Anterhaltungsblatt des HorwärtsNr. 114.Sonnabend, den 16� Juni1906(Nachdruck verboten)82]Einer JVIuttcr Sohn.Roman von Clara Viebig.Krampfhast preßte Wolfgang die Augen zu, aber der einmalgescheuchte Schlaf kam nicht mehr wieder. Er hörte die Uhrenschlagen: unten vom Eßzimmer dröhnte die alte Standuhrherauf, und die bronzene Pendüle aus dem Zimmer derMutter rief mit silberner Stimme. Die Stille der Nacht über-trieb die Geräusche: so laut hatte er die Uhren noch nie schlagenhören.Kam der Morgen denn noch nicht, war das Licht denn nochnicht da?l Er sehnte den Tag herbei, und doch scheute ersich vor ihm. Eine unerklärliche Angst überfiel ihn plötzlich—ei, vor was fürchtete er sich denn so?Wenn er doch schon in der Kirchs wäre— nein, hätteer das doch schon hinter sichl Ein Widerstreben war in ihm,eine plötzliche Unlust. Rasend jagte immer derselbe Gedankedurch seinen Kopf, und sein Herz jagte mit: eine Sammlungwar ihm nicht möglich. Seufzend drehte und wendete er sich inseinem Bette, fühlte sich unendlich vereinsamt, verängstigt, javerfolgt.„Führe ich gen Himmel, so bist Du da. Bettete ich mirin die Hölle, siehe, so bist Du auch da. Nähme ich Flügelder Morgenröte und bliebe am äußersten Meer"— ach, jenemeinen Gedanken entfloh er nicht, überall war der und immer,immer dal--Als die Frühsonne, des Palmsonntags sich zwischen dennoch geschlossenen Läden durchstahl, in feinen goldenen Stäb-chen in die Jnnenräume drang, kam Käte in das Zimmerihres Sohnes. Sie war bleich, hatte sie doch die ganze Nachtmit sich gerungen: sollte sie ihm etwas sagen, jetzt an diesemLebensabschnitt— sollte sie ihm nichts sagen?! Es waretwas, das in ihr flüsterte:„der Tag ist da, sag's ihm. Dubist es ihm schuldig"— aber als die Morgensonne schien, hießsie die Stimme der Nacht schweigen. Warum es ihm sagen,was kümmerte es ihn? Was er nicht wußte, konnte ihn nichtgrämen: doch- wenn er es wüßte, dann— vielleicht, daß erdann— o Gott, nur schweigen, nur nicht ihn verlieren!Aber es drängte sie, ihn ihre Liebe fühlen zu lassen. Alssie hineinkam auf leisen Sohlen, war sie überrascht, denn erstand schon völlig angekleidet, im neuen schwarzen Rock, inden langen Hosen, am Fenster und sah unbeweglich hjnausauf das Stück Feld, aus dem man jetzt auch anfing, eine Villazu bauen. Das Untergeschoß war schon fertig, hoch ragte einBalkengerüst: es wurde ein gewaltiger Kasten.„Guten Morgen, lieber Sohn!" sagte sie.Er hörte sie nicht.„Du! Wolfgang!"Da fuhr er herum und sah sie an, erschrocken und alskenne er sie nicht.„O, Du bist schon ganz fertig!" Wie Enttäuschung lag'sin ihrem Ton: sie hätte ja so gern mit Hand angelegt, ihm ge-Holsen, gerade an diesem Tage. In ihrem Herzen war einwunderliches Gefühl: sie hatte nie geglaubt, daß dieser Tagsie so bewegen würde: war's denn nicht ein Tag, wie andereTage auch, ein Festtag natürlich, aber einer von vielen?!Und nun war's ihr doch, als wäre dieser Tag einzig und alskäme nie ein ähnlicher wieder.Sie ging auf Wolfgang zu, legte die Arme um seinenNacken und sah ihm tief in die Augen:„Mein Kind!" Unddann lächelte sie ihn an.„Nimm meinen Glückwunsch!"„Wozu?" Er blickte so fremd über sie hin, daß all das,was sie ihm hatte Inniges sagen wollen, ungesagt blieb. Erwar doch noch ganz Kind, trotzdem er sie fast überragte, nochviel zu sehr Kind, er verstand die Bedeutung dieses Tagesnoch gar nicht! So begnügte sie sich damit, nur noch an seinemAnzug zu Hestern, ihm hier ein Fädchen abzunehmen, dort einStäubchen abzublasen und ihm den Schlips zurechtzuzupfen.Und dann mußte er den Kopf bücken: sie zog ihm den Scheitelnoch einmal i« dem sich ungern fügenden, immer wieder dieLinie störenden, straffen Haar. Und dann konnte sie doch nichtan sich halten, nahm sein rundes Gesicht zwischen ihre beidenHände und drückte ihm einen raschen Kuß auf die Stirn.„Warum nicht auf den Mund?" dachte er.