Grabstätten übersät sind, daß sie Ströme von Grabmälern mit sich zu führen scheinen. Auf der anderen Seite des Tales stiegen nach der Stadt zu, noch in Dämmerlicht getaucht, die Hügel an, die aus ihren abschüssigen Hängen in dürftigen Gärten eine kümmer- liche Flora zeitigten. Ueberall Friedhöfe i So weit der Blick reichte Grab- steine, Grabhügel, Monolithe , in den Fels gehauene Nischen, halb verfallene Mausoleen, zerbrochene Stelen*) und dann Staub, Staub von Jahrhunderten, Jahrtausenden, der allen Glanz und alle Schande mit seinem eintönig grauen Leichen- tuch bedeckte. Kein Strauch, kein Rauch, kein Flügelschlag. Nichts von dem, was entsteht und vergeht. Nicht einmal ein Schatten? Ueberall der Tod, auf den die Sonne blendend herab- scheint. Von Grauen übermannt, senkte Elias Jamain die Augen. Dann schlug er sie wieder auf und mit einem vertrauten, fast schon zärtlichen Blicke umfaßte er die grausigen Täler, die klagenden Berge, dieses verfluchte Land und weiter oben, über seinen Schädelstätten emporragend, von der Weite um- hüllt und vom Himmel gekrönt, die unverändertliche, unbe- siegliche Stadt, die auf ihre Einöden herablächelte. All das war schrecklich, aber all das war auch ewig. Ach? Und all das liebte er bereits. Er liebt die Er- habenheit dieser Stille, die Majestät diese Verlassenheit; was ihn jedoch am meisten entzückte, war die schmerzvolle und heroische Seele dieses Jerusalem , in der er die Seelen aller Jahrhunderte und aller Geschlechter zusammenfließen und beben fühlte. „Mein wird sie sein, wenn ich es will," sagte er. Und seine breite Brust dehnte sich vor Stolz. Nein, ihn schreckte nichts mehr? Ohne Zweifel war das alles tot; aber es konnte auch wieder aufleben, dank ihm, dank seinem Geiste, der hoch genug und auch inbrünstig genug war, mit seinem Hauche den Hauch der Vergangenheit wieder aufzufrischen. Und plötzlich ergriff ihn eine Art Verzückung. Eine wunderbare Kraft und inniger Glaube durch- strömten sein ganzes Innere und stärkten ihn. Es schien ihm, als bestände ein Zusammenhang zwischen ihm und der Heilig- keit dieses Ortes, und nun glaubte er fest an die Berechtigung seiner Hoffnung. Nicht mehr in betender Haltung, sondern mit herrischer Gebärde beugte er sich über den Abgrund. Die Leichensteine blinkten im Widerschein der Sonne. Er bildete sich ein, darin seine Bestimmung zu lesen, und sein Hei? spiegelte sich in der Fata Morgana zukünftiger Er- eignisse. Plötzlich huschte ein Schatten über sein Antlitz. Noch zitternd vor heiliger Erregung drehte er sich um und sah neben sich auf dem Balkon des Minarets einen Greis von hoher, edler Gestalt, besten Kommen er in seiner Verzückung nicht gehört hatte. Verwundert betrachtete er ihn, den ein großer, schwarzer mit dem weisen Malteserkreuz bestickter Mantel umhüllte: ein Korkhelm bedeckte seinen Kopf, dessen Profil dem eines verträumten Adlers ähnelte, und an seinen Stiefeln glänzten goldene Sporen. Der Neuangekommene begrüßte Elias mit einem freund- lichen und zugleich melancholischen Lächeln. „Kommen Sie auch ihretwegen hierher?" fragte er. auf Jerusalem deutend. Unter dem geöffneten Mantel erblickte der junge Mann ein Panzerhemd und ein Schwert mit Kreuzgriff. Zu erstaunt, um sprechen zu können, bejahte Elias die Frage durch ein Kopfnicken. „Ach, alle kommen sie ihretwegen? Auch ich kam ihret- wegen. Lang schon ist's her. Doch wer von uns wird der Erwählte sein? Ach, wer von uns ist der Erwählte?" Und aus seinen visionären Blicken sprach Entmutigung. „Gedenken Sie längere Zeit hier zu bleiben?" nahm er das Gespräch wieder auf. „Das weiß ich noch nicht, ich bin Orientalist und beab- fichtige archäologische Arbeiten zu unternehmen." „Ich bin ein Ritter, ich bin Sein Ritter; aber sind Sie nicht auch Edelmann?" „Nein, nur meine Mutter gehörte von Geburt dem niederen Adel an." „Ach, das ist schade, sehr schade. Denn Sie sind mir sympathisch und scheinen stolz zu sein." sagte der Greis, den •) Obeliskcnartiges Grabmal aus einem einzigen Steine. jungen Mann betrachtend.„Welch schönen Ritter hätten Sie abgegeben!