Hlnterhaltungsblatt des Horwärts Nr. 170. Dienstag, den 4. September. 1906 (Nachdruck verboieu.) Die Sandinger Gemeinde. Novelle von Henrik Pontoppidan . Autorisierte Uebersetzung aus dem Dänischen von Mathilde Mann . 1. Draußen vom Meeresstrand aus schob sich eine breite Wiese zwischen dürre, kahle Hügel ins Land hinein. Flach wie ein Wasserspiegel lag sie zwischen den Abhängen, hell- schimmernd mit ihrem saftigen Gras. Wenn der Wind im Sommer durch das Tal strich, führte er bis weit auf das Meer hinaus einen Duft von Heu und frisch gemähten Wiesen. Ein Stück landeinwärts auf dieser Wiesenstrecke lag ein Dorf mit großen, reichen Gehöften und fröhlichen, wohl- habenden Bauern. Das war Sandinge. Wie ein rotkämmiger Hahn zwischen seinen Hennen ragte die Kirche inmitten der Schar strohgedeckter Häuser auf und sandte jeden Morgen ihr Kikeriki durch die Schallöcher des Turmes über die Gegend hinaus. Zu beiden Seiten an den Hügeln aufwärts erstreckten sich die Aecker in breiten Feldern, die zur Zeit der Reife der Gegend ein buntes Gepräge verliehen. Wenn der Hafer noch grün war, strahlte der Roggen schon in seinem gelben Ge- wand, und die Gerste hatte einen rötlichen Schimmer, während das Brachfeld schwarz gepflügt dalag. Hier und dort, an steilen Stellen, war der Abhang mit struppigem, kriechendem Gesträuch bedeckt, in dem eine Heerschar von Singvögeln ihre Nester hatten. Wenn die Wind im Sommer durch das Tal hinabstrich, führte er außer dem Heuduft auch einen Chor von verliebten Vogeltönen aufs Meer hinaus, wo ihn freilich das Wogengebrause bald verschlang. Oben aus den Hügeln selbst sing die Heide an. Finster und leer und schweigend erstreckte sie sich bis an den Himmels- rand mit vielen kleinen, schwarzen Erderhöhungen. Eine stechende Sonne ging gerade in weiter Ferne in einem Dampf von Rot unter. Hie und da tummelte sich eine Schar magerer Schafe zwischen den Hügeln umher und warf riesenlange Schatten über das Heidekraut. Irgendwo weit draußen im Westen, von wo unaufhörlich schwere Wolken von Sand und Staub aufstiegen, die im Sonnenuntergang wie durch eine Feuersbrunst gefärbt er- schienen, war man damit beschäftigt, eine neue Eisenbahn durch die Hügel hindurchzuarbeiten, hinab in das Wiesental. Man war gerade dabei, eine tiefe Durchgrabung vor- zunehmen. Hunderte von krummrückigen Männern schoben pfeifende, knirschende Schubkarren auf einer doppelten Reihe von Laufbrettern entlang, die vorläufig die Bahnlinie be- zeichneten. Während die eine Hälfte der Männer die schweren Lasten vor sich herschoben, nach einem Moorloch hin, kam die andere Hälfte zurück, die leeren Karren hinter sich herziehend. In der Mitte des Weges begegneten sich die beiden Arbeiter- scharen mit programmäßiger Regelmäßigkeit wie die Eimer in einem Brunnen. Seit fünf Uhr des Morgens hatten diese lebenden Tret- Maschinen dort gestampft, die brennende Sonne im Nacken, — nur getröstet durch die Branntweinflasche und den Bier- krug und die zolldicken Schwarzbrotscheiben, die sie halb schlafend in den Ruhepausen verzehrt hatten. Die vierzehnte Stunde gingen sie jetzt dort, einander auf den Fersen folgend, auf derselben Linie hin und her. Die Holzschuhe klapperten aus den Brettern, die Räder kreischten: sonst aber hörte man keinen Laut. Niemand sprach. Niemand war imstande zu irgend einer unnötigen Kraftentfaltung. Alles war Schweigen und krummrückige Unterordnung. Und hoch oben in der Luft hing die Lerche und sang ihr altes Spottlied: wir spinnen nicht, wir ernten nicht.— Unten über der Wiese fing es schon an zu dunkeln. Rote Flammenzungen leckten über den westlichen Himmel hin, als die Sonne untergegangen war. An den Wiesengräben ent- lang fing es schon so leise an zu dampfen. Die Kühe da draußen hatten sich erhoben und sehnten sich, gemolken zn werden. Alle standen sie in derselben erwartungsvollen Stellung, den B.lick nach dem Dorf gerichtet, ein Brüllen im Halse bereit, für den Fall, daß sich da drinnen zwischen den großen, gelbgetünchten Gebäuden eine Gestalt zeigen sollte. Aber es zeigte sich noch immer nichts. Das Dorf schien wie ausgestorben. Eine Katze schlich sich an