Anterhaltungsblatt des vorwärts Nr. 205. Dienstag, den 23. Oktober. 1906 16t Oer Sumpf. (Nachdruck verboten.) Roman t>on Upton Sinclair . Autorisierte Uebersetzung. Iurgis hatte jetzt wochenlang selten mehr als zwei Stunden Arbeit auf seinem Konto stehen— das heißt fünf unddreißig Cent. Manche Tage waren es weniger, einige Male hatte er gar keinen Verdienst. Der gewöhnliche Dienst dauerte sechs Stunden den Tag, das bedeutete für Jurgis sechs Dollar die Woche. Und diese sechs Stunden mußten abgearbeitet werden, nachdem sie bis ein Uhr oder selbst bis drei oder vier Uhr bei deik Schlachtbänken gestanden hatten. Möglicherweise kam noch ganz spät am Tage eine Ladung Vieh, welche die Männer besorgen mußten, ehe sie heimgingen. Sie arbeiteten oft bei elektrischem Licht bis neun oder zehn Uhr nachts, ja bis zwölf oder ein Uhr, ohne die geringste Pause zu haben, ohne einen Happen zu essen. Die Männer hingen sozusagen von der Gnade des Viehes ab. Manches Mol wurden die Verkäufer heimtückisch hingehalten und, um wohlfeiler kaufen zu können, taten die Käufer, als ob ihnen nichts an dem Handel läge: dann konnten sie ihren Preis stellen. Aus leicht erkennbaren Gründen waren die Futter- preise in den Höfen höher als die Marktpreise, und eigenes Futter durfte nicht mitgebracht werden. Wenn dann noch eine Anzahl Wagen für die letzten Stunden des Tages an- gekündigt waren und die Packherren den Handel noch ab- schlössen, fglls sie billige Preise gestellt bekamen, dann trat die eiserne Vorschrift in Funktion, nach der alles Vieh an dem- selben Tage getötet werden mußte, an dem es gekauft war. Dagegen war nichts zu machen. Eine Arbeiterabordnung nach der anderen wurde wegen dieser Vorschrift nach den Packherren geschickt, bekam aber stets dieselbe Antwort, die Vorschrift bestehe zu recht und an eine Aenderung sei uicht zu denken. So arbeitete Jurgis am Weihnachtsabend bis fast ein Uhr morgens, und am Wcihnachtstag war er bis sieben Uhr an den Fleischbänken. Das war hart, und doch war es noch nicht das schlimmste; für all die harte Arbeit, welche ein Mann tat, wurde er nur teilweise bezahlt. Jurgis hatte einst zu denen gehört, die schon bei dem Gedanken, daß solche großen Etablissements betrügen könnten, in Zorn geraten waren,— jetzt erfaßte er die bittere Ironie der Tatsache, daß gerade ihre Größe sie befähigte, sogar straftlos betrügen zu können. Eine andere der Vorschriften an den Schlachtbänken ging dahin, daß ein Mann, der eine Minute zu spät kam, mit dem Verlust einer Stunde bestraft wurde. Das war ökonomisch, denn der Mann mußte die Stunde trotzdem ab- arbeiten— er duste nicht etwa umherstehen und warten. Wenn aber ein Arbeiter vor der Zeit kam, so wurde er dafür nicht bezahlt, obwohl die Aufseher oft zehn oder fünfzehn Minuten vor-dem Pfeifen die Leute hineinriefen. Und dieser selbe Brauch kam auch am Ende des Tages zur An- Wendung. Die Packherren bezahlten nie für die Ueber- schrcitung einer Stunde— für sogenannte„angebrochene Zeit". Ein Mann mochte volle 50 Minuten nacharbeiten, war dann keine Arbeit mehr da, um die Stunde voll zu machen, so erhielt er keine Zahlung. So bedeutete Anfang und Ende jedes Tages eine Art Lotterie— ein Kampf, nur daß es nie zum offenen Kriege der Aufscher mit den Ar- bcitern kam. Die einen versuchten, eine Arbeit rasch zu Ende zu bringen, die anderen, sie hinzuziehen. Jurgis tadelte die Aufscher deshalb, obwohl es in Wahr- heit nicht immer ihre Schuld war. Die Packherren hielten sie in steter Furcht vor der Entlassung, und wenn einer von ihnen in Gefahr schwebte, hinter dem verlangten Pensum zurückzubleiben— wie konnte er sich da leichter retten, als daß er die Männer„für die Kirche" arbeiten ließ. Es lag eine witzige Anspielung in den Worten:„für die Kirche"— der alte Jones gab dich Geld aus für Missionen und derartige Dinge, und wenn die Packherren etwas besonders Gemeines ausgcheckt hatten, so nickten die Arbeiter einander zu und sagten:„Jetzt arbeiten wir für die Kirche!" Nach allen diesen Erfahrungen war Jurgis nicht mehr entsetzt, wenn er die Männer vom Streit für ihre Rechte sprechen hörte. Er fühlte die Lust zum Streiten jetzt selbst, und als der Abgesandte der Flcischergewerkschaft zum zweiten- mal zu ihm kam, empfing er ihn in veränderter Stimmung. Jetzt schien es