Nnterhaltungsölatt des Nr. 238. Donnerstag, den 7. Dezember. 1905 (Nachdruck verboten.) tA Vie fiuerta. Roman von V. BlaSco Jbanez. Autorisierte Uebersetzung von Wilhelm Thal. Zu Hause kam ein Unglück nach dem anderen. Es fehlte nur eins, der Sturz des Daches, der sie alle auf einmal er- schlagen würde... Ach, welches Pech! Wohin hatten sie sich verirrt?.. Der Zustand des Kleinen wurde mit jedem Tage schlimmer: er zitterte vor Fieber in den Armen seiner Mutter, die beständig weinte. Der Arzt kam morgens und abends, und diese 5rrankheit kostete gewiß weriigstens über zwölf Duros. Der Aelteste, Batistet, wagte sich kaum aus dem Gehöft. Er hatte noch den Kopf mit Bandagen umwickelt, und das Gesicht war ihm mit Rissen zerschnitten nach einem fürchterlichen Kampfe, den er gegen andere Jungen seines Alters hatte bestehen müssen. Diese sammelten wie er Dung in Valencia , und alle Fcmaters der Umgegend hatten sich gegen ihn verbündet, so daß der arme Junge sich nicht mehr auf dem Wege zeigen konnte. Die beiden Jüngsten hatten aufgehört, in die Schule zu gehen, aus Furcht vor den Schlachten, in die sie bei der Rück- kehr verwickelt wurden. Roseta war die traurigste von der ganzen Familie. Ihr Vater behielt ihr gegenüber seine brummige Miene bei und warf ihr strenge Blicke zu, um sie daran zu erinnern, daß es ihre Pflicht war, sich gleichgültig zu zeigen, und daß ihre Leiden ein Attentat gegen die väterliche Autorität darstellten. Denn alles war entdeckt worden, und nach dem berühmten Skandal bei dem„Springbrunnen der Königin" hatte die Huerta über acht Tage lang nur von der Liebelei der Ar- beiterin mit dem Enkel des Vaters Tomba gesprochen. Der dickbäuchige Schlächter von Alboraya war außer sich vor Zorn über seinen Knecht. Ach, der Schuft! Man wußte jetzt ganz genau, warum er seine Pflichten verabsäumte, und waruni er abends wie ein Zigeuner herumstrolchte! Dieser Herr erlaubte sich, eine Braut zu haben, als wäre er im- stände, ihr den Lebensunterhalt zu verschaffen. Und was für eine Braut! Du lieber Gott übrigens brauchte man ja, nur zuzuhören, wenn die Kunden am Schlächtcrtisch Naschten. Alle wiederholten dasselbe: sie wunderten sich, daß ein Mann, wie er, ein religiöser, ehrenhafter Mensch, der keinen anderen Fehler besaß, als daß er ein bißchen am Ge- wicht betrog, seinem Knecht erlauben konnte, der Tochter des allgemeinen Feindes den Hof zu machen, dieses unehrlichen Individuums, das sogar im Zuchthaus gesessen haben sollte. Und da das alles nach dem Urteil des dickbäuchigen Meisters eine Schande für sein Geschäft war, so geriet er jedesmal, wenn die Weiber klaschtcn, in Wut, drohte dem schüchternen Burschen mit seinem Schlachtmesser und regte sich über den Vater Tomba auf, der diesen Schlingel nicht züchtigte. Schließlich entließ der Schlächter Tonet, und sein Großvater fand für ihn eine andere Stellung bei einem anderen Schlächter in Valencia , dein er ausdrücklich anbefahl, er solle dem jungen Menschen nicht die geringste Freiheit lassen, selbst nicht an den Festtagen, damit der Verliebte Batistes Tochter nicht auf der Landstraße auslauern konnte. Tonet fügte sich und ging mit feuchten Augen fort wie eines jener Lämmer, die er so oft vor das Schlachtmesser seines Herrn geführt. Nein, er wollte nicht wiederkommen, und die arme Roseta versteckte sich in ibrer Kammer, um zu weinen. Sie bemühte sich, ihren Kummer weder vor ihrer Mutter zu zeigen, die, durch so viele Widerwärtigkeiten reiz- bar geworden, stets eine mürrische Miene zur Schau trug, noch vor ihrem Vater, der ihr die Knochen im Leibe zer- schlagen wollte, wenn sie sich's wieder einfallen ließ, sich einen Liebhaber anzuschaffen, und so ihren Feinden Stoff zu Klatschereien lieferte. Aber trotz dieser Strenge, trotz dieser Drohungen litt Batiste sehr schwer unter dem Kummer seiner Tochter. Ver- geblich versuchte sie, gleichgültig zu scheinen: er sah wohl, daß sie den Appetit verlor, daß sie gelb wurde, und ihre Augen sich umränderten: sie schlief nämlich kaum, was sie jedoch nicht hinderte, jeden Tag pünktlich zur Fabrik zu gehen: dazu lag in ihrem Blick etwas Trübes, man merkte, daß ihr Geist ganz anderswo war, und daß ein Traum sie unaufhörlich in Anspruch nahm. Ja, im innersten Herzen war Batiste über das, was er sah, sehr traurig: er