Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 190.

1]

Der Sumpf.

Dienstag, den 2. Oftober.

( Nachdruck verboten.)

Roman von Upton Sinclair . Autorisierte Uebersetzung. I.

-

Vier Uhr, die Feierlichkeit war vorüber, die Wagen fuhren auf. Der rastlose Eifer Marija Berczynskas hatte den Wagen große Menschenmengen nachgelockt. Die ganze Feier ruhte schwer auf Marijas breiten Schultern ihre Arbeit war's, danach zu sehen, daß alles in gehöriger Form und nach den heimatlichen Traditionen vor sich ging. Wild flog sie hin und her, stieß jeden aus dem Wege, schalt und ermahnte den ganzen Tag mit ihrer gewaltigen Stimme, und war viel zu eifrig, um darauf zu achten, was die anderen taten. Sie hatte die Kirche als letzte verlassen, und da sie die erste im Gasthaus sein wollte, wo das nachfolgende Hoch­zeitsfest vorbereitet ward, befahl sie dem Kutscher schneller zu fahren. Als dieser aber seinen eigenen Kopf durchsetzen wollte, riß Marija das Fenster des Wagens auf und begann, ihm ihre Meinung zu sagen. Zuerst in litauisch, dann, als er das nicht verstand, in polnisch, das ihm bekannt war. Da er auf seinem Bocke in Sicherheit thronte, wagte er zu trogen und brachte allerlei Widerreden hervor. Die Folge davon war ein wütender Wortwechsel, welcher den ganzen Weg bis Ashland Avenue andauerte und den Schwarm der Gassen­jugend, der den Wagen auf beiden Seiten begleitete, während der letzten Strecke des Weges um das Doppelte anschwellen ließ. Dies war unangenehm, denn vor der Tür drängte sich schon die Menge. Die Musik hatte bereits begonnen, und bon weitem fonnte man das dumpfe Brum- Brum eines Cellos| und das Gequiefe zweier Geigen hören, welche miteinander in schwierigen und halsbrecherischen Kunststücken wetteiferten. Als Marija die Menge erblickte, gab sie eilig die Debatte mit dem Kutscher auf, sprang von dem weiterfahrenden Wagen und versuchte, den Weg zum Gasthause frei zu machen. Eik! Eik! Uzdaryk- duris!" schrie sie dabei in Tönen, gegen die der Orchesterlärm wie Sphärenmusik klang.

1906

beiden waren eines jener ungleichen Ehepaare, durch die Mutter Natur so oft das Sprichwort: Gleich und gleich gesellt sich gern", Lügen straft. Jurgis konnte zweihundert und fünfzig Pfund Fleisch heben und ohne große Anstrengung auf den Wagen werfen, und jetzt stand er in einer versteckten Ecke, angstvoll wie ein gehettes Wild und mußte jedesmal seine Lippen mit der Zunge befeuchten, ehe er die Glück­wünsche seiner Freunde beantworten konnte.

Allmählich fand eine notdürftige Trennung der Gäste von den Zuschauern statt. Troßdem drängten sich während der folgenden Festlichkeiten immerfort Gruppen von Zu schauern an den Türen und in den Ecken herum. Und wenn einer von diesen Zuschauern genügend nahe kam, oder ge­nügend hungrig aussah, wurde ihm ein Stuhl angeboten, und er war eingeladen, das Fest mitzumachen. Es war eines der Gesetze der veselija"( Sochzeitsfeier), daß niemand hungrig fortgehen durfte. Allerdings ließ sich eine in den litauischen Wäldern entstandene Sitte im Schlachthofviertel der Millionenstadt Chicago schwer aufrecht erhalten. Aber sie taten ihr Bestes.