ihm eine herrliche Idee zu sein, daß die Männer vereinigt in der Lage waren, die Packherren zil stellen, ja zu besiegen! Jurgis dachte voller Ehrfurcht darüber nach, wer wohl diesen großen Gedanken zuerst gehabt hatte. Als ihm erzählt wurde, daß solch eine Vereinigung etwa? ganz Alltägliches in Amerika sei, bekam er dadurch die erste Vorstellung von der Bedeutung der Bezeichnung:„Ein freies Land". Der Abgesandte erklärte ihm, wieviel davon abhinge, daß jeder Mann sich der Organisation anschlösse, und' Jurgis er- klärte dann auch seine Bereitwilligkeit, beizutreten. Einen Monat später hatten alle Mitglieder seiner Familie Ver- bandskarten und trugen ihre Vcrbandszcichen mit Stolz. Während einer Woche waren sie vollkommen glücklich in der Ueberzeugung, daß die Zugehörigkeit zur Gewerkschaft ein Ende aller ihrer Leiden bedeute. Aber schon zehn Tage nach ihrem Eintritt schloß Marijas Büchsenfabrik ihre Pforten. Der Schlag drückte sie nieder. Sie verstanden nicht, warum die Gewerkschaft das nicht verhindert hatte, und zum ersten- mal wohnten sie einer Versammlung bei. Marija erhob sich und redete. Es war eine Geschäftsvcrsammlung, und es wurde englisch verhandelt; das aber hielt Marija nicht ab. Sie redete tapfer alles heraus, was sie auf dem Herzen hatte, alles Klopfen des Vorsitzenden, der Aufruhr und die Ver- wirrung im Saale konnten sie nicht daran hindern. Ganz abgesehen von ihren eigenen Leiden, kochte es in ihr vor Zorn über die allgemeine Ungerechtigkeit. Sie sagte, was sie von den Packhcrrcn und ivas sie von einer Welt dachte, in der derartige Dinge erlaubt waren. Und als die Wände der Halle noch von ihrer Stimme wiederhallten, setzte sie sich nieder und fächelte sich. Dann erst trat die Versammlung zu- sammen, um über die Wahl eines Sekretärs zu beraten. Auch Jurgis hatte ein Abenteuer, als er zum erstenmal eine Gewerkschaftsversammlung besuchte; aber er hatte dieses Abenteuer nicht selbst heraufbeschworen. Er kam mit dem Wunsche, sich in irgend eine Ecke zu drücken und von dort aus der Verhandlung zuzuhören. Aber seine stille und an- dächtige Aufmerksamkeit stempelte ihn gerade zum Opferlamm: Tommy Finncgan, ein kleiner Jrländcr, mit runden, starren Augen und einem wilden Ausdruck, ein „Aufzieher" oder Helfer seines Zeichens und arg herunter- gekommen, wurde auf ihn aufmerksam. In längst ver- gangener Zeit hatte Tommy böse Erfahrungen gemacht, und diese Last drückte ihn noch immer. Den Rest seines Lebens hatte er nichts weiter getan, als zu versuchen, sein Unglück anderen verständlich zu machen. Wenn er sprach, faßte er sein Opfer beim Knopflych und schob sein Gesicht immer näher und näher dem anderen entgegen. Das hatte aber eine un- angenehme Folge, weil seine Zähne so schlecht waren. Jurgis berührte das ja nicht, aber er war erschrocken. Tommys Thema behandelte die Methode der Unternehmungen der höheren Intelligenzen, und er wünschte herauszubekommen, ob Jurgis jemals die Erfahrung gemacht habe, daß die Dar- stellung der Dinge in ihrer jetzigen Gestalt von einem höheren Standpunkte aus nicht absolut unverständlich bleiben könne. Es gab sicher wunderbare Geheimnisse in der Entlvickelung all dieser Dinge. Dabei wurde Mr. Finnegan vertraulich und erzählte von seinen eigenen Entdeckungen.„Od Ihr wohl jemals etwas mit„sllpemts"*) zu tun gehabt hat< *) Er meinte wahrscheinlich„Spiritisten". Dabei sah er auch fragend auf Jurgis, welcher den Kopf schüttelte.„Tut nichts, tut nichts," fuhr der andere fort, „aber ihre Einflüsse mögen auf Dich wirken. Es ist so, wie ich sage, sie haben den meisten Einfluß auf die nächste Um- gebung der Mächtigen: Es ist mir in meiner Jugend ge- stattet gewesen, mit„«bperrits" bekannt zu werden." Und Tommy fuhrt fort, sein System der Philosophie zu erläutern, während der Schweiß auf Jurgis Stirn trat, so groß war seine Erregung und seine Verlegenheit. Endlich kam ein Mann, der seine peinliche Lage bemerkte, herüber, um ihn zu befreien. Aber es dauerte lange, ehe er jemanden fand, der ihn ausklärte, und seine Furcht, der seltsame kleine Mann könnte ihn wieder festhalten, war groß genug, um ihn den ganzen Abend planlos hin und her zu treiben-
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23 (23.10.1906) 205
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