nur taube Kind ist nunmehr taubstumm geworden und erscheint auf die Stufe herabzusinken, auf der sich ein angeboren taubes Kind gleich vom Anfange an befindet". Nicht immer jedoch geht Taub- heit der Taubstummheit voran, letztere kann vielmehr auch dem Kinde schon angeboren sein. In diesem Falle kommen als Ursachen dieselben Faktoren in Betracht, auf die die angeborene Taubheit zurück- zuführen ist, in erster Linie also zu enge Verwandtschaftsgrad« der Ehegatten. Schon vor mehr als dreißig Jahren hat Liebreich daraus hingewiesen, naHdem er unter 38 Fällen 14mal dieser Ursache be- gcgnct war; spater haben zahlreiche andere Untersucher dieselbe Erscheinung beobachtet. So wurden Taubgeborene aus blutsver- wandten Ehen festgestellt von Meckel 18L4 in Nassau   13.8 Proz. Cohn und Bergmann 1869 in Breslau   1b, 8 Proz., Lent 1869 in Köln   4,3 Proz., Wilhelmi 1871 in Magdeburg   9,2 Proz., Falk 1872 in Berlin   19.2 Proz., Wilhelmi und Hartmann 1875 in Pommern   17,9 Proz., 1875 in Erfurt   5.9 Proz., Hartmann 1877 in Berlin   17,7 Proz., Bergmann 1869 79 in Breslau   15 Proz., Hedinger 1881 in Baden   und Württemberg   2,8 Proz., Schmaltz 1884 in Sachsen   3,4 Proz., Uchcrmann 1885 in Norwegen   23 Proz., Mygind 1879- 90 in Dänemark   14,6 Proz., Lemcke 1885 in Meck­ lenburg   12,9 Proz. Doch auch andere Ursachen machen sich geltend. So kommt Mygind zu dem Schlüsse, daß Öhrenerkrankungen und gewisse Formen von Nervenkrankheiten(Epilepsie, Idiotie, Geistes- krankheit) zu Taubstummheit führen können. Auf Gehirn- erkrankungen, bei Kindern meist im Alter von 2 bis 4 Jahren, gehen nach Hartmann 38,8 Proz., in Dänemark   39,9 Proz. aller Taubstummheitsfälle zurück, auf Meningitis nach Hartmann 26,8 Proz. der Taubstummen Pommerns  , 14 Proz. der Taubstummen Badens, nach Moos, Knapp und Uchermann 23,5 Proz. in Nor- wegen, auf Skarlatina nach Wilde 56 Proz. in New Jork, nach Sauveur 11,3 Proz., nach Mygind 29,8 Proz. in Dänemark  , auf Masern nach Hartmann 3,8 Proz., auf Typhus 29 Proz., auf Diphtherie 9,3 Proz., auf Blattern, Influenza, Mumps, Syphilis und akuten Gelenkrheumatismus kleinere Prozentsätze. Moos, Lemcke und Uchermann sind der Meinung, daß auch Rachitis und Skrophulose, die Massenkrankheiten der Kinder des Proletariats, Taubstummheit zur Folge haben können. In dieser Hinsicht schemcn die Aeußerungen bemerkenswert, die Branckmann in Reins Hand- buche der Pädagogik zu diesem Punkte macht:»Was die sozialen Verhältnisse angeht, so ist es eine Tatsache, daß die ärmeren und ungebildeten Volksschichten einen größeren Prozentsatz Taubstummer liefern als die wohlhabenden und gebildeten. Mangelhafte Er- nährung und ungesunde Lebensweise der Eltern und der Kinder, überhaupt schlechte hygienische Verhältnisse schaffen im erhöhten Maße Disposition zu Krankheiten, welche Ohrenleiden im Gefolge haben, und mangelhafte Pflege der Kinder läßt die Verheerungen weiter um sich greifen, um so mehr, als es an Aerzten, welche mit der Behandlung von Ohrenleiden genügend vertraut find, noch viel- fach fehlt." Die für Erziehung und Unterricht der Taubstummen bestimmten Anstalten sind, um mit Sander zu reden, wesentlich Erzeugnisse der seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hervortretenden Humanitätsbestrebungen. Vereinzelte Versuche, Taubstumme aus» zubilden, haben Menschenfreunde schon früher gemacht. Der be- rühmteste der älteren Taubstummenlehrer ist der spanische Münch Pedro de Ponce zu Sahagun   in Leon  (gest. 1584), der vier Taub- stummen die Lautsprache beigebracht haben soll. In späteren Zeit- läuften waren auf diesem Gebiete mit größeren und kleineren Er- folgen tätig der Spanier   Bonet, der Holländer van Helmont, der Schweizer   Amman  , in Frankreich   der portugiesische Jude Pereira, in Deutschland   der kurbrandenburgische Hofprediger Pascha(gest. 1578), der mit Erfolg seine taubstumme Tochter unterrichtete. 