einer steinernen Un, zäunung entlang und blieb plötzlich stehen, um sich zu er- brechen. Sonst war nichts auf der Dorfstraße zu sehen. Und mich in den Häusern war es leer. Hier und da saß ein Mütterchen auf dem Winterplatz am Ofen und hechelte: oder ein alter Mann machte sich draußen im Holzschuppen zu schaffen. Sonst war niemand zu Hause, außer wo kleine Kinder zu warten oder Kranke zu Pflegen waren. Da ertönte plötzlich ein festlicher Gesang von vielen und starken Stimmen. In der stillen Abendstunde schallte er weit über die Wiesen hinaus, wo das Vieh sofort anfing, vor Un- geduld aus vollem Halse zu brüllen. Der Gesang kam aus einem größeren, einsam gelegenen Hause am Rande des Dorfes, vor dem eine hohe Flaggen- stange mit lustig flatternder Flagge stand. Es war die so- genannte„Volksfreischule", deren Schulstube der Gemeinde als Versammlungssaal diente. Alle Fenster nach der Dorf» straße hinaus waren geöffnet, und aus ihnen heraus hingen üppig gefornite Hinterteile von Männern und Burschen, die auf den Fensterbrettern Platz genommen hatten. Hier drinnen waren die Bewohner des Dorfes in diesem Augenblick zu finden. Alte und junge Männer und Frauen saßen zusammengestaut auf den Bänken in dem niedrigen Zimmer und schwitzten mit jener bewunderungswürdigen Energie, die das dänische Volk an den Tag legen kann, wo es sich darum handelt, sich empfänglich zu verhalten. Un- gefähr drei Stunden hatten sie dort mit offenen Mündern und Ohren gesessen. Aber es war auch eine ungewöhnlich wichtige Sache, die sie diesmal versammelt hatte: und es war wirklich verzeihlich, wenn Pastor Momme, der als Wortführer fungierte, seinen einleitenden Vortrag nicht kürzer hatte ab- fassen können. Aber jetzt fand auch ein kleiner Aufbruch von Leuten statk, die notwendigerweise fort mußten, um das Melken zu be» sorgen, oder die zu Hause andere unaufschiebbare Arbeiten zu verrichten hatten. Sie taten es ungern, und mehrere von ihnen blieben in der Tür stehen, um doch wenigstens noch den ersten Vers des angefangenen Gesanges mitzusingen. Und doch hatten sie durchaus keinen Grund zu der Befürchtung, daß die Versammlung vor ihrer Rückkehr aufgehoben sein könne. Es lag nicht die geringste Veranlassung vor, zu glauben, daß nicht noch verschiedene aus der Versammlung das Bedürfnis empfinden würden, sich mit großer Gründlich- keit auszusprechen. Man war hier gar nicht gewöhnt, irgend etwas, geschweige denn eine so ernste Sache zu erörtern, ohne eine allseitige Beleuchtung folgen zu lassen. Außerdem war gleich bei Eröffnung der Versammlung verkündet, daß hinter- her, wenn die Verhandlungen für diesen Abend abgeschlossen waren, ein Spiel und Tanz für die Jugend folgen solle. Oben auf dem Katheder, der als Rednerbühne diente, stand der alte Pastor Momme noch immer und leitete den Gesang. Er war ein kleiner, untersetzter Mann ohne Bart, aber mit einem kräftigen Haarwuchs, der ihm in Engellocken über die Schultern fiel. Die Hände mit dem Gesangbuch hielt er auf dem Rücken und wiegte sich auf den Absätzen, während er sang. Die Augen waren hinter der Stahlbrille geschlossen, die immer ziemlich weit vorne auf der Nase saß und über deren Rand er so schelmisch und argwöhnisch zu den Leuten hinüberzugucken pflegte, mit denen er sprach, wobei er sie auf den Arm oder den Bauch klopfte. Neben dem Katheder saß der Freischullehrer, Hans Povelsen, der in bezug auf das Aeußere einen vollständigen Gegensatz zu dem Pfarrer bildete. Er war groß und starkknochig, namentlich das letztere, und hatte einen Bart so lang und so breit, wie nur ein Prophet in dem alten Judenland. Eine besondere Aufmerksamkeit erregte eine städtisch ge- kleidete Dame, die einen Ehre.iplatz in einem Korbstuhl an der anderen Seite des Katheders einnahm. Es war die be- kannte Frau Lene Gylling aus Kopenhagen , eine wohlhabende Witwe, die sich zu der Beschiitzerin der volkstümlichen Er- leuchtungsbestrebungen aufgeschwungen hatte. Ueberall wo ein Versammlungssaal gebaut oder eine Freischule errichtet werden sollte� nahm man Zuflucht zu ihrer Hülfe: und auch
Ausgabe
23 (4.9.1906) 170
Einzelbild herunterladen
verfügbare Breiten