war auch jung gewesen und wußte, wie weh Herzenskummer tat. Man konnte unmöglich unglücklicher sein, und doch war eS noch nicht aus. In diesem Hause entgingen selbst die Tiere nicht dem Oden des Hasses, der sie umwehte. Bei den Leuten tvandte man die Prügel an, bei den Tieren den„bösen Blick". Sicherlich harte nur durch den bösen Blick der arme Morrut das alte Tier, das auf den, durch das Elend aus« gedrungenen Irrfahrten das armselige Mobiliar und die kleinen Kinder über die Landstraßen gezogen, seine Kräfte nach und nach in diesem neuen Stalle verloren, der besten Wohnung, die er in seinem laugen, arbeitsreichen Leben jemals innegehabt hatte. Er hatte sich in den schlimmsten Tagen recht tapfer gezeigt, der brave Morrut, als die Familie sich in dem Gehöft niederließ, als man diese verdammten Aecker, die eine zehn- jährige Verödung hart wie Stein gemacht hatte, umkehren und beständige Reisen nach Valencia unternehmen mußte, um dort Baumaterial und Holz zu holen, als die Nahrung wenig reichlich und die Arbeit erdrückend war. Und jetzt, da sich unter dem kleinen Fenster des Stalles ein großer Platz mit frischem, hohem, wogendem Gras ausbreitete, jetzt, da sein Tisch stets mit jenem schmackhaften, grünen Tuch gedeckt war, das einen köstlichen Geruch ausströmte, jetzt, da er dick und fett wurde, seine spitzen Hüsten und sein knochiges Rück- grat zu runden begannen, ivar er plötzlich gestorben, ohne daß man wußte, woran: vielleicht, um sich der Ruhe zu er- freuen, die er so reichlich verdiente, nachdem er die ganze Familie dem Elend entrissen hatte. Eines Tages hatte er sich auf das Stroh gelegt und wollte den Stall nicht verlosten: dabei hatte er seinen Herrn mit glasigen und gelblichen Augen betrachtet, die die Flüche und Drohungen auf Batistes Lippen erstickten. Das waren fast die Augen eines Menschen, und wenn Batiste sich dieses Blickes erinnerte, hatte er große Lust zu weinen. Der Tod des Pferdes erschütterte das ganze Haus, und über dem neuen Unglück vergaß man sogar den armen Pascualet ein wenig, der nach wie vor in seinem Bett vor Fieber zitterte. Gehörte das brave Tier nicht auch zur Familie? Vor so langer Zeit hatte man ihn auf dem Markte von Sagunto klein, schmutzig, mit Kot und Unrat bedeckt, gekauft, eine wahre Schindmähre! Doch von seinem neuen Herrn gut gepflegt, hatte er sich bald erholt, war er der treue Diener, der unermüdliche Arbeitsgenosse, der Rettungs» ball ini Unglück gewesen. Darum liefen auch alle. Groß und Klein, vor die Tür, um ihm das letzte Lebewohl zu sagen, als häßliche Männer mit einem Wagen kamen, uin den Leich» nam dieses alten Arbeiters fortzubringen. Als sie den alten Morrut mit steifen Beinen und wackelndem Kopfe fortfahren sahen, konnte keiner von ihnen seine Tränen zurückhalten.- Am traurigsten war Teresa. Sie erinnerte sich, als wäre es gestern gewesen, daß das gutmütige Tier an dem Tage, da Pascualet zur Welt gekommen war, den Kopf durch die halbgeöffnete Tür gesteckt und der Geburt ihres liebsten Kindes beigewohnt hatte. Sic zerfloß in Rührung, wenn sie an die liebevolle Geduld Morruts dachte, der dem noch wackelnden Kleinen als Spielzeug diente, sich am Schwanz ziehen ließ und sich, bevor er einen Schritt tat, mit seinen runden, sanften Augen umblickte, um den Kleinen ja nicht mit seinem Huf zu stoßen. Sie glaubte, das Kind wieder auf dem harten Rücken des alten Wierdes sitzen zu sehen, wo sein Vater ihn oft rücklings hinsetzte, wie er mit seinen zu hohen Füßen gegen die breiten Lenden schlug und mit fröh» lichcr Stimme: Arre! arre! rief. Und sie sagte sich, daß das alles nun vorbei, daß das Tier zum Schinder gewandert war, und das Kind krank im Fieberschauer im Bette lag. Und eine düstere Ahnung durchzog ihre Seele, eine aber» gläubische Angst ließ sie erbleichen. Ihr war es, als hätte der Tod des guten Haustieres eine Bresche gerissen, die un- ausgefüllt blieb, und durck die vielleicht auch noch andere verschwanden. Ach, Herr Gott , niöchteu sie doch falsch sein, ihre traurigen Mutterahnuugcn, möchte es doch allein sterben, das arme Tier! Wenn es nur nicht auf seinem Rücken den armen Kleinen auf dem Wege zum Himmel mitnahm, wie
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22 (7.12.1905) 238
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