Unterhaltungsblatt des HonvärlsNr. 60.Dienstag, den 27. März.1906lNachdruck verboten.)Die Sroberung von Jerusalem.Roman von Myriam Harry.21� Autorisierte Uebersetzung aus dem Französischenvon Alfred DeuterHinter den Laubhütten schritten die Rabbiner undOberrabbiner, die Schriftgelehrten und Redegenxiltigen, dieTalmudisten und die Karaisten, sämtliche Leuchten derisraelitischen Wissenschaft. Es waren alte, schniutzige, gebrech-liche Männer, von Krankheiten verzehrt und von Leiden aus-gemergelt. Sie neigten sich nach links und rechts, nach vor-wärts tind rückwärts. Diese sonderbaren Gebärden sollenan den Gang der Kamele erinnern, die das Volk Israel einstaus Aegypten hierher getragen hatten. Als Elias dem phan-tastischen Aufzuge nachblickte, wußte er nicht, ob er lachen oderweinen sollte über dieses arme, seltsame, geächtete Volk undseine rührende Anhänglichkeit an die kleinlichsten Ueberliefe-rungen seiner Vergangenheit.� Er ging zur Stadt hinunter, wo sich alles in fröhlicherFeststimmung befand. Die Straßen waren in ihrer Sauber-keil kaum wiederzuerkennen: ist Ostern doch der einzige Tagim Jahre, an dem sie gereinigt werden/) Nur die Hunde,die sonst das Anit der Sanitätspolizci ausübten, streiftenmürrisch unihcr, da sie ihre gewohnte Mahlzeit nicht fanden.Palnienzweige schmückten alle Läden, Berge von rotenEiern, auf denen Jerusalemkreuze und lateinische Sprücheeingeritzt waren, türmten sich auf den Ladentischen der Kram-Huden ans. Die Kaufleute in neuen Hemden und mit einerRose hinterm Ohr, beglückwünschten jeden Käufer na<b seinerLandessitte:„Glückliche Ostern, Musjö!"„Möge das neue Jahr Dir Frieden bringen, Herrl"„Muscknk, Christus ist auferstanden!"Die Pilger schritten eilig, die Städter schlenderten lang-sam einher, die Bettler hielten ihre Schale hin, die Pasteten-bäcker priesen ihre Osterfladen an, die Ausrufer rühmten ihreRosenkränze und die an'der Erde hockenden arabischenBäuerinnen boten ihre Blumen feil. Aber mit Stockschlägentrieben die Janitscharen die Menge auseinander:„Platz! Platz! Zurück! Zurück!"Und Proze�ionen zogen vorüber, strotzend von Gold undvon Weihrauchwolken umhüllt, dann lief die Menge wiederdurcheinander, aus der schöne, ernste, von Negerinnen aufden Schultern getragene Kinder» hervorragten. Von obenwarfen hinter ihren Wuscharabis versteckte Frauen Nelkenherab und besprengten die Vorüberziehenden mit Rosenwasser:„Mit Erlaubnis!"Und man erlaubte es immer.Jetzt beginnen die Glocken der Grabeskirche wieder zuläuten. Das Hochamt der Orthodoxen ist zu Ende, und einDunst von Juchtenleder, Kwaß und Kerzen durchströmt dieStraße. Dann kommen„Mütterchen" und„Väterchen", bar-fuß oder mit Siebenmeilenstiefeln, eingemummt in Schafs-felle oder ganz einfach mit einem Totenhenide bekleidet undmit einer Totenkappe auf dem Haupte. Mit einem Palm-zweige in der einen Hand und einem roten Ei in der anderen,drängen und stoßen sie sich, fallen einander um den Halsund drücken sich, lachen und weinen, küssen sich schmatzend undgrüßen sich mit dem Spruche:„Christus ist auferstanden!"„Er ist wirklich auferstanden!"Die einen verlieren ihre Mützen, andere ihren Gürtel,rnanche sogar den Kopf. Riesige, schwankende Muschiks stützensich an den Mauern und nehmen, um wieder ins Gleichgewichtzu kommen, einen Schluck aus der mit Kwaß gefüllten Feld-flasche, während die Schar der arabischen Kinder ihnen amBarte zupft, zwischen den Beinen hindurchläuft, auf denRücken klopft und dicht unter die Nase schreit:„Christus ist auferstanden Muschik, Bakschisch! Bäk-schisch!!"