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Das Fieber hatte ihn gepact, schüttelte ihn, das heiße Rad im Kopfe lief fich immer heißer, und in der Brust wars wie ein Krampf.
Wie lange er lag, wußte er nicht. Er dachte alles wirr durcheinander. Dann fiel ihm plöglich der Heißhunger an. Er pflückte ein paar Brombeeren, ob sie auch erst halbreif
waren.
Nun gingen die anderen wohl zur Schule, die Lehrer famen wie sonst, der Pedell läutete nur sein Platz blieb leer.
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Aber um drei erwartete ihn doch der Direktor! Er fauerte sich noch dichter zusammen, daß man ihn von der Landstraße nicht sehen fonnte.
Die Stunden gingen, die Sonne sant. Er war jetzt ganz fatt, er hatte feinen Hunger mehr. Nur noch Durst. Er lag in dumpfem Halbschlaf, er lachte und redete und schrie auf bor Schreck.
Dann dachte er wieder an seine Mutter und ward stiller. In der Nacht begann es zu regnen. Die liebe Mutter fandte den Regen. Der fühlte die Glut, der tat dem Kopf wohl.
Eintönig rauschte es hernieder.
Die Bücher, dachte Menne Knoll. Die Bücher dürfen nicht naß werden. Sie gehören dem Gymnasium. Dann denken sie, ich hab sie auch gestohlen. Ich stahl Geld und Bücher und alles.
Und den Brief für den Vater mußte er auch gut be wahren. Sonst wurde der Ordinarius böse.
Er legte ihn in die Grammatik und knöpfte die Bücher, fo gut es gehen wollte, unter den dünnen Rittel. Ihn fror, dann war ihm heiß.
Und der Regen rauschte und rauschte.
*
Vater Knoll, der Botenmeister, hatte einen guten Tag gehabt. Als er gegen elf Uhr abends nach Hause fam, war er in vorzüglicher Stimmung. Und als er sich auf den Bettrand sette, fiel ihm ein, wie sein Sohn sich gestern vor ihm auf die Knie geworfen. Was wollt er gleich? Fünfzig Pfennig. Ein schönes Geld.
Brummig zog er das Portemonnaie. Wie gesagt, er hatte einen guten Tag gehabt. Er zählte vier Mark und siebzig Pfennig. Ein schönes Geld.
Da konnte der Aufpasser seine fünf Groschen kriegen. Man ließ sich nicht lumpen.
Er schritt gegen die Kammertür. Aber dann fiel ihm ein: er schläft. Was braucht der Aufpasser zu wissen, wann sein Vater nach Hause kommt! Gieb's ihm morgen!
Und er legte das Geldstück auf den Tisch und warf sich, mit sich selbst zufrieden, fünf Minuten später in sein Bett. Als Menne Knoll am nächsten Morgen nicht zum Vorschein kam, als der Botenmeister die Kammertür öffnete und das unberührte Bett sah, packte ihn eine unbestimmte Furcht. Er rief durchs ganze Haus, fragte die Nachbarn, aber niemand hatte den Kleinen aus der Schule kommen sehen.
Da schlug dem Alten das Gewissen und er rannte zu Doftor Wenig, der ihm von den Lehrern am nächsten wohnte.
Die schlanke, fräftige Hand des jungen Philologen griff um die Stuhllehne, als wollte sie das derbe Holz zerbrechen. Vielleicht kommt er in die Schule, Herr Knoll," sagte er schweratmend. Ich hab von acht bis neun Stunde und geb' Ihnen sofort Bescheid. Ist er bis neun nicht da, stell' ich mich Ihnen ganz zur Verfügung."
" Die Kinder, Herr Professor, die Kinder," sagte der Botenmeister weinerlich.„ Er hat mich so gebeten, ich soll ihm fünfzig Pfennig geben... zum Waldspaziergang auf den Knien hat er vor mir gelegen... aber man hat ja auch nicht immer so das Geld parat. Und gestern denk ich noch, ich will's ihm wenigftens heut geben was fagen Sie, da ist er nicht da. Man ist ein guter Bater, aber du Tieber Gott ..."
Schon gut, Herr," unterbrach ihn Doktor Wenig rauh, daß der alte Knoll nicht wußte, was plöglich in ihn gefahren fei. Sabe jetzt zu tun. Also es bleibt dabei: um neun erwart' ich Sie vor dem Gymnasium."
Noch vor Beginn des Unterrichts hatte der Ordinarius der Untertertia eine lange Konferenz mit dem greisen Direktor. Beide betraten ihre Klassenzimmer mit ernſten Gesichtern.
" Ist Knoll da? Hat ihn jemand gestern noch gesehen?" Das waren Doktor Wenigs erste Worte. Aber der Plaz blieb leer, die Schüler schwiegen.
