Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 197.

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Der Sumpf.

Donnerstag, den 11. Oktober.

( Nachdrud verboten.)

Roman von Upton Sinclair . Autorisierte Uebersetzung.

Alle diese Erläuterungen hörten unsere Freunde mit offenem Munde an, es erschien ihnen unmöglich, daß ein sterblicher Mann so Erstaunliches hätte leisten können. So fam es Jurgis fast vor wie eine Entweihung, daß Jokubas darüber so skeptisch sprach. Es war eine Anlage so mächtig wie das Universum. Die Geseze und Vorschriften der Arbeit durften so wenig getadelt und bemängelt werden wie die Ordnung der Welt. Alles, was ein gewöhnlicher Mensch tun durfte, bestand darin so meinte Jurgis, das Ding so zu nehmen, wie es war, und zu tun, was ihm gesagt ward. Hier einen Platz bekommen zu haben und teilnehmen zu dürfen an dieser wunderbaren Tätigkeit war ein Segen, so dankenswert wie Regen und Sonnenschein.

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Jurgis war froh, daß er den Platz nicht vor seinem Triumphe gesehen hatte, er fühlte, seine Mächtigkeit würde ihn überwältigt haben. Nun war er zugelassen er war ein Teil vom Ganzen. Er hatte das Gefühl, daß das ganze un­geheure Etablissement ihn unter Proteftion genommen hätte und für sein Fortkommen verantwortlich geworden wäre. So harmlos war er, so unbekannt mit der Natur des Ge­schäfts, daß er sich nicht einmal klar machte, daß er doch ein Arbeiter bei Browns geworden und das Brown und Durham bei aller Welt als die größten Rivalen bekannt waren. Rivalen durch das Gesetz des Landes und bestimmt, einer den anderen zu ruinieren, bei Strafe von Gefängnis und Geldbuße.

4.

Pünktlich um 7 Uhr stellte sich Jurgis am nächsten Morgen zur Arbeit ein. Er kam nur bis an die Tür, die ihm bezeichnet war und wartete dort zwei Stunden. Der Auf­seher hatte gemeint, er folle einfach eintreten, hatte es aber nicht gesagt und stieß auf dem Wege, einen anderen Mann zu mieten, auf Jurgis. Er fluchte, aber da Jurgis kein Wort verstand, widersprach er nicht, sondern folgte dem Aufseher, der ihm zeigte, wo er seine Straßenkleider lassen konnte und wartete, bis er sich umgezogen hatte. Dann geleitete er ihn zu der Schlachtbank. Die Arbeit, die Jurgis hier zu tun hatte, war sehr einfach; er brauchte nur fünf Minuten, um sie zu lernen. Er wurde mit einem steifen Besen versehen, wie die Straßenkehrer sie brauchen; es war sein Amt, dem Manne, der die rauchenden Eingeweide aus dem Tier nahm, die Reihe herunter zu folgen und die Eingeweide in eine Falle zu fegen die dann geschlossen wurde, damit niemand hinein­fallen konnte.

Als Jurgis hereinfam, trat das erste Vieh gerade in Erscheinung; ohne sich umzusehen oder zu sprechen, begann er zu arbeiten. Es war ein heißer Tag im Juli; der Raum triefte von rauchendem Blut- man watete förmlich darin. Der Gestank war geradezu überwältigend, aber Jurgis be­achtete das nicht, sein ganzes Herz tanzte vor Freude, er hatte endlich Arbeit und verdiente Geld! Den ganzen Tag rechnete er vor sich hin. Ihm wurde für eine Stunde die fabelhafte Summe von 172 Cents bezahlt; da es ein arbeitsreicher Tag war und er bis beinahe 7 Uhr abends arbeitete, fam er mit der Nachricht nach Hause, daß er mehr als Dollar an einem einzigen Tage verdient habe.

Zu Hause fand er noch mehrere gute Nachrichten vor, und zwar so gute, daß man wahrhaftig eine Feier in Anieles Schlafkammer veranstaltete. Jonas hatte eine Zusammen­kunft mit dem Polizisten gehabt, den Szedvilas ihm vor­gestellt; er war von ihm zu mehreren Herren geführt worden. Das Resultat bestand darin, daß einer von ihnen versprochen hatte, ihm anfangs der nächsten Woche Arbeit zu geben. Marija Berczynskas, die eifersüchtig auf Jurgis Erfolg war, hatte auf eigene Hand eine Stelle zu bekommen versucht. Marija konnte nichts aufweisen als ihre braunroten Arme und nur das eine Wort sagen:" Arbeit". Das hatte sie mühsam gelernt. Mit diesem einen Worte war sie nun den ganzen Tag durch Packingtown gewandert, war in jede Tür hineingegangen, wo sie Anzeichen für eine Arbeitsanstellung

1906

vermutete; sie wurde aus manchen Türen fluchend wieder hinausgewiesen, aber Marija fürchtete weder Menschen noch den Teufel. Jeden, dem sie begegnete, einerlei ob er ein Durchreisender und Fremder, ob er Arbeiter oder ein vor­nehmer Mann war, der sie anstarrte, als hielt er sie für verrückt, belästigte Marija mit dem einen Wort ihres eng­lischen Wortschatzes.

