Furgis hatte in den tiefsten Abgrund namenlosen Elends geschaut und war durch diesen Anblick an Erkenntnis ge- Wachsen. Und doch, wenn er die ganze Menschheit für gemein und ruchlos hielt, schloß er doch seine eigene Familie, die er stets geliebt hatte, aus. Und nun diese fürchterliche Ent- deckung Marija eine Hure. Und Elzbieta und die Kinder lebten von ihrem Sündenlohn. Jurgis konnte diesen Plötz- lichen Schlag nicht überwinden und versank in tiefe Traurig- keit. Sein Innerstes war aufgewühlt, Erinnerungen wurden wieder in ihm wachgerufen, dre er längst für tot hielt. Er- innerungen an sein früheres Leben seine alten Hoffnungen, sein altes Sehnen, seine alten Träume von Wohlanständigkeit und Unabhängigkeit. Wieder sah er Ona vor sich und hörte ihre sanfte Stimme. Er sah den kleinen Antanas, aus dem er einen rechten Mann hatte machen wollen, wieder vor Augen. Er sah seinen alten zitternden Vater, der sie mit seiner nie versiegenden Liebe segnete. Cr lebte wieder jenen fürchter- lichen Tag durch, an dem er Onas Schande entdeckte heiliger Gott, was hatte er alles gelitten, was für ein Wahn- sinniger war er gewesen. Wie anders erschien ihm jetzt all das Vergangene. Und heute nun hatte er dagesessen und hatte zugchört, halb in Uebcreinstimmung, als Marijck ihm sagte. daß er die Ehre seiner Frau hätte verkaufen sollen, um davon zu leben. Und dann Stanislovas, welch fürchterliches Ende hatte er gefunden, jene kurze Geschichte, die Marija so ohne Anteilnahme erzählt hatte. Alle diese seelischen Erregungen waren Jurgis nun fremd geworden, es war so lange her, daß sie ihn quälten, und er hatte aufgehört zu denken, daß sie ihn nochmals quälen würden. Hillflos, gefangen, wie er war, was nützten sie ihm, warum hatte er ihnen je erlaubt, ihn zu stören. ES war ja die Aufgabe seines gegenwärtigen Lebens, sie niederzuhalten, sie aus dem Herzen herauszureißen. Sie würden wieder in Vergessenheit untertauchen und so würde der letzte schwache Funke seiner Mannesehre erlöschen. 28. Nach dem Frühstück wurde Jurgis nach dem Gerichtshof gebracht, der schon angefüllt war von den anderen Gefangenen und von einer nach Neuigkeiten lüfternen Menge, aber auch von solchen, die in der Hoftnung kamen, vielleicht irgend jemanden zu erkennen und dadurch Gelegenheit für Er- Pressungen zu erhalten. Die Männer wurden zuerst vor» gerufen und alle zusanimen streng ermahnt und dann ent- lassen, nur Jurgis wurde als sehr verdächtig erscheinend be- sonders aufgerufen. Es war dasselbe Gerichtszimmer, in dem er verhört wurde, als seinerzeit sein Urteil aufgehoben wurde. Da war noch der gleiche Richter und derselbe Gerichtsschreiber: der letztere starrte Jurgis an, aber der Richter hegte keinen Verdacht, denn seine Gedanken waren gerade mit einer Telephon-Nachricht beschäftigt, die ihm über den FallPolly Simpson", die Besitzerin des Hauses, Auskunft geben sollte. Mittlerweile hörte er aber doch auf die Geschichte, wie Jurgis nach seiner Schwester gesucht habe, und er gab ihm den trockenen Rat. ihr einen anderen Platz zu verschaffen. Tann wurde Jurgis entlassen. Tie Mädchen mußten jede 3 Dollar Strafe bezahlen, Madame Polly beglich aber den ganzen Be- trag. Jurgis wartete draußen und ging mit Marija nach Hause. Tie Polizei hatte kaum das Haus verlassen, und schon waren wieder einige Besucher da. Am Abend ging das 'Geschäft wieder flott, als ob nichts passiert wäre Inzwischen nahm chn Marija mit in ihr Zimmer. Sie setzten sich und schwatzten. Bei Tageslicht konnte Jurgis nun beobachten. daß ihre Wangen nicht die alte natürliche, von Gesundheit strotzende Farbe hatten. Bist Du krank?" fragte er.Krank?" sagte sie.Zur Hölle!(Sie hatte seitdem wie ein Fuhrknccht fluchen gelernt.) Wie kann ich gesund sein bei diesem Leben?" Für einen Augenblick schwieg sie, ihr trauriges Leben ülerdenkend.Das Morphium macht's," sagte sie schließlich.Ich scheine jeden Tag mehr davon zu gebrauchen."Wozu denn?" fragte er.Es beruhigt mich, ich weiß nicht warum. Und wenn dies nicht wirkt, so tut's das Trinken. Wenn die Mädchen nicht trinken würden, so könnten sie das Leben nicht aus- halten. Die Besitzerin des Hauses gibt den Mädchen, wenn sie zuerst kommen, immer stark berauschende Mittel. So ge- wöhnen sie sich daran und nehmen sie schließlich bei jeder Ge- legenheit." Wie lange willst Dil hier bleiben?" fragte er.Ver­mutlich für immer, was kann ich denn sonst tun?"Kannst Du Dir denn nichts auf die Seite legen?"Ersparen?" sagte Marija.Du lieber Himmel, wie denn? Ich verdiene genug, das ist richtig, aber alles geht wieder flöten. Ich er- halte halben Anteil, zwei und einen halben Dollar für jeden Kunden, und manchmal verdiene ich 25 bis 30 Dollar in einer Nacht. Aber dann wird mir mein Zimmer und das Essen mit Preisen berechnet, die Du Dir nicht träumen läßt. Und dann die tausenderlei Kleinigkeiten, Getränke usw. Denn alles, auch das geringste wird notiert. Meine Rechnung für Wäsche beträgt allein