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Um neun wartete draußen der Botenmeister. Er hatte bereits in der ganzen Stadt herumgefragt. Der Landrat hatte ihm einen Schreiber zur Verfügung gestellt. Doktor Wenig schloß sich ihnen an. Jeder suchte die Landstraße in verschiedener Richtung ab. Als um elf Uhr, wie verabredet, die drei zusammentrafen, zuckte jeder die Achseln.
Da wurde die Polizei benachrichtigt und der Ordinarius der Untertertia konferierte noch einmal mit dem Direktor. Die Folge war ein in allen Klassen verlesenes Rundschreiben, wonach die Schüler gebeten wurden, auf ihren Spaziergängen auf etwaigen Spuren des Gymnasiasten Her mann Knoll zu achten.
Aber der Erlaß war nicht vonnöten. Um die Mittagszeit brachten zwei Mägde, die in der Nähe der Brombeerheden das Heu gewendet, den kleinen Menne Knoll angeschleppt.
Er lebte noch. Auf Anweisung des Gymnasialdirektors nahm der Kreisphyfikus den Kranken in Behandlung.
Drei Tage lang hatte Menne Knoll noch zu kämpfen. In seinen Phantasien tam er nie von Otto Seydels Federfasten los. Sein Ordinarius brachte stundenlang an seinem Bette zu. Nicht lange vor dem Tode schlug der Kranke noch einmal die Augen auf. Er erkannte seinen Lehrer.
Ich hab den Brief nicht abgegeben, Herr Doktor," sprach er mühsam, und der Ellendt- Seiffert ist naß geworden. Ich hab ihn unter den Rock geknöpft, aber er ist... naẞ... geworden."
Der Lehrer fand kein Wort. Er nahm nur die Hand des Kindes. Da lächelte Menne Knoll und streckte sich lang aus, lang und gerade, wie selten im Leben.
Am nächsten Tage erfuhr Doktor Wenig, daß der Musterschüler, den er zuerst nicht hatte leiden können, tot war. Es war gerade am Ende der Stunde.
" Ich habe Euch die traurige Mitteilung zu machen, daß Euer Mitschüler Knoll eben verstorben ist. Ich hab erst zuletzt erkannt, daß er ein guter, stiller Mensch war, der im Leben viel zu leiden hatte. Auch die Diebstahlsgeschichte hat ihre Erklärung gefunden. Euer Mitschüler war kein Dieb. Bewahrt ihm ein so gutes Andenken, wie ich es ihm bewahren werde, und es wird Not tun, daß mancher ihm jezt im stillen dies oder jenes abbittet. Deine fünfzig Pfennig, Seydel, kannst Du bei mir abholen."
Die Schüler regten sich nicht. Der Tod war den wilden Jungens plöglich greifbar nahegetreten. Sie sahen herüber auf den leeren Platz.
In der Pause jedoch schaffte sich ihre Rührung und ihr Gerechtigkeitsgefühl Luft. Es war ihnen, als ob sie dem kleinen Menne Knoll eine Revanche schuldig wären. Und wie auf Kommando wurde Otto Seydel über die Barriere gelegt und verhauen.
Vielleicht weiß er bis zum heutigen Tage nicht, weshalb. Und die Vollstrecker der Strafe wußten es auch kaum, sie empfanden nur so und fühlten sich nachher leichter und freier. Auf Befehl des Direktors nahmen alle vierhundert Schüler des Gymnasiums in feierlichem Zuge an Menne Knolls Begräbnis teil. Es fiel auf, daß, als die meisten sich schon verlaufen hatten, der alte Direktor und der Ordinarius der Untertertia noch am Grabe standen, die Hüte in der Hand, und warteten, bis der kleine Hügel sich höher und höher wölbte.
Der Botenmeister, der nicht gut eher fortgehen konnte, drängte sich an sie heran.
So ein Kind, meine Herren so ein gutes, fleißiges Kind! Das verschmerz ich ja nicht... erst meine Frau und nun der Junge! So einen Jungen krieg ich ja nicht wieder!" Er weinte wirklich.
Aber keiner von den beiden Lehrern beachtete ihn.
( Nachdruck verboten.)
Eine Kreuzspinne hatte den ganzen Tag fleißig gearbeitet. Sie machte ein Neg, das fich über das ganze Fenster des Gartenhauses spannen sollte. Natürlich gebrauchte sie dazu alle ihre Kunst und hatte tommen lassen, den sie zum Spinnen gebrauchte, so hatte sie alle ihre Kräfte. Da fie furz vorher einen ganzen Ballen Garn auch schwer zu tragen, denn das Garn hatte sie in ihrem Hinterleib
aufbewahrt.
Als sie nun so müde geworden von der vielen Arbeit, dem Auf- und Ablaufen, dem Hin- und Hergehen und ganz besonders