Wnterhaltungsblatt des'Vorwärts Nr. 187. Donnerstag� den 27. September. 1906 (Nachdruck verboten.) ts] Die Sandinger Gemeinde. Novelle von Henrik Pontoppidan . Autorisierte Uebersetzung auZ dem Dänischen von Mathilde Mann . Boel saß zusammengekauert auf dem Bettrande, mit schlaff herabhängenden Armen und geschlossenen Augen. Madam Jakobscn war gerade herausgegangen, nach- dem sie sie an Olinens Stelle als Kellnerin gedungen hatte. Boel hatte nicht nein sagen können. Sie war so müde und schlaff. Alles war ihr gleichgiiltig. Sie wünschte nur, sie hätte ihren Vorsah, zu sterben, ausgeführt. Sie blieb sitzen, ohne sich zu regen. Aus dem Zimmer nebenan, wo ganz vor kurzem jemand hineingeführt war, hörte sie Flüstern und Kichern. Vom Gang her erschollen hin und wieder schleichende Schritte, die regelmäßig einen Augenblick vor ihrer Tür Halt machten. Und während alledem umwogte sie wieder Hcuduft, und sie sah die tauscndblumige Wiese daheim und hörte vor ihrem Ohr den fröhlichen Gesang der vielen, heiteren Stimmen: Klein GotteZkind, was ficht dich cm? Wo doch dein Vater alles kann, Er ist so gut, er ist so reich. Kommt nichts doch seiner Allmacht gleich? O, Gott sei Tank!" Es wurde leise an ihre Tür gepocht. Die kleine ein- geschrumpelte Frau steckte den Kopf herein. Entschuldigen Sie," flüsterte sie.Darf ich mir die Frage erlauben erwarten Sie einen Herrn?" Ich nein'." Ja, denn da unten auf der Treppe steht ein Herr. Ich glaube, er möchte gern mit Ihnen sprechen." Mit mir?" rief Boel treuherzig aus. Es ist solch netter Herr. Mit einem blonden Schnurr- bart." Knud! durchzuckte es Boel wie ein Blitz vom Himmel. Konnte es möglich sein! Sollte er sie ausfindig gemacht haben--! Ist er hier?" rief sie aus. Nun will ich ihn rufenVit! Pst!" rief die Alte und zog sich darauf zartfühlend zurück. Auf der Treppe und dem Gang wurden schwere Schritte hörbar, die Tür wurde ganz zurückgeschlagen und herein trat ein blonder, vom Bier aufgeschwemmter Schlachtergesell, den Hut im Nacken, die Zigarre im Mundwinkel. Tag. kleine Zuckerpuppe! Ne. was für ein liebes kleines Siißmilchkalb!" Boel taumelte zurück. Nahrung und Kleidung, Heim und Haus, » Macht sich sein Kind wohl Sorge draus? Halt nur zu ihm, der droben thront. Ein Kind wohnt, wo der Vater wohnt» O, Gott sei Tank!" 16. Einige Tage später gab Frau Gylling eine Abcndgesell- schaft, ein kleiner, auserlesener Kreis, so verschieden von den großen volkstümlichen Versammlungen, die zu anderen Zeiten ihre Zimmer füllten, daß man glauben konnte, man befände sich in einem ganz anderen Hause. _ Ta war die schöne Frau Bang in einer rosa seidenen Bstise. die entzückend zu dem strahlenden braunen Augenpaar stand. Da war eine ältere, fchlagslüssig aussehende Dame in schwarzem Moires mit langer Schleppe, über die ihr Gatte ein älterer, stocksteifer Herr mit einem hölzernen Gesicht- auf ein Paar lauge«, grauen Zirkelbeinen hinwegbalanzierte. Da war der berühmte Kandidat Boserup irr langem, schwarzem Tuchrock und mit einer wolkenumhüllten Tenkcrstirne. Und da war eine junge, lebenslustige Dame in den Vierzigern, mit frischen Rosen im Haar. Für mehrere von diesen Gästen war es eine große Ent tmischung, daß Boel, von deren fremdartiger Schönheit sie so viel gehört hatten, nicht mehr dort im Hause war, sie habe sich so drückte Frau Gylling sich verblümt ausdes ihr erzeigten Vertrauens nicht würdig erwiesen." Namentlich die junge Dame mit den Rosen, die, wie sie sich ausdrückte, bis zur Raserei für alles schwärmte, was ländlich und patür- lich war, erging sich in tiefem Bedauern. Bald aber hatte man an etwas anderem zu denken. Die Tür zum Vorplatz wurde aufgerissen, und herein trat der Geheime Etatsrat Drehling, seine Tochter am Arm. Das war eine große