Die Kinder, welche von der Straße hereingelaufen famen, erhielten ihr Anteil, und selbst die Hunde gingen nicht leer aus. Reizvolle Formlosigkeit war eines der charakteristischen Merkmale dieser Feierlichkeit. Die Männer behielten ihre Hüte auf, oder legten sie ab, und die Röcke dazu, wie es ihnen gefiel. Sie aßen, was und wo es ihnen beliebte und gingen umber, wenn sie Lust hatten. Es wurde geredet und gesungen, wer aber feine Neigung hatte, brauchte nicht zuzuhören. Wer selbst zu reden oder zu singen ver­langte, wurde durch niemand daran gehindert. Der daraus folgende Mischmasch der Töne störte feinen, höchstens die fleinen Kinder, von welchen eine große Anzahl anwesend war. Ein besonderer Raum für die Kinder war nicht vor­handen, und so bestand ein gewichtiger Teil der Vorbereitung für den Abend darin, daß die geladenen Gäste ihre Wiegen und Kinderwagen in einer Ecke des Zimmers aufstellten. Dort schliefen die Babys, zu dreien und vieren zusammen gepackt, oder wachten zusammen, wie es gerade kam. Die älteren Kinder, die schon an die Tische reichen konnten, liefen umber, behaglich an Fleischknochen und Würsten knabbernd. Das Zimmer hatte ungefähr dreißig Fuß im Quadrat, die -Wände waren weißgetüncht und fahl bis auf einen Kalender, sich das Bild eines Rennpferdes und einen Stammbaum in goldenem Rahmen. Zur Rechten führt eine Tür zum Bar­Bimmer und in der Ecke daneben steht ein Schanktisch, hinter dem ein dienstbarer Geist in unsauberem weißen Kittel thront, mit gewichstem schwarzen Schinurrbart und einer sorgfältig geölten Locke, die auf einer Seite festgefleistert ist. An der entgegengesetten Ede sind zwei Tafeln, welche ein Drittel des Zimmers füllen und beladen mit Schüsseln und falten Speisen sind, von denen einige allzu hungrige Gäste schon aßen. Oben am Tische, dort wo die Braut sitt, steht ein schneeweißer Kuchen mit einem Eiffelturm von Dekorationen, gefrönt von zwei Engeln und Zuckerrosen und einem üppigen Gemengsel von roten, grünen und gelben Früchten. Da­hinter führt eine Tür zur Küche, worin ein Feuerroit zu sehen ist, aus dem viel Qualm emporsteigt, und um den viele alte und junge Frauen herum rennen. In der Ede zur Linken siten die drei Musikanten auf einem Bodium und arbeiten fich wacker ab, um wenigstens etwas durch den Lärm durch­zudringen. Denselben Versuch machen die schreienden Babys. Vor dem offenen Fenster stehen die Baungäste und nehmen mit offenem Mund und mit Aug und Ohr von weitem an den Genüssen teil.

Z. Graiczunes Sasihuksminimams darzas. Vynas Sznapsas. Wines and Liquors. Union Headquarters", war auf dem Schilde des Wirtshauses zu lesen, zu dem alle drängten.

Dem Leser, der vielleicht wenig Umgang mit der Litauischen Sprache gehabt, wird es willkommen sein zu hören, daß der Schauplatz des Festes das Hinterzimmer eines großen Wirtshauses in jenem Teile Chicagos war, der be­fannt ist unter dem Beinamen Hinter den Schlachthöfen". Diese Benennung entsprach den tatsächlichen Verhältnissen; aber wie jämmerlich unangemessen erschien sie heute, wo es sich um die Stunde höchsten Entzüdens für eins von Gottes sanftesten Geschöpfen handelte, um das Hochzeitsfest und die Freudenfeier der fleinen Ona Lukoszaite!

Sie stand im Torwege, beschützt von ihrer Cousine Marija, atemlos von dem Drängen der Menge, in ihrem Glück fast schmerzvoll anzusehen.

In ihrem Auge glänzte ein großes Staunen, ihre Lider zitterten, und ihr sonst blasses Gefichtchen glühte. Sie trug ein Kleid von duftigem weißen Muslin, ein fleiner gestärkter Schleier fiel auf ihre Schultern. Fünf blaßrote Papierrosen mit elf grünen Rosenblättern waren in den Schleier gesteckt. Neue weiße Baumwollhandschuhe bedeckten ihre Hände, die fie fieberhaft ineinander schlang, während sie dastand und umherſtarrte. Die Sache ging über ihre Kräfte, man merkte die Pein allzu großer Erregung auf ihrem Gesicht, an dem Beben ihrer Gestalt. Sie war noch so jung noch nicht sechzehn und flein für ihr Alter das reine Kind. Und jest verheiratet verheiratet mit Jurgis ausgerechnet von allen Menschen mit Jurgis Rudfus mit ihm, der da stand mit einer weißen Blume im Knopfloch seines neuen schwarzen Gehrockes, kurz- dort der Mann mit den ge­waltigen Händen und machtvollen Schultern.

-

Ona war blond und blauäugig, während Jurgis große schwarze Augen, starke überhängende Brauen und dickes schwarzes Haar hatte, das lodig um seine Ohren fiel- die

-

Plöglich nähert sich von der Küche her eine brodelnde Wolfe, hinter der bald Tante Elisabeth sichtbar wird, Onas Stiefmutter Teta Elzbieta wird sie genannt. Sie trägt eine große Platte mit geschmorten Enten. Hinter ihr fomnit Kotrina. Sehr vorsichtig gehend, schwankt sie förmlich unter ähnlicher Last. Und eine halbe Minute später erscheint die alte Großmutter Majauszfieve mit einer Riesenschüssel voll dampfender Kartoffeln, beinahe so groß wie sie selbst.

Das Fest nimmt jetzt eine ruhigere Form an. Da ist ein Schinken und eine Schüssel mit Sauerkraut, gekochter Reis, Maccaroni, Bologner Würstchen, große Haufen von Pfennigkuchen, Schalen voll Milch und schäumende Krüge mit