-- Sind Sie verheiratet?" „Nein." „Dann hüten Sie sich vor dem Weibe, besonders in diesem Lande des Leidens und der Teilnahmlosigkeit. Sie tötet unseren Traum und unseren Heroismus. Hüten Sie sich vor der Frau, durch sie nur erlagen hier unsere Vor-! fahren." Und rasch eilte er die schwankenden Stufen hinab, noch ehe Elias sich von seinem Erstaunen erholt hatte. Nachdenklich blieb dieser zurück. War jener nur ein Spaßvogel oder aber einer von diesen Mystikern, die vom jerusalemitischen Wahnsinn befallen sind, von welchem er schon so oft hatte sprechen hören und der, so sagte man, alle Ver- ehrer Zions ergriff. „Ich werde mich nicht allzusehr an sie anschließen, dachte er, während er dem Ritter nachblickte, der nun durch das Tal Josaphat galoppierte und, als ob er Jerusalem im Sturm nehmen wollte, zwischen der Armee von Grabmälern hindurch- sauste. Hinter ihm wehte sein großer schwarzer Mantel mit dem daraufgestickten weißen Malteserkreuz. Elias Jamain verließ das Minaret und das moha- medanische Dörfchen. Er kehrte nach der lateinischen Konzession zurück, die um diese Stunde fast ganz leer war. Tabernakel und tragbare Altäre waren in einer Ecke aufgestapelt. Einige flach auf der Erde, inmitten zerpflückter Blumen und Kakaouette-Schalen ausgestreckte Pilger beteten mit träumerischer Miene ihren Rosenkranz ab. Muselmanische Frauen boten Ziegenmilch an, die sie in Amphoren auf der Schulter trugen; ihre nur mit laut klappernden Amuletten bekleidete Nachkommenschast hängte sich an Elias und schrie aus Leibeskräften: „Bakschisch! Bakschisch!" Die große Menge war nach Jerusalem zurückgekehrt. Auch der junge Mann schritt nun einen der steilen Fußwege hinab, welche den westlichen Abhang des Oelberges durchziehen. Hier bot die Landschaft einen ganz anderen Anblick dar. Asphodelen, Krokusse und Anemonen durchwirkten den Rasenteppich der Abhänge mit bunten Farben. Hie und da warfen einige Bäume mit friedlich und wie müde herab- hängender Belaubung ihre runden Schatten auf die rote, fette Erde. Die hellen Schleier christlicher Araberinnen verwan- delten die schmalen Fußpfade in schneeige Bäche, auf denen hie und da ein scharlachrotes Kopftuch wie eine abgerissene Päonie schwamm. Jetzt erblickte man das vom Garten Gethsemane verdeckte Tal Josaphat nicht mehr; tiefer unten auf der Kidronstraße sah eine lange Reihe mit Palmen beladener Kamele wie eine marschierende Oase aus. Wie Sanddünen sstimmerten auf dem gegenüberliegen- den Hügel im Sonnenglanz die Friedhöfe, welche von den Prozessionen der Mönche wie von Ameisenzügen durchstreift wurden. Je mehr man herabstieg, desto höher stieg gegenüber die Stadt zum Himmel empor, desto schärfer zeichneten sich auf dem starren Azurhintergrunde ihre Zinnen, Türme, Dome und Spitzen ab, bis alles allmählich verschwand und man nur noch die alles beherrschende und erdrückende, cyklopische Masse der Wälle sah. Und Elias schritt dahin unter Blumen, weiße'n Schleiern und klirrendem Zechinenschmuck. Die Pilger hatten Olivenzweige abgepflückt, sie schwenkten sie und sangen: „Hosianna! Hosianna! Gesegnet sei der, der da kommt im Namen des Herrn!" Auch im Herzen des jungen Mannes sang etwas: „Hosianna! Hosianna!" Plötzlich aber, als der Fußpfad vor dem Gethsemane- Kloster eine Biegung machte, sperrte ihnen eine seltsame Er- scheinung den Weg. Es war ein nach Christus-Art gekleideter Mann, der auf den Schultern ein gewaltiges Kreuz und auf dem Haupte eine Dornenkrone trug. In seinem Antlitz jedoch suchte man vergeblich Milde und Güte; unter den buschigen Augenbrauen rollten seine gelben Pupillen hin und her wie die Blickfeuer eines Leuchturmcs. Seine Lippen schäumten und mit ge- ballten Fäusten knirschte er: „Weh Dir, Du Geschlecht von Hoffärtigen und Betrügern! Bereuet! Bereuet! Die, welche mit Jubelgeschrei heran- kommen, werden mit Schmerzen zurückkehren. Erniedrigt Euch! Demütigt Euch! Jammert! Jerusalem gehört den
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23 (27.2.1906) 40
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