Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 253.

8]

Der Dieb.

Sonnabend, den 30. Dezember.

( Nachdrud verboten.)

Die Tragödie eines Kindes.

Von Karl Busse . ( Schluß.)

Doktor Wenig biß sich auf die Lippen.

,, Meldet sich niemand?" fragte er noch einmal. Auf seiner Stirn schwoll die Ader. Man sah, wie er erregt ward und wie die Sache ihn angriff.

Dann frage ich, ob irgend jemand zu dem Vorfall etwas weiß, was von Belang ist."

Aber immer nur das atemlose Schweigen. " Hast Du einen Verdacht, Seydel?"

Die Augen des Jungen irrten einen Moment über die Reihen seiner Mitschüler.

sch glaube," jagte er.

Aber Doktor Wenig unterbrach ihn. Seine Stimme war dunkel gefärbt:

Ueberleg Dir jedes Wort, Seydel, jedes Wort, was Du sagen willſt!"

Ich will nur sagen," stammelte der Schüler selbst un­ficher, daß in der Pause... mich Knoll gebeten hat, ich soll ihm die fünfzig Pfennig geben."

Mehr als dreißig Augenpaare richteten sich in derselben Sekunde auf den Sohn des Botenmeisters. Er saß da, ganz in sich zusammengefunken, die Schultern waren noch höher gezogen, der Kopf ganz tief gebeugt.

Ein jäher Schreck kam in den Blick des Lehrers. wilder Grimm gleichzeitig.

Ein Wer war vor der großen Pause der letzte in der Klasse?"

Ein Knabe erhob sich in der zweiten Bank. " Ich bin mit Gehrts und Hoppe zusammen hinaus­gegangen. Es blieb niemand mehr zurück."

,, Und wer war der erste nach der großen Pause im Schulzimmer?"

Seine Hand hob sich.

Wer war der erste?" rief der Ordinarius drohend. Von den Bänken standen einige auf.

"

,, Als wir... reinfamen, war nur. Knoll hier." Der Lehrer fragte jeden einzelnen. Immer dieselbe Antwort.

Knoll!"

Der Kleine stand auf. Er hob den Blick nur einmal. Einen fieberhaft glänzenden, zerquälten Blick, wie ein ge­martertes Tier ihn haben mag.

,, Was hast Du auf die Aussagen der anderen zu Keine Antwort.

widern?"

"

er­

Warum hast Du Dich nicht gemeldet, als ich fragte, wer das Schulzimmer zuerst betreten hat?"

Das Schweigen ward immer drückender. Reglos saß einer neben dem andern. Jeder mochte fühlen, daß sich hier ein Menschenschicksal entschied.

Hast Du... das Geld... von Seydel genommen?" Die Worte wollten dem Lehrer nicht vom Munde. Menne Knoll öffnete die Lippen und schloß fie. Aber es ward kein Ton hörbar. Die schmächtige Gestalt taumelte in der Bank hin und her.

Also ein Dieb ist in meiner Klasse," schrie der junge Ordinarius auf. Es lag Schmerz, gekränkte Ehre, Grimm in dem Ton der Stimme. Ein Dieb! Und das ist der Musterschüler Knoll! Nun ja, der Apfel.

"

Als ob er jäh zur Besinnung fäme, unterbrach sich der Lehrer. Im nächsten Augenblick schlug etwas auf. Lautlos war der Sohn des Botenmeisters in der Bank zusammen­gebrochen. Sein Kopf stieß gegen das harte Brett.

Doktor Wenig atmete tief und setzte sich.

Man hätte eine Feder fallen hören, so totenstill war es. ,, Gebt ihm Wasser!"

Der Nebenmann erhob sich, füllte ein Glas aus der bereitstehenden Karaffe und besprengte den Zusammen gesunkenen.

Er kam langsam zu sich.

