Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 235.
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Der Sumpf.
Mittwoch, den 5. Dezember.
Roman von Upton Sinclair . Autorisierte Uebersetzung. Jurgis hätte es freilich auf eine Bank bringen können, und vielleicht hätte er sogar Glück gehabt und es wieder bekommen, wenn er es brauchte. Aber Jurgis war jetzt ein heimloser Mensch, der auf dem ganzen on tinent umherwanderte; was wußte er von Banken und Scheck's und Kreditbriefen? Wenn er das Geld mit sich herum getragen hätte, würde man ihn wahrscheinlich eines Tages beraubt haben; was fonnte also er Besseres tun, als es genießen, solange er es hatte? An einem Sonnabend ging er mit seinen Genossen in eine Stadt hinein, weil es regnete, und weil ihm kein anderer Aufenthaltsort zu Gebote stand, begab er sich in ein Schanklokal. Und da gab es Menschen, die ihn zum Trinken einluden und die er wieder einladen mußte, und es wurde gelacht und gesungen, und alle Welt war guter Dinge; und dann tauchte plötzlich hinten im Saal ein fröhliches, rotwangiges Mädchengesicht auf und lächelte Jurgis an, bis ihm das Herz bis in den Hals schlug. Er nickte ihr zu, und sie kam und setzte sich zu ihm, und es wurden wieder Getränke bestellt; und dann ging er mit ihr hinauf in ein Zimmer, und das wilde Tier in ihm erwachte und brüllte, wie es seit der ersten Dämmerstunde der Zeit in den Dschungeln gebrüllt hat. Und dann kamen die Erinnerungen und die Scham, und er war froh, als andere hinzukamen, Männer und Frauen; und es wurde wieder getrunken, und die Nacht verging in einem wüsten Taumel. Im Gefolge der Armee von überflüssigen Arbeitern befand sich ein zweites Heer, ein Heer von Frauen, die ebenfalls dem rauhen Natur system gemäß um ihre Eristenz kämpften. Weil es reiche Männer gab, die dem Vergnügen nachjagten, hatten sie herrlich und in Freuden gelebt, solange sie jung und schön waren; und später, als sie von dem jungen Nachwuchs verdrängt wurden, gingen sie hinaus und folgten der Fährte des Arbeiters. Manchmal famen sie auf ihre eigene Hand, und der Schankwirt teilte sich mit ihnen in den Verdienst; und manchmal waren sie in den Händen von Agenten, genau so, wie der Arbeiter. Sie waren um die Erntezeit in den kleineren Städten, in den Wintermonaten in der Nähe der Holzlager, in den anderen Zeiten in den großen Weltstädten; zog ein Regiment ins Lager, war eine Eisenbahn oder ein Kanal im Bau, wurde irgendwo eine große Ausstellung vorbereitet, war das Weiberheer am Platz und wohnte in Schuppen, Schanklokalen und Logierhäusern, sehr oft zu achten oder zehnen vereinigt.
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Am anderen Morgen hatte Jurgis keinen Cent mehr und begab sich wieder auf die Wanderschaft. Er fühlte sich elend und angewidert, aber seinem neuen Lebensplan entsprechend ließ er dieses Gefühl nicht aufkommen. Er hatte sich wie ein Narr benommen, doch das ließ sich nun nicht mehr ändern, er konnte nichts weiter tun, als dafür sorgen, daß es nicht noch einmal vorfam. So marschierte er denn weiter, bis die Bewegung und die frische Luft seine Kopfschmerzen verscheuchten und seine Kraft und sein Frohsinn zurückkehrten. So ging es ihm jedesmal, denn Jurgis war noch immer eine impulfive Natur und seine Freuden waren ihm noch nicht zum Geschäft geworden. Es würde noch lange dauern, bis er der Mehrheit der Landstreicher gleichen würde, die umber wanderten, bis das Verlangen nach Trunk und Weibern sie übermannte, und auch dabei dann mit voller Ueberlegung zu Werke gingen und aufhörten, sobald sie ihren Preis heraushatten.
Im Gegenteil, so sehr Jurgis sich auch abmühte, er konnte es nicht lassen, sich mit Gewissensbissen herumzuplagen. Sein Gewissen war ein Geist, der sich nicht unterkriegen ließ. Es überfiel ihn an den unerwartetsten Orten; manchmal trieb es ihn soweit, daß er sich betrant.