Und endlich wurde sie für ihre Ausdauer belohnt. Sie war in einen Raum einer kleinen Fabrik gestolpert, wo Frauen und Mädchen an langen Tischen saßen und Büchsenfleisch präparierten. Sie wanderte von Raum zu Raum; endlich kam sie dorthin, wo die Büchsen bemalt und etikettiert wurden. Hier hatte sie das Glück, der Vorarbeiterin zu begegnen. Marija wußte damals noch nicht, was sie später wußte welche Anziehung nämlich ein gutmütiges Gesicht und muskulöse Arme für eine Vorarbeiterin haben. Und die Frau hatte ihr gesagt, sie solle am nächsten Tage wieder­fommen; sie sollte versuchen, das Bemalen der Büchsen zu erlernen. Da das Bemalen von Büchsen ein feines Stück Arbeit ist und mit 2 Dollar pro Tag bezahlt wurde, so stürmte Marija unter Indianergeheul in ihren Familien­freis und raste durch das Zimmer, daß das Baby beinahe in Krämpfe fiel.

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So viel Glück war ja kaum zu hoffen gewesen. Nur einer war noch übrig, der ohne Stellung war. Jurgis hatte bestimmt, daß Teta Elzbieta daheim Haushalten und Ona ihr helfen sollte. Er wollte nicht, daß Ona auf Arbeit ging. Dazu war er nicht der Mann, sagte er, und sie nicht die Frau. Das müßte doch merkwürdig zugehen, wenn er mit Hülfe Marijas und Jonas' nicht die Familie erhalten könne. Er wollte auch nichts davon hören, die Kinder zur Arbeit gehen zu lassen es gab in Amerika Schulen für Kinder, dahin so hatte Jurgis gehört fonnten sie gehen, ohne Schul­geld zu bezahlen. Daß die Priester gegen diese Schulen Ein­wendungen zu machen haben, daran dachte er gar nicht; vor­derhand war er entschlossen. daß Tetas Kinder es gerade so gut haben sollten wie die anderer Leute. Der Aelteste, der fleine Stanislovas, war dreizehn Jahre alt und nur klein für sein Alter. Und wenn auch der älteste Sohn von Szed­bilas erst zivölf Jahre zählte und doch schon über ein Jahr bei Jonas gearbeitet hatte, so war Jurgis nun einmal ent­schlossen, daß Stanislovas englisch lernen und zu einem ge­lehrten Mann aufwachsen sollte.

Also blieb nur der alte Dede Antanas übrig. Jurgis meinte, er sollte ebenfalls ruhen, aber er mußte zugeben, daß das unmöglich war. Außerdem wollte der Alte davon nichts hören; er glaubte so rüstig wie nur irgend einer zu sein. Er war nach Amerika gekommen in der festen Ueberzeugung, einen der besten Arbeiter vorzustellen, und jetzt bildete er die hauptsächlichste Sorge seines Sohnes. Jeder aber, mit dem er darüber sprach, versicherte ihm, daß es Zeitverschwendung wäre, in Padingtown Arbeit für einen alten Mann zu suchen. Szedvilas erklärte ihm, daß die Packherren nicht einmal die Männer behielten, die in ihren Diensten alt geworden daß sie alte Männer aber neu anstellten, davon könnte keine Rede sein. So verlangte es die Regel, nicht allein hier, sondern in ganz Amerika , so viel ihm bekannt war. Jurgis zu Gefallen fragte er den Polizisten und brachte die Nachricht zurück, daß gar nicht daran gedacht werden könnte. Ste fagten das dem Alten nicht, der hartnäckig zwei Tage lang von einem Teil der Höfe zum anderen wanderte und der, als er heimkam und die Erfolge der anderen erfuhr, tapfer lächelte und meinte, am anderen Tage werde es auch ihm glücken.

Ihre guten Erfolge gaben ihnen das Recht, nun auch an ein eigenes Heim zu denken. Als sie am Abend auf der Treppe vor dem Hause saßen, beratschlagten sie; Jurgis machte dabei cinen gewichtigen Vorschlag. Als er am Morgen zur Arbeit gegangen war, hatte er gesehen, wie zwei Knaben in jedes Haus Ankündigungen trugen. Da er Bilder auf dem Bettel entdeckte, so hatte er sich einen ausgebeten und in sein Hemd gesteckt. Ein Mann, mit dem er nachher sprach, hatte es ihm vorgelesen und ihn über den Inhalt aufgeklärt. Da war Jurgis ein kühner Gedanke gekommen.

Jetzt zog er den Zettel hervor, der wohl ein reines Kunstwerk darstellte. Er war fast zwei Fuß lang und zeigte