einem anderen Gesichtswinkel zu betrachten haben. Wir werden durch seine Lektüre erschüttert werden aber auch erhoben. Ohne in Pharisäertum zu verfallen, werden wir uns mit Stolz sagen dürfen, daß der deutsche Arbeiter, verglichen mit seinem amerikani- schen Kameraden, in Verhältnisjen lebt, die fast glänzende zu nennen sind.... Nehmen wir als Hintergrund die lebenswahren Schilderungen des amerikanischen Menschenfreundes, so dürfen wir uns boller Stolz sagen, datz sich das Leben der deutschen Ar- beiter von ihm in geradezu glänzender Weise abhebt. Und wäre es der boreingenommenste Fanatiker, wenn er nur auf den Bahnen der Wahrheit bleiben will, so kann er von Deutschlands Arbeitern und ihrem Leben, von Deutschlands Kapitalmacht niemals ein Bild entwerfen, das dem, was Upton Sinclair entwirft, auch nur annähernd gleichkäme. Ein Paradies gibt es nirgendwo auf Erden, aber der deutsche Arbeiter lebt nicht in einer Hölle, in der der amerikanische Arbeiter nach Upton Sinclairs Schilderung sein Leben hinzubringen hat. In Amerika dem Lande der Freiheit!" In dieser Form ist das ein großer Irrtum. Unsere Leser werden gewiß nicht auf den Gedanken kommen, daß der deutsche Arbeiter inglänzenden" Verhältnissen lebt, aber sie dürfen sich auch nicht zu einem Vorurteil gegen den amerikanischen Ar- beiter verleiten lassen. Wer den Stand der Dinge hüben und drüben kennen gelernt hat, der weiß, daß die Lebenshaltung des amerikanischen Arbeiters the Standard of life viel höher ist als die des deutschen Arbeiters. Der Amerikaner nährt und kleidet sich durchschnittlich besser und kann für seine Familie viel reich- licher sorgen'als der Deutsche. Die amerikanischen Arbeitslöhne sind die höchsten in der Welt, absolut nach dem Geldwert der Münzen und relativ im Verhältnis zu den Warenpreisen und Wohnungsmieten, wenn auch diese Preise höher sind als in Deutschland . Trotzdem ist der Irrtum, in dem Dr. Ritter befangen ist und in den mit ihm wohl mancher deutsche Leser nach der Lektüre über das Arbeiterelend in Packingtown verfallen mag, begreiflich, auch dann, wenn diese Leser das deutsche Arbeiterelend wirklich kennen und eine Ahnung haben von dem brutalen Druck, denDeutschlands Kapitalmacht" auf Deutschlands Arbeiterschaft rücksichtslos ausübt. Der Irrtum ist zu verstehen, weil imLande der unbegrenzten Möglichkeiten" alles ins Riesengroße wächst und man die gesamten Verhältnisse kennen mutz, um von einer einzelnen Erscheinung sich nicht erdrücken zu lassen und ein vollständig falsches Bild zu gewinnen. Sinclair schildert uns die Schicksale einer armen Ein- Wanderer familie, die von Litauen aus nach Amerika geht. Sie kommen mit einem Herzen voll Vertrauen in das gelobte Land Amerika , und hier erfahren sie eine bittere Enttäuschung nach der anderen. Es sind gerade die ausländischen Arbeiter, die Böhmen , Galizier, Ungarn , Polen , Litauer, Slowaken, Rumänen und so weiter, die dem amerikanischen Kapitalismus ohne jeden Widerstand zum Opfer fallen, die der amerikanische Ausbeuter am leichtesten auspressen kann. Solche Arbeiter werden in Massen nach Packingtown geschickt und dort in den Schlachthäusern ähnlich wie Rind und Schwein behandelt, d. h. sie werden auf- gebraucht unheimlich schnell oft. Es sind bedauernswerte Geschöpfe, diese armen, unwissenden, mit jedem, auch dem gc- ringsten Lohn zufriedenen Leute, stets bereit zur Dicnstwilligkeit, sobald nur die Herren winken, bereit zur Streikarbeit, bereit, 1 e d e s Verlangen zu erfüllen. Man kann die tiefe Verachtung, den