1765 gründete der Abbe Charles Michel de l'Epec zu Versailles  die erste Taubstummenanstalt und zu gleicher Zeit machte der 1727 bei Weihenfels geborene Kantor Samuel Heinickc in Eppen- dorf bei Hamburg   durch seine Taubstummenunterweisungen von sich reden. Von 1772 ab wurden ihm so viele taubstumme Kinder zugeführt, daß er sich später dem Taubstummenunterricht gänzlich widmete und 1777 vom sächsischen Kurfürsten nach Sachsen   be- rufen, wo er 1778 in Leipzig   die erste öffentliche Taubstummenanstalt Deutschlands   ins Leben rief zum Begründer des Taubstummenunterrichts in Deutschland   wurde. Im Zwecke einig, schlugen Abbe de l'Epöc und Heinicke zur Er- rcichung ihres Ziele? sehr verschiedene Wege ein. Elfterer machte es sich zur Hauptaufgabe, den Taubstummen in der ihm eigenen und natürlichen Gebärdensprache auszubilden, indem er diese in feste Formen zu bringen und, wo sie nicht ausreichte, durch ein künstliches Handalphabet zu ergänzen suchte, Heinicke dagegen ver- warf mit schroffer Entschiedenheit diesen Weg, da die Zeichensprache den Taubstummmen nur zum Verkehr mit solchen befähigt, die jene künstlichen Mittel der Verständigung selbst erlernt haben. Er wollte dem Viersinnigen die allgemeine Lautsprache beibringen und ihn so der Welt als ein brauchbares Glied zurückgeben." Eine lange und erbitterte Fehde zwischen den Vertretern dieser beiden Methoden hatte zunächst zur Folge, daß die de l'Epec und seine Schule die Öberhand gewannen; später jedoch, als die Heinickesche Methode verbessert, vertieft und besonders durch Hill in Weitzenfels mit den Grundsätzen der neueren Pädagogik mehr und mehr in Einklang gebracht worden war. hat sich diese Geltung verschafft und bis heute auch mit Erfolg behauptet. Mehrere Kongresse haben sich für die Artikulationsmethode und gegen die Zeichensprache ent- schieden« selbst in Frankreich   ist die sog. französische   Methode im Aussterben begriffen. Ist im Verlaufe der letzt verflossenen zwei Jahrhunderte auch verhältnismäßig viel für die Sache der Taub- stuinmenerziehung gewonnen worden, so werden doch die Kreise. denen die einschläglichen Verhältnisse genauer bekannt find, über- einstimmend von der Ueberzeugung beherrscht, daß daS Vorhandene den Bedürfnissen keineswegs genügt und nur äußerst mangelhaft sich mit den Forderungen der Zeit in Uebercinstimmung bringen läßt. O. R. Kleines feuUleton. a. Totschlagsühne im Mittelalter. Die altgermanischen Rechts- ordnungen befaßten sich von Staats wegen nicht mit der Bestrafung eines Totschlags. Den geschehenen Totschlag zu rächen oder sich mit der Familie deS Totschlägers durch Zahlung von Wergeid auS- einanderzusetzen, war lediglich eine Sache der Familienangehörigen des Erschlagenen. Jedoch schon unter den Karolingern suchte der Staat, anschließend an den damaligen Entwickelungsgang im Rechts- Wesen, auch die Totschlagsühne in eigene Hand zu nehmen. Daher erklärt schon ein fränkisches Kapitular vom Jahre 827 die Befugnis, den Totschlag zu strafen, für ein Recht der Staatsgewalt, weshalb alle Totschlagsfalle vor den Richter gebracht und von diesem bestraft werden sollten. Daß dieses Kapitular vollständig wirkungslos blieb, beweist ein abermaliger Versuch Kaiser Friedrich   II., gegen die übliche Blutrache vorzugehen, indem er in dem von ihm erlassenen Landfrieden schreibt,.die Obrigkeit und das Recht seien dazu eingesetzt, damit keiner sich unterfange, Selbsträcher des ihm zugefügten Unrechtes zu sein. Es solle daher niemand, um welche» Schadens oder Unrechtes eS auch immer fei, sich selber rächen, bevor er nicht seine Sache vor den Richter gebracht und durch diesen habe entscheiden lassen. Und