•) Das Osterfest entspricht dem Neujahrsfest der Araber.Wie wilde Tiere stürzen sich die Händler und dieHeiligenbildermaler aus ihren Buden auf die ckltenMatuschkas, klammern sich an ihre Röcke oder umschlingensie, zwicken und kitzeln sie, küssen ihre Wangen, durchwühlenihre Taschen und verkaufen ihnen schließlich für fünf Rubeleine gefälschte Paradieskarte, die keine fünf Kopeken wert ist.Aber niemand ärgert sich: heute ist alles erlaubt, heur?ist jeder voller Freude:„Christus ist auferstanden!"„Er ist wirklich auferstanden!"gestoßen und selbst wieder stoßend, geküßt und selbstwieder küssend, an der allgemeinen Freude teilnehmend, jedochvon all den Ausdünstungen angeekelt, setzte Elias feinenWeg durch das Gewühl fort.Auf dem Platze vor der Grabeskirche sind die Verkäufernoch zahlreicher als zu der Zeit, da Jesus sie aus dem Tempeltrieb. Armenier im Astrachanfez, Bulgaren mit dickbewickeltenwurstförniigen Beinen, Albanesen in kurzen Ballcttröckchen,Drusen, friedliebend wie Hirten, Tschcrkessen, bis an dieZähne bewaffnet, überbieten einander beim Kauf von Perl-mutterkreuzen, Kamelen aus Olivenholz, Fläschchen mitJordanwasser, Schweißtüchern der heiligen Veronika und durch-bohrten Marienherzen. Und während Elias all dieses mitVergnügen betrachtet, setzt sich bereits eine neue Prozessionvon der Basilika her nach dem Hofe zu in Bewegung. Essind koptische und abessynische Frauen, in braune Schleier ge-hüllt und überladen mit den bei den wilden Völkerschaftenbeliebten Schmuckgegenständen. Ernst und düster schreiten siedahin, grell stechen von ihren Trauerkleidern die brennendenKerzen ab: in ihrer Verzückung stoßen sie schrille, gellendeLaute aus, die den bei Leichenbegängnissen üblichen Klage-rufen ähneln.Elias muß unwillkürlich an die Maronitinnen desLibanon denken, die auch mehr Priesterinnen der Astarte alschristlichen Büßerinnen geähnelt hatten.Um allein zu sein, schlüpft er durch ein niedriges Tor,das den Platz vor der Grabeskirche von dem mohamedanischenViertel scheidet, und steht nun wieder auf der Via doloraKa.Infolge des Festtages war sie menschenleer, und als Eliasjetzt die von der Sonne beschienene Straße hinabging,murmelte er, sich von neuem an das Götzenbild erinnernd, inrhythmischem Tonfalle:„Astaroth, Astarte, Aschera, Jstar!"Von Zeit zu Zeit bezeichneten ein in eine Mauer ein-gefügter Pfeiler, eine Kapelle, ein Kloster oder irgend einMosaikbild die Stationen des Kreuzweges. Ein mit Ära-besken verzierter türkischer Springbrunnen tva-s ein kristall-klares Wasser empor... dann umfing den Wanderndenwieder gänzliche Einsamkeit. Eingefallene Häuser, Stein-Haufen, verkümmerte Pflanzen bedeckten den Weg. Dochaus dem Schutt wuchsen wilder Hafer und Klatschmohn, sogardie grauen Blätter des Kaktus hatten ihre goldenen Sterneangesteckt.Elias schritt an dem Hause des Pilatus vorüber, unterdem Ecce-Homo-Bogen hindurch, an dem Teich Bethesda vor-bei, wo Jesus die Aussätzigen heilte, und gelangte so zumStefanstore, wo ihm ein Soldat den freundlichen syrischenGruß zurief:„Schöpfe frische Luft nach Herzenslust, o Herr!"Unter den Bögen des sarazenischen Gewölbes stehenbleibend, atmete Elias in vollen Zügen die frische Luft ein,die von Moab herüberwehte. Vor ihm breiteten sich die steilabfallenden Friedhöfe aus, und jenseits des Tales Josaphatlag der Oelberg mit dem weißen Minaret, von wo er mitheiligem Schauer Jerusalem zum erstenmal betrachtet hatte.Und er machte sich wieder weiter auf den Weg um dieWälle.Auch heute schweifte sein Blick über Begräbnisplätze, seinFuß strauchelte über Grabsteine und er schritt über Leichen-Hügel hinweg.Aber all diese Denkmäler des Todes schreckten ihn nicht,die ganze Oede rührte ihn nicht mehr. Die Allgewalt seinesGeistes und der laute Jubel seines Herzens trennten ihndavon.