen noch so unsinnigen, zufälligen, launenhaften, gewalt-samen oder lasterhaften menschlichen Einfall, der nickst sofortein Wesen findet, das ihn ausführt und ihm dient?"Jedenfalls überraschte ihn, als er tiefer nachdachte, dieTatsache, daß die ungeheuere Mehrzahl der geistigen Berufs-arten ausschließlich auf Mißtrauen gegen die menschlicheRedlichkeit gegründet sei und auf diese Weise menschlichenLastern und Gebrechen Vorschub leisteten. Wozu wären sonst,wenn die Menschheit vollkommen wäre, überall Kontoristen,Buchhalter, Beamte, Polizisten, Zollbeamte, Kontrolleure,Inspektoren und Aufseher nöttg?Er dachte auch an Geistliche, Aerzte, Lehrer, Advokatenund Richter, an all die Leute, die nach der Art ihrer Tätigkeitdeständig mit den Gedanken, Empfindungen und Leidenanderer Menschen in Berührung kommen mußten. UndRomaschow kam, ohne es zu verstehen, zu dem Schluß, daßdie Leute dieser Kategorie eher als andere hart und liederlichwürden, in Trägheit, kaltem und tödlichem Formelkram undin alltägliche, schimpfliche Gleichgülttgkeit versänken. Erwußte, daß es noch eine Kategorie gäbe: die Leute, die für dasäußere, irdisckje Wohlbefinden sorgten: Ingenieure, Architekten,Erfinder, Fabrikanten, Direktoren. Aber diese Leute, die unterTeilnahnie aller das menschliche Leben erstaunlich schön undangenehm machen könnten, dienten nur dem Reichtum. Aufall ihnen lastete ängstliche Sorge um ihr eigenes Wohlergehen,tierische Liebe zu ihren Kindern und ihrer Wohnung, Furchtvor dem Leben und infolgedessen feige Abhängigkeit vomGelde. Wer gestaltete aber schließlich das Los des vergessenenChlebnikow, wer nährte, unterrichtete ihn und sagte ihm:�Gib mir Deine Hand, Bruder!"Auf diese Weise dachte Romaschow sich unsicher und sehrlangsam, aber immer ttefer und tiefer in die Lebens-«rscheinungeir hinein. Früher war ihm alles so einfach er-schienen. Die Welt zerfiel in zwei ungleiche Teile: Der eine,kleinere— waren die Offiziere, die Ehre, Kraft, Macht, be-zaubernde Würde der Uniform und gleichzeittg mit der Uni-form ans irgend einem Grunde auch patente Tapferkeit physische Kraft und hochmütigen Stolz gepachtet hatten; derandere, ungeheuer große und unpersönliche Teil— waren dieZivilisten, mit Spitznamen Spatzen genannt, die als Staffagedienten; sie wurden einfach verachtet; es galt für forsch, einenZivilisten ohne jeden Grund zu schimpfen oder zu schlagen,seine angezündete Zigarette ihm unter der Nase auszulöschen,ihm den Zylinder einzutreiben; von dergleichen Heldentatenerzählte man sich auf der Kriegsschule mit dem Entzücken blau-blutiger Junker. Und als Romaschow jetzt gleichsam einwenig seitwärts, sich wie aus einem heimlichen Winkel durcheine Spalte betrachtete, begann er allmählich zu verstehen,daß der ganze Militärdimst mit feinem eingebildeten Glänzenur durch einen grausamen, schimpflichen Irrtum aller Men-scheu entstanden sei.„Wie kann ein Stand existteren," fragteRomaschow sich,„der in Friedenszeiten nicht den geringstenNittzen bringt, anderer Brot und Fleisch ißt, anderer Kleidungtt'ägt, in anderer Leute Häusern wohnt, im Kriege aber un-sinnigerweise ebensolche Menschen wie er selbst, tötet und ver-stümmell?"In ihm wurde der Gedanke immer klarer und klarer,daß nur drei freie menschliche Berufe eristterten: Wissenschaft,Kunst und freie körperliche Arbeit. Mit neuer Kraft be-schäfttgte er sich mft Gedanken über literarische Arbeiten.Bisweilen, wenn er ein gutes, von ehrlicher Begeisterungdurchdrungenes Buch las, dachte er voll Oual:„Mein Gott,das ist ja so einfach, das habe ich selbst gedacht und gefühlt.Ich könnte ja ganz dasselbe schaffen!" Es drängte ihn, eineNovelle oder einen großen Roman zu schreiben, dessen In-halt die Schrecken und die öde Langeweile des Militärlebensbilden sollten. In Gedanken gestaltete sich alles ausgezeichnet;die Bilder kamen deutlich, die Gestalten lebendig heraus, dieFabel entwickelte sich schön und verschlang sich in einen schönen,regelmäßigen Knoten, und es war ungewöhnlich lustig undunternehmend, daran zu denken. Wenn er sich aber ansNiederschreiben machte, kam alles blaß, kindlich, matt, un-gefüge, schwülstig oder schablonenhaft heraus. Solange er— schnell und eiftig— schrieb, bemerkte er diese Mängelnicht; aber er brauchte nur neben seinen Seiten einen kleinenAbschnitt aus großen russischen Dichtern durchzulesen, so er-griff ihn ohnmächtige Verzweiflung, Scham und Abscheu vorseiner eigenen Kunst.(Fortsetzung folgt.)(Nachdruck verbolen.)Gefckieäen.Novelle von Carl Ewald.Autorisierte llebersetzung aus dem Dänischen,Ach, wer bringt die schönen Tage,Jene Tage erster Liebe,Ach, wer bringt nur«ine StundeJener holden Zeit zurück!Eiusam nähr' ich meine Wunde,Und mit stets erneuter KlageTraur' ich ums verlorene Glück.Ach, wer bringt die schönen Tage,Jene holde Zeit zurück IEinen Augenblick ließ sie die Hand auf den Tasten ruhen, legteden Kopf auf die Seite und fiarrie in die dunkle Ofenecke hinüber.Gedämpft und leise spielte sie die Melodie noch einmal durchund summte die Worte mit. Aber dann stemmte sie plötzlich denFuß gegen das Pedal und schlug ganz unvermittelt einen lautenAkkord an.Tann stand sie langsam auf und schloß da? Klavier. EinenAugenblick blieb sie nachdenklich stehen, stützte den Ellbogen aufden Ofenschirm, und ließ den Blick auf den Flammen ruhen, diehinter dem Roste flackerten. Es war still im Zimmer, und auchvon außen drang kein Geräusch herein. Der frischgefallene Schneedämpft: die Schritte der Fußgänger, und nur selten kam um dieseTageszeit ein Wagen durch die kleine Straße.Die Stille nahm sie gefangen, sie ließ den Kopf auf ihreArme sinken und schloß die Augen. Der einzige Laut, den siehörte, war das gedämpfte Knistern des Feuers im Ofen...ein wunderbar satter, zufriedener Laut, der allmählich das ganzeZimmer füllte, ihre Augen immer mehr schloß und sie in einentraumähnlichen Zustand versetzte.„Betchl"Sie fühlte, wie ihre Knie schwankten, es war ihr zu Mut,als müsse sie umsinken. Die Hände noch fest um den Rand desOfenschirms geklammert, wandte sie ihr Geficht dem Innern desZimmers zu— ein Gesicht, so loeiß wie der Mondschein, derdurch das breite Fenster herein strömt«. Sie konnte nicht sprechen,den Ofenschirm nicht loslassen, kein Glied rühren... sie starrte