Ucberraschung für alle Anwesenden, mit Ausnahme der Hausbewohner. Der Geheime Etatsrat war allerdings schon früher Frau Gyllings Gast gewesen, aber nur bei besonders feierlichen Gelegenheiten. Auch glaubte man zu wissen, daß in letzter Zeit eine kleine Entfremdung zwischen ihnen eingetreten sei, auf Gnind von Knuds öffcnt- lichem Auftreten. Ta war nun auch etwas in dem Eintreten des Geheimen Etatsrats, was darauf hindeutete, daß er seinem Erscheinen bei dieser Gelegenheit eine mehr als ge- wohnliche Bedeutung beilegte. So durchzuckte denn alle der Gedanke, daß hier eine Verlobung im Gange sein müsse, und die neuigkeitslüsternen Blicke der Damen scharten sich um Knud, der sich ein wenig verlegen erhoben hatte, um die Herrschaften zu empfangen. Der Geheime Etatsrat Drehling war ein kleines, glatt» rasiertes Männchen mit einem puderweißen Kopf und einem imponierend breiten und bunten Band im Knopfloch. Trotz» dem war?s deutlich zu merken, daß er eine Ehre darein setzte, ganz und gar nicht vornehm zu erscheinen. Er ging umher und gab ii dcm in der Gefellschaft die Hand, so liebenswürdig ungeniert und natürlich, als sei er noch ein ganz gewöhnlicher Etatsrat. Er eroberte denn auch im Sturm alle Herzen. Seine Tcckter dahingegen sie trug eine heraus- fordernde Samttoilette aus metbrauner Farbe, stramm wie ein Trikot«nd mit Hnsa renschnüren über der Brust er­regt? trotz ihrer unbestrittenen Schönheit keine Bewunderung. Sic sah nun auch wirklich nicht aus, als erwarte sie, daß sie sich in dieser Gesellschaft amüsieren würde: selbst wenn sie Knud ansah, lag eine verzweifelte Hoffnungslosigkeit in ihrem verliebten Blick. Die junge Dame hatte überhaupt nicht viele Freunde, und man war nicht weit davon entfernt, zu finden, daß Knud viel zu gut sei für diesen raffinierten Starrkopf mit der schonungslosen Zunge. Es wurde bald sehr lebhaft im Zimmer. Wie überall in der Frühlingszeit sprach man hauptsächlich über die Ge- mäldeaüsstellung. Unter den Damen, die sich beinahe entheiligend mit ihrem Seidcnstaat und Gesellschaftsklatsch unter Grundtvigs Bild angebracht hatten, ward ein viel be- wundertes Bild:Ein junges Mädchen, das niest", Motiv aus Laaland , sehr laut beredet. Da man sich nicht einigen konnte, bat man schließlich Kandidat Boserup um sein Urteil, worauf dieser Mann, der als Autorität auf allen möglichen Gebieten galt,. die sokvatische Stirn runzelte und einen Vor­trag hielt, der so gelehrt und so mit Zitaten gespickt und so vollsrändig unverständlich war, daß sie sich sämtlich befriedigt fühlten. Zwischen diesem ganzen Gewimmel schlich ein junger Mensch hemm, der sich auf eine sonderbare Weise von der übrigen Gesellschaft abhob. Er war vierschrötig und ein wenig hochschultrig, trug einen kurzen, rrindschößigen Rock von ganz veraltetem Schnitt und enge Manschetten, die das Blut in die großen Hände preßten. Die eine davon die wie ein großer, roter Schinken aussah, umfaßte das aus roten Bart- stoppeln bestehende Gestrüpp seines Kinns: die andere weilte unablässig aus seinem breiten Hintern. Tie kleinen Augen, die wie Fett glänzten, waren lebhast überall zugegen, während um die dicken, halbgeöffneten Lippen ein stillstehendes, ehr- erbietiges Lächeln lag. das eine jede seiner Bewegungen mit einem stummenBitte um Verzeihung" zu begleiten schien. Ties war der vortreffliche Jensen-Tamgaard ein Name, den man in diesem Zimmer häufig in einer Tiskussion angeführt hören konnte, wenn es sich darum handelte, mit einem schlagenden Beweis für die Bedeutung der volkstüm- lichen Erleuchtung ins Feld zu rücken. Er war ein armev Häuslersohn.(Einige behaupteten sogar, und zwar mit zart- licher Begeisterung in der Stimme, daß er Schweine gehütet habe.) Ivan Gylling hatte ihn irgendwo in Nordseeland ent-