„Eine Mutterhätte ihr Kind auf den Mund geküßt!"Sie gingen hinunter zum Frühstück. Blumen standenauf dem Tisch: der Vater saß schon da im schwarzen Geh»rock, und aus Wolfgangs Teller lag die goldene Uhr. Einekostbare Uhr. Er besah sie kritisch: ja, die gefiel ihm!„ZurErinnerung an den 1. April 1901" stand im Innern dergoldenen Schale eingraviert. Weder Kesselborn noch Lehmannwürden eine solche Uhr bekommen, keiner der Konfirmations»genossen auch nur eine annähernd so kostbare! Furchtbarschwer war die Uhr— nun müßte er eigentlich auch noch einegoldene Kette dazu haben.Die Eltern beobachteten Wolfgang, wie er dastand, dieUhr in der Hand, und darauf niedersah— ja, er freute sich!Und das erfeute sie wiederum, besonders Käte. Sie war da-für gewesen, ihm in den Deckel der Uhr auch noch einen Sprucheingravieren zu lassen, aber Paul hatte das nicht gewollt: nurkeine Sentimentalitäten! Aber es war ja auch gut so, derJunge hatte seine Freude an dem Geschenk, also war derZweck erreicht.„Sie schlägt auch," erklärte sie eifrig,„mitten im Dunklenkannst Du wissen, welche Stunde es ist. Sieh mal, wenn Duhier— siehst Du?— wenn Du hier drückst!"„Ja! Gib mal— hier?!" Er war ganz bei der Sache.Beinahe hätten sie sich verspätet: es war Zeit zum Auf-bruch. Zwischen den Eltern ging Wolfgang zur Bahn. Alssie an dem Haus vorüberkamen, in dem Lämkes Portierwaren, stand Frida in der Tür. Sie mußte sich heute früherals sonst am Sonntag herausgemacht haben: sie war schonganz ini Staat, sah allerliebst aus, lächelte und nickte. Gleichdarauf steckte Mutter Lämke den Kopf aus dem niedrigenSouterrainfenster und sah dem Knaben nach.„Da seht er nu hin," philosophierte sie.„Wer weeßooch, wie sich det noch im Leben für ihn jestaltet!" Sie warganz gerührt.Es war ein herrliches Wetter heute, ein wirklicher Früh-lingstag. Eine festliche Helle glänzte über den geschmackvollenVillen: alle Sträucher trieben, Krokus, Tulpen, Primelnblühten freudig. Selbst Berlin mit seinen grauen Häuser-Massen und seinem lärmenden Verkehr zeigte ein sonntäglichesGesicht. Es war so viel stiller auf den Straßen: freilichsausten die elektrischen Bahnen dahin, und Droschken fuhrenund Eguipagen, aber keine Lastwagen rollten, keine Bier-und Schlächterkarren. Es ging alles so viel stiller zu, wie ge-dämpft, wie gesänstigt. Die Straßen erschienen noch breiterals sonst, weil sie leerer-waren, und die Menschen, die auf ihnengingen, zeigten andere Gesichter als sonst.Zur Kirche strömten die Konfirmanden: es war ihrereine große Zahl Knaben und Mädchen. Meist fuhren dieMädchen im Wagen vor, sie waren ja alle Töchter aus gutenHäusern.Ach, all diese Jugend! Käte konnte eine leis-sehnsllchtige,fast neidvolle Regung kaum unterdrücken: wer doch auch noch sojung wäre! Aber dann ging jeder selbstische Gedanke unterin dem einen Gefühl: der Junge, der Junge, der schritt nunheraus aus der Kindheit Land! Gott sei mit ihm!Empfindungen, von denen sie lange nichts mehr gewußthatte, kindlich gläubige, ganz naive Empfindungen durch-wogten sie: alles, was die Jahre und das Leben in der Weltso mit sich gebracht hatten, fiel von ihr ab. Heute war siewieder jung wie die da vorm Altar, vertrauensselig, hoff-nungsfroh.Doktor Baumann machte die Einsegnung sehr mahnend'-ernst: viele der jungen Kinder schluchzten nicht minder alsihre Mütter. Ein Schauer wehte durch die gefüllte Kirche,tief senkten sich die jungen dunklen und blonden Köpfe. Kätesah nach Wolfgang hin: sein Kopf war der dunkelste vonallen. Aber er hielt ihn nicht gesenkt, sondern aus unstetenAugen irrte sein Blick durch die Kirche, bis hin zu jenemFenster: dort blieb er starr haften. Was suchte er da— amwas dachte er?! Sie glaubte zu bemerken, daß er nicht beider Sache war, und das schaffte ihr Unruhe. Näher zu ihremMann rückend, flüsterte sie:„Siehst Du ihn?"Er nickte und flüsterte zurück:„Freilich! Er ist große«als alle anderen!" Es lag etwas von Baterstolz ig SchliebenK