bitteren Haß der Amerikaner gegen diese Fremden Wohl ver- stehen, die jedem Druck nachgeben und in ihrer Unkenntnis der Sprache, der Sitten und Verhältnisse im fremden Lande ein will- kommencs Arbcitermaterial für das von den einheimischen GeWerk- schaften bekämpfte Unternehmertum abgeben. Ueberall lauert ein Verhängnis auf die unglücklichen Leute; sie stecken in einem Sumpf, aus dem sie sich nicht erreten können. Für die Amerikaner bedeuten diese Leute eine Last, eine Kon- kurrenz, die ihnen viel zu schaffen macht. Welche Mühe haben die Gewerkschaften, die Eingewanderten zu organisieren, um sie erst ein wenig widerstandsfähig zu machen, sie, die oft nicht die geringste Ahnung haben von dem Wesen der Gewerkschaften wie I u rg i S. der Held des Romans. Doch sind die Gewerkschaften nicht überall so hülflos gegenüber der Trustmacht, wie gerade in Packingtown, und ihre Erfolge in anderen Berufen, an anderen Orten denn doch erfreulichere. In einen zweiten Irrtum können die Leser verfallen, wenn sie die Kapitel über amerikanische Politik lesen. In dem schon erwähnten Geleitwort zur deutschen Ausgabe heißt es darüber: Auf faulendem Boden leben die Arbeiter im Lande der Freihei..... Ueberall Korruption und Cliquenwesen im Lande der Freiheit, im Lande der Verheißung. Die politischen Wahlen bedeuten eine elende Mache, die Richter sind bestochene Schurken, die Polizisten die �Helfershelfer der Verbrecher. Die Laster haben einen Aufschwung inS Ungeheuerliche genommen; Wohlhabenheit gibt eS nicht, es gibt nur Reichtum und Armut. Tausend prassen und Millionen darben. Und vom Elend dieser Darbenden singt und sag: Upton Sinclair , und wer sich seiner Stimme verschließen kann, der muß ein Mensch mit einem geldverhärteten Herzen sein." Schon recht, aber wenn der Hohn auf daZLand der Ver- heißung" bedeuten soll, daß die deutschen Zustände den Borzug vor den amerikanischen verdienen, so fordert diese Ansicht den Wider- spruch derjenigen heraus, die Kenner der wirklich«!» Verhältnisse in den Vereinigten Staaten sind. Sinclairs Schilderungen von den Ausartungen im politischen Leben unter dem korrumpierenden Einfluß des amerikanischen Kapitalismus sind wahr und lebendig, aber man frage ihn oder einen deutsch -amerikanischcn Sozia- listen, der die Verhältnisse beider Länder kennt, rb erdeutsche Ordnung" und deutsches Regiment gegenamerikanische Schand- und Lotterwirtschaft" eintauschen möchte,-einen Augenblick würde er sich besinnen, würde zurückschrecken und mit einem ent- schiedenenNein" antworten. Und für diesesNein" gibt es schwerwiegende Gründe, in die einzudringen hier zu weit führen würde. Die Wahrheit ist, daß man hüben wie drübenDreck am Stecken" hat, daß der Kapitalismus seinen in jeder Hinsicht korrumpierenden Charakter nirgend verleugnen kann und daß es in aller Welt nur eine Errettung gibt: den Sozialismus. Soweit Sinclair Bilder ersehnter Zeiten entwirft, mögen sie wie alle Zukunftsmalereienmit einem Körnchen Salz" (des Zweifels) genossen werden. Jedoch darf man dem Dichter und besonders dem, der wie Sinclair, uns eine solche Fülle realer Gegenwartsschilderung geboten gern die Freiheit ge- währen, seiner sehnsuchtsvollen Phantasie di Zügel schießen zu lassen. Die Zeit wird korrigieren, was er in Einzelheiten ver- sehen. Dankbar darf die sozialistische Leserwelt jedenfalls dem Autor folgen, der ihr hier ein« Dichtung bietet, so erfüllt von Leben, von der Not, den Schmerzen und Qualen der Gegenwart wie von ihrer Hoffnung, daß wir sie getrost anderen großen Werten der Literatur an die Seite stellen können. Arthur Baar , Kleines feuilleton* Henrik Ibsen war der von Maria H o l g e r s an» letzten Sonntag in Dräsels Festsälen veranstalteteXIII. voikStüm» liche Vortragsabend" geweiht. Es hatten sich zahlreiche Zuhörer hierzu eingefunden. Ihr Programm hatte die Vortragende vortrefflich zusammengestellt. Zunächst machte sie das Publikum mit einem Herzensroman bekannt, der. so zart, so still, wie er be- gönnen und verlaufen, uns in das Gemütsleben des sonst ivort- kargen verschlossenen Dichters schauen läßt. 1889 im Sommer war Henrik Ibsen in Gossensaß(Tirol) einer jungen Wiener Dame begegnet, deren feines Wesen auf ihn einen tiefen Eiirdruck gemacht haben muß. Von seinem damaligen Wohnort München aus hat er in der Folge mit Fräulein Emilie Bader dies der Name der damals ackitzchnjährigen Dame einen kurzen Briefwechsel gc- führt. Drei jener Dichterbriefe las Maria Holgers vor. Ihr knapper aber für Ibsens Seelenleben um so bedeutungsvollerer Inhalt läßt uns ahnen, daß im Herzen des damals sechzigjährigen Mannes ein holder Liebesfrühling aufgegangen war: ein wunder- bares Spä.sommerglück, das ihn froh und gütig stimmte und das ihm das schriftliche Bekenntnis entlockte: es sei für ihn eineNatur- Notwendigkeit", einFatum" gclvesen. Wie einst Goethe in ähn- licher Verfassung, wußte indessen auch Ibsen auf diesen späten Sonnenblick zu resignieren. 1399, im September, bi-tet er die Dame, vorläufig nichts mehr zu schreiben:Gewissenspflicht" hieß ihn schweigen. 1898, im März, sandte sie ihm zu seinem 79. Ge» burtstag, den Ibsen ja in Kristiania verlebte, einen herzlichen Glückwunsch. Der Dichter antwortete; mit innigem Gefühl ge- denkt er noch einmal jener Sommertage in Gossensatz, die ihm uir- vergeßlich bleiben würden... Seit vier Monaten ruht Ibsen im Grabe. Nun Hai der dänische Literaturhistoriker Georg Brandes jene zarten Briefe an die Wienerin herausgegeben. Man wird sich ja erinnern, daß die Familie des verewigten Poeten gegen diese Veröffentlichung protestiert hat. Allein, so gerechtfertigt der Ein- spruch auch sein mochte Jbjcn gehört der Welt, sie hat ein Recht auf ihn, mithin auch auf die intimsten Offenbarungen seines Ge- mütslcbens, das er, so lange er unter uns als Schaffender ge- wandelt, so peinlich verschlossen hielt. Wir dürfen der Brief» empfängerin und Brandes dankbar sein, daß sie unS dies schöne Vermächtnis zugänglich gcmgcht haben. Anschließend hieran las Maria Holgcrs IbsensNora". Die Künstlerin muß wohl eine vortreffliche Jnterpretin dieser eigentümlichen Frauengestalt auf der Bühne sein; sie ließ uns vollständig vergessen, daß sie bloß las: so plasdesch verlebendigte sie Nora! Die Charakterisierung der anderen Rol'cn gelang der Vortragenden weniger; vielleicht ließ die Rezitator in sie absichtlich zurück. rcten. Eingeleitet wurde der Rczitationsab'nd durch Edward Griegsche Kompositionen zu Jbsenschen Dr»men und Gedichten. Herr Richard Kursch trug zivci Sätze aus der Musik zuPeer Gynt "(Morgen- dämmerung" undAnitras Tanz") am Flügel vor. Man fühlt, daß das Klavier diese unsagbar reizvolle nordische Heimatsmusik nicht auszuschöpfen vermag, so willig auch die sauber ziselierte Wiedergabe durch Herrn Kursch anerkannt werden soll. Dieser be» gleitete auch einige Jbsen-Griegsche Lieder. Sie wurden an Stelle des unpäßlichen Herrn Eugen Brieger von Fräulein Schmitz. einer jungendliche» Kunstnovizin mit schönen Stimmitteln in höheren Lagen m* annehmbarem Vortrag gesungen. e. k.