Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 193.
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Der Sumpf.
Freitag, den 5. Oktober.
( Nachdruck verboten.)
Roman von Upton Sinclair . Autorisierte Uebersetzung. Das letzte Schluchzen des kleinen Sebastijonas war gestillt, und das Orchester hatte sich wieder seiner Pflicht erinnert. Die Zeremonie beginnt wieder, aber es treten nur wenige zum Tanze an, bald ist die Sammlung vorüber, und die Einzeltänze beginnen noch einmal. Es ist jetzt nach Mitter nacht , und die Dinge sind nicht mehr wie sie waren. Die Tänzer zeigen sich faul und schwerfällig, die meisten haben viel getrunken und den Zustand der Erheiterung überschritten; sie tanzen in monotoner Weise, Ronde nach Ronde, Stunde nach Stunde mit leeren Augen, halb unbewußt, in beständig wachsendem Stumpfsinn. Die Männer halten die Frauen sehr fest; aber nach einer halben Stunde wird keiner des anderen Gesicht mehr erkennen; einige Paare mögen nicht mehr tanzen und haben sich in die Ecken zurückgezogen. Andere, welche noch immer getrunken haben, wandern im Bimmer umher, wieder andere stehen in Gruppen beisammen und singen, jede Gruppe ihren besonderen Gesang.
Als die Zeit weiter fortschreitet, kommen verschiedene Arten der Trunkenheit zu Tage, besonders unter der jungen Welt. Einige taumeln am Arme eines anderen einher und flüstern häßliche Worte. Andere brechen bei der gringsten Ursache einen Streit vom Zaune, wollen sich prügeln und müssen davon zurückgehalten werden. Der dicke Polizist wacht endgültig auf und denkt, daß es Zeit ist sein Amt auszuüben. Er muß auf dem Posten sein, denn diese Zwei- Uhr Morgenschlachten sind, wenn sie Dir einmal aus der Hand gehen, wie ein Waldfeuer, welches die ganze Reserve der Polizeistation nötig macht. Die Hauptsache ist, jede beginnende Schlacht im Keim zu ersticken. Hinter den Höfen" wird nur mäßig über zerbrochene Köpfe Bericht erstattet, weil die Menschen dort gewöhnt sind, alle Tage Tierföpfe zu zerbrechen. Deshalb dehnen sie diese Gewohnheit oft auf die Köpfe ihrer Freunde, ja ihrer Familie aus. Man kann sich nur gratulieren, daß unsere modernen Staatseinrichtungen es mur wenigen Männern gestatten, das Köpfezerbrechen für die ganze kultivierte Welt zu besorgen.
In dieser Nacht kommt es zu feiner Schlacht, vielleicht, weil Jurgis noch wachsamer ist als der Polizist. Jurgis hat biel getrunken, wie jeder Mann das tun würde bei einer Gelegenheit, wo alles bezahlt werden muß, was getrunken und was nicht getrunken ist. Jurgis ist ein standfester Mann und verliert die Ruhe nicht leicht. Nur einmal fommt es zu einer Reiberei und daran ist Marija schuld. Marija hat offenbar schon seit zwei Stunden die Ueberzeugung gewonnen, daß der Altar in der Ecke mit der zweifelhaft sauberen GottHeit dahinter den erreichbarsten Ersatz für die Heimat der Musen darstellt, wenn auch nicht die Heimat selbst. Und Marija erstreitet sich gerade einen Trunk, als ihr die Geschichte von dem nichtzahlenden Schurken zu Ohren kommt. Marija geht den geraden Weg, sie hält sich nicht mit Vorreden auf, und als man sie fortziehen will, hält sie die Rockfragen von zwei Schurken in den Händen. Glücklicherweise ist der Polizist vernünftig und Marija wird nicht hinaus geworfen.
All das unterbricht die Musik nur für ein oder zwei Minuten. Dann fängt die erbarmungslose Melodie von Neuem an, die Melodie, die seit einer halben Stunde ohne jegliche Abwechselung gespielt wird. Es ist jetzt eine amerifanische Melodie, die sie auf der Straße fennen gelernt haben. Jedermann kennt die Worte dazu, wenigstens die erste Zeile, welche sie immer und immer wiederholen:
In der guten alten Sommerzeit In der guten alten Sommerzeit In der guten alten Sommerzeit usw.