hieran anschließend verordnet der bayerische  Landfrieden von 1255:»Wer einen Menschen zu Todte schlägt, dem soll man das Haupt abschlagen, er möge denn selbdritt mit den genannten(Eideshelfern) beweisen, daß er aus Notwehr gehandelt. Aber wie beim Landfrieden selbst, so blieben auch alle Versuche der Staatsgewalt, den Totschlag unter den ordentlichen Richter zu stellen, zunächst vergebens. Die weitaus größte Zahl der Provinzial- und Stadtrechte hn 13 /14. Jahrhundert hielt an der Blutrache und an der alten Anschauung fest, daß bei einem Totschlage die Obrigkeit sich nur als Vermittler des Friedens und der Sühne hineinzumischen habe. Gelang eine solche nicht und wurde Blutrache geübt, so galt dies nicht als Verbrechen. 1374 erllärte der Rat von Straß- bürg der Familie von Rebenstock, von welcher acht Mann in der Blutrache erschlagen worden waren, auf ihre Klage:»dadurch, daß die Beklagten   Rache an ihren Feinden genommen, hätten sie keinen Mord verübt". Allerdings drängten die Städte im Interesse des Stadtfriedens, und zumal wenn einflußreiche Geschlechter dabei in Frage kamen, ganz allgemein zur Sühne und übten insofern einen starken Druck auf die widerstrebenden Elemente auS, indem sie den Täter, oder die eine Sühne ablehnende Fannlie des Erschlagenen, oft aber beide Teile, der Stadt verwies. Das Sühneverfahren war in allen älteren Stadtrechten geregelt. Räch den, Münchener Stadt- recht von 1294 geboten der Rat und die Stadtrichter zunächst einen zwei- oder mehrwöchentlichen Waffenstillstand. Jede Zuwiderhandlung gegen die gebotene Waffenruhe zog hohe Geldbußen evemuell so» fortige Verbannung nach sich. Kam nach dreimaliger gegenseitiger Unterhandlung kein Friede zustande, setzten Rat und Stadtrichter die Buße und die Sühne in feierlicher Gerichtsverhandlung fest. Diese Verhandlungen geschahen im Beisem sämtlicher Familien- Mitglieder des Erschlagenen und des Täters, der dabei im Büßer- gewand, barfuß und mit entblößtem Haupte erschien und kniend den Verhandlungen beiwohnte, und endete gewöhnlich mit Handschlag, oder, z. B. in Flandern   und Holland  , mit dem Versöhnungskuß. den der Täter dem Mundsühner, d. h. dem nächsten Schwerin  , agen des Getöteten auf Mund und Wange gab. Das Wesentlichste des Sühnevertrages war die Festsetzung de» als Wergeld an die Familie des Erschlagenen zu zahlenden Ent- schädigungSbetrages. Das in den alten gern, anischen Gesetzen fest» Selegte, genau gegliederte Wergeld ist im Mittelalter allerdings ver- hwunden. Die Partei des Verletzten oder Getöteten forderte daS Wergeld so hoch wie nur irgend möglich. Bei Streitigkeiten ent- schied dann ein Schiedsgericht. Nach dem Schwabenspiegel sollte der Getötete nach seiner Würdigkeit oder Geburt und unter Berück- fichtigung des zugefügten Schadens gebüßt und die Buße nach weiser Leute Rat vom Richter festgesetzt werden, falls unter den Parteien eine Einigung nicht zu erzielen sei. Die Sühnesummen schwanken daher von 15 990 Mark Silber   bis herunter zu 12 Gulden, die 1472 der Vater eines erschlagenen Bauers im Schwäbischen erhielt. Für Mittel- und esüddeutschland hastet dabei die Sippe deS Täters nicht mehr mit ihrem Permögen für das Wergeld der Familie des Erschlagenen wie in der älteren Zeit. Im Norden Deutschlands   hatte sich diese Haftpflicht jedoch erhalten. In dem flandrischen Landrechte wird erst 1613 dem Wergeldanspruch der Ber  - wandten des Getöteten die Klagbarkeit entzogen und in den Holsteini- schen Amtsbezirken Neumünster   und BordeSholm   mußte noch im 18. Jahrhundert die der Verwandtschaft deS Erschlagenen zu zahlende Sühnesumme von 69 lübischen Mark dergestalt aufgebracht werden« daß die Vetternschaft des Täters 49 Mark, dieser selbst 29 Marl  zahlte. Wie die Vctternschaft zwei Drittel des WergeldeS auf-