Eines Abends wurde er von einem Gewitter überrascht und suchte Zuflucht in einem kleinen Hause, das draußen vor der Stadt lag. Es war eine Arbeiterwohnung und der Inhaber war ein Slawe wie er, ein neuer Auswanderer aus Weißrußland . Er hieß Jurgis in seiner heimatlichen Sprache herzlich willkommen und forderte ihn auf, sich ans Küchenfeuer zu seßen, um seine Sachen zu trocknen. Er hatte fein Bett für ihn, aber es lag Stroh auf dem Boden, und da konnte
1906
er übernachten. Die Frau des Arbeiters kochte das Abend. essen und ihre Kinder spielten auf dem Fußboden umher Jurgis saß und tauschte allerlei Gedanken über die alte die Arbeit, die sie verrichtet hatten. Dann wurde gegessen, Heimat aus und über die Orte, wo sie gewesen waren, und und nachher saßen sie und rauchten und redeten weiter über Amerika , und wie sie es fänden. Aber mitten in einem Satz hielt Jurgis inne, denn er sah, daß die Frau ein großes Beden mit Wasser bereitstellte und sich daran machte, ihr jüngstes Kind auszuziehen, um es zu baden. Die anderen waren schon in eine Kammer gekrochen, wo sie schliefen, aber das fleinste mußte erst noch gebadet werden, wie der Mann erklärte. Die Nächte fingen an, recht frostig zu werden, und feine Mutter, die das amerikanische Selima noch nicht kannte, hatte das Kind für den Winter eingenäht. Dann war es wieder warm geworden, und das Kind hatte irgend einen leichten Hautausschlag bekommen. Der Arzt hatte gesagt, sie müsse es jeden Abend baden, und die törichte Frau glaubte ihn!
sah nur auf das Kind. Es war etwa ein Jahr alt: ein Jurgis achtete kaum auf diese Auseinandersetzung; er stämmiger kleiner Bursche mit weichen, fetten Beinchen, einem kugelrunden Bäuchlein und kohlschwarzen Augen. Der Ausschlag schien ihn nicht sehr zu genieren, und er war außer sich vor Entzücken über sein Bad, strampelte und krümmte sich, ficherte vor Wonne und zupfte bald an der Nase seiner ihn in die Wanne hob, setzte er sich mitten hinein und grinste, Mutter, bald an den eigenen kleinen Fußspißchen. Als sie indem er im Wasser plantschte und wie ein kleines Schweinchen quiefte. Er sprach russisch, wovon Jurgis ein wenig verstand; er sprach es mit dem drolligsten Baby- Dialekt, und jedes Wort rief Jurgis irgend ein Wort seines eigenen verstorbenen Söhnchens ins Gedächtnis zurück und schnitt ihm wie ein Messer ins Herz. Er faß regungslos da, mit krampfhaft verschlungenen Händen; aber ein Sturm sammelte sich in seinem Busen, und eine Flut stieg hinter seinen Augen empor. Und schließlich konnte er es nicht mehr ertragen, sondern verbarg das Gesicht in den Händen und brach in Tränen aus, zum Schrecken und Staunen seiner freundlichen Wirte. Und die Scham darüber und sein Schmerz überwältigten Jurgis derartig, daß er plößlich aufsprang und in den Regen hinaus rannte.
weiter, bis er zu einem finsteren Wald fam, wo er sich verEr ging rasch die Landstraße hinab, weiter und immer froch und sich fast die Seele ausweinte. Ach, welch eine Qual war das, welch ein verzweifelter Schmerz, wenn das Grab der Vergangenheit sich öffnete und die Gespenster seines alten Lebens hervorkamen, um ihn zu geißeln! Welch ein Entfeßen, einzusehen, was man gewesen war und nun nie wieder fein fonnte,- zu sehen, wie Ona und sein Kind und sein eigenes totes Ich die Arme ausstredten und nach ihm riefen, über den bodenlosen Abgrund hinüber; und zu wissen, daß man sie auf immer verloren hatte, und sich zu winden und im Pfuhl der eigenen Verworfenheit zu erstiden!
23.
Als es Herbst wurde, trat Jurgis den Rückweg nach Chicago an. Die ganze Wanderfreude war dahin, wenn man im Heu nicht mehr warm wurde; und gleich Tausenden von anderen täuschte er sich selbst, indem er sich einbildete, daß er dem großen Haufen zuvorkommen werde, indem er früh heimkehrte. Er brachte fünfzehn Dollar mit, die er in einem feiner Stiefel verborgen hatte; diese Summe hatte er den Schanfwirten vorenthalten, nicht aus Gewissensrücksichten, sondern aus Angst vor dem Gedanken, daß er zur Winterszeit in Chicago einmal keine Arbeit finden würde.
Er reiste mit mehreren anderen Männern zusammen auf der Eisenbahn, indem sie sich bei Nacht in den Güterwagen versteckten, immer darauf gefaßt, jeden Augenblick ohne Rücksicht auf die Fahrgeschwindigkeit des Zuges hinausgeworfen zu werden. Als sie in Chicago antamen, verließ er seine Gefährten, denn er hatte Geld und sie hatten keins, und er wollte alle Kräfte für den Kampf aufsparen. Er wollte alle Geschicklichkeit und alle Listen aufwenden, die er durch Erfahrung erlernt hatte, und er wollte stehen, wer auch sonst fallen mochte. In guten Nächten wollte er im Park schlafen, oder auf einem Bastwagen oder in einer leeren Tonne oder