1905

Knoll," sprach der Ordinarius, ich will zu Deinen Ehre annehmen, daß die Tat in einem Augenblick der Un­überlegtheit geschehen ist. Das entbindet mich nicht von des Pflicht, beim Herrnr Direktor Anzeige zu machen. In so schwerwiegenden Fällen kann nur er entscheiden. Ich muß Dir außerdem einen Brief an Deinen Vater mitgeben. Das weitere wird sich dann finden. Da Du Dir bisher nie etwas hast zu Schulden kommen lassen, hoffe ich, daß Dir die Ver weisung vom Gymnasium erspart bleibt und daß der Herv Direktor Dein Vergehen nicht als eine unehrenhafte Handlung auffaßt, die Dich der Teilnahme am Gymnasial- Unterricht un­würdig macht, sondern als unüberlegten Dummenjungen. streich."

Er fuhr sich über Stirn und Augen und richtete sich dann hoch auf.

Die Klasse bitte ich, den ganzen Vorfall als durchaus interne Angelegenheit, eben als Klassengeheimnis zu betrachten und nicht darüber zu sprechen. Ich appelliere da an das Ehr gefühl jedes einzelnen. Der Unterricht geht nun weiter."

Aber da war gut Reden. Der Unterricht nahm aller dings seinen Fortgang, doch die Untertertia war selten so un­aufmerksam gewesen.

In der kurzen Fünf- Minutenpause zwischen elf und zwölf bildeten sich flüsternde Gruppen. Zu Menne Knoll flogen scheue Seitenblicke hinüber. Ein lautes Wort fiel kaum. Nur als Otto Seydel irgend eine Bemerkung machte, rief ihm Tiedemann, der Sohn des Amtsrichters, zu: Sei Du nur ruhig. Mit Ruhm bekleckert hast Du Dich nicht!"

Dann nahm der Ordinarius seinen Kathedersitz von neuem ein. Hier ist ein Brief an Deinen Vater, Knoll. Du wirst mir morgen die Bestätigung bringen, daß er abgegeben ist. Heute nachmittag um drei Uhr nimmst Du Deine Bücher und gehst in das Zimmer des Herrn Direktors."

Mechanisch erhob sich der Sohn des Botenmeisters, ging vor, nahm den Brief in Empfang. Dabei erhob er seine Augen einmal zum Lehrer.

Der Lehrer zuckte vor diesen Augen zusammen. Ec wurde blaß, als überkäme ihn eine dunkle Ahnung des Zu sammenhanges.

-

Es wird sich wohl alles aufflären," sprach er haftig. Und hastig ganz unpädagogisch hastig diktierte er eine Uebungsarbeit, daß viele sich meldeten, weil sie nicht mit­famen.

Menne Knoll meldete sich nicht. Er schrieb und schrieb. Was, wußte er selbst kaum. Aber die Feder flog, seine Hand flog, sein Herz flog.

Um zwölf Uhr nahm er seine Bücher wie gewöhnlich, nahm den Brief in die andere Hand und schleppte sich aus der Toren des Gymnasiums.

Er schlug den gewohnten Heimweg ein. Er mußte ja den Brief abgeben, in dem es klar und deutlich stand, daß en ein Dieb war.

Und heut nachmittag sollt' er zum Direktor!

Er blieb plötzlich stehen. Eine wahnsinnige Angst pacte ihn. Die Angst war so furchtbar, daß selbst das Rad in seinem Kopf plöglich aufhörte zu laufen nur die Nadel stach.

Er war ein Dieb! Er mußte fliehen. Alle Menschen ver­folgten ihn. Wie damals, als die wilde Jagd durch die Straßen tobte und jeder: Haltet ihn!" schrie.

Und plöglich bog er in die Pappelallee und lief und lief. Die Wiesen tanzten vor ihm, die Roggenfelder drehten sich im Kreise, die Bäumen drohten mit starken Armen und schüttelten die Köpfe. Dazu rauschten sie:" Haltet den Dieb, haltet den Dieb!"

Seine Brust tat ihm nicht ein bißchen weh. O, wie er laufen konnte! Wenn er so weiter lief, holte ihn niemand ein, weder Otto Seydel , noch Doktor Wenig, noch der Gymnasialdirektor.

Immer ferner die Stadt, immer weniger belebt die Straße. Nur vorn fam jemand geritten. War das der Gendarm? Suchte der ihn schon?

Er lief einen Rain entlang. Brombeersträuche standen zur Seite. Und da war eine Bertiefung. Wenn ersich dort hinlegte, sah ihn niemand.

Er warf sich zur Erde. Er zitterte am ganzen Reibe.