Es liegt ein hypnotischer Reiz in diesen immer wiederfehrenden Worten. Es kommt etwas wie Stumpfsinn über die welche singen, und über die, welche spielen. Steiner fann sich davon freimachen, oder denkt auch mur daran, sich frei zu machen. Es ist jetzt 3 Uhr morgens; die Tanzfreude ist ver
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flogen und auch die Kraft läßt nach; auch die Kraft, welche das unbeschränkte Trinken ihnen verliehen. Und doch ist keiner da, der die Kraft hat an Aufhören zu denken. Pünktlich um 7 Uhr müssen sie bei Durhams oder Browns oder Jones sein, alle im Arbeitszeuge. Stommt einer eine Minute zu spät, so kann er sich unter die hungernde Menge mischen, welche jeden Morgen an den Pforten der Packhäuser von 6 bis beinahe 28 Uhr wartet. Es gibt keine Ausnahmen von der Regel, nicht einmal für die kleine Ona, die um einen freien Tag nach der Hochzeit gebeten, aber auch zurückgewiesen worden war. Da es derer so viele gibt, die gern arbeiten, ganz nach den Befehlen der Herren, wäre es doch Unsinn, sich mit denen behelfen zu wollen, die nicht strikte gehorchen.
Die junge Frau ist einer Ohnmacht nahe und von der schweren Luft im Zimmer wie betäubt. Sie hat keinen Tropfen getrunken, aber jeder der anderen brennt geradezu vom Alkohol, wie die Lampen vom Del. Einige sind auf ihren Stühlen eingeschlafen und verbreiten einen Dunst, daß man sich ihnen nicht nähern mag. Manchmal starrt Jurgis Ona verlangend an, längst hat er die Scheuheit abgelegt. Aber die gaffende Menge ist da, und er bewacht die Tür, wo der Wagen vorfahren soll. Der Wagen kommt nicht; endlich will Jurgis nicht länger warten und tritt zu Ona, welche erbleicht und zittert. Er legt ein Tuch um sie und dann seinen eigenen Mantel. Sie wohnen nur zwei Straßen weiter und brauchen feinen Wagen. Ein Abschiednehmen gibts nicht. Die Tänzer beachten sie nicht, und die Kinder und alten Leute sind aus reiner Erschöpfung eingeschlafen. Ohne ein Wort zu sagen, nimmt Jurgis Ona auf die Arme und schreitet hinaus. Seufzend läßt sie ihren Kopf auf seine Schulter sinken. Als er heimkommt, weiß er noch nicht, ob sie schläft oder ohnmächtig ist, aber als er die Tür aufschließt, öffnet sie die Augen. ,, Du sollst heute nicht zu Browns gehen, Kleine!" flüstert er, als er die Treppe hinaufsteigt; sie aber greift erschreckt nach seinem Arm.
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,, Nein, nein!" stammelt sie.„ Das wage ich nicht. Es wäre unser Verderben!" Aber wieder antwortet er:„ Das überlaß mir; ich will mehr Geld verdienen, ich werde härter arbeiten." 2.
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Jurgis redete leicht über Arbeit, denn er war jung. Sie erzählten ihm Geschichten, wie Menschen in den Arbeitshäusern zusammengebrochen waren und was nachher aus ihnen geworden Geschichten, bei denen man ein Grauen bekam, Jurgis lachte darüber. Er war erst vier Monate da und jung und ein Riese. Seine Gesundheit war fast zit mächtig. Er konnte sich das Gefühl eines Zusammenbruchs nicht einmal vorstellen. Das ist etwas für einen Mann wie Du," pflegte er zu sagen ,,, silpnas, jämmerliche Burschen mein Rücken ist breit."
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Jurgis war wie ein Kind, ein Kind vom Lande. Einer von den Menschen, welche Arbeitgeber gern festhalten und ungern ziehen lassen. Wenn ihm befohlen ward, nach einer bestimmten Stelle zu gehen, so rannte er; hatte er einen Augenblick nichts zu tun, sprang und tanzte er förmlich im Uebermaß seiner Kraft umher. Er arbeitete in einer Reihe von Arbeitern; die Reihe ging ihm immer zu langsam vorwärts, und man erkannte ihn an seiner Ungeduld und Ruhelosigkeit. Deswegen wurde er bei mancher wichtigen Gelegen heit ausgewählt. Am zweiten Tage seiner Ankunft in Chicago hatte er nur eine halbe Stunde vor Brown u. Comp.'s Sentralzeitstation gestanden, bis er von einem der Arbeitgeber hereingerufen ward. Er war stolz darauf und lachte deshalb die Pessimisten aus. Vergebens erzählten sie ihm, daß in der Menge, aus der er gewählt war, Männer standen, die einen Monat gewartet hatten, ja mehrere Monate und nicht gewählt waren.
" Ja," sagte er darauf, aber was für Menschen sind das auch! Zusammengebrochene Nichtsnutze und Landstreicher, Burschen, die ihr Geld vertrunken haben und nur mehr Geld zum Schnapstrinken verdienen wollen. Es ist einfach ausgeschlossen, daß die Leute mich mit diesen Armen" er ballte seine Fäuste und hielt sie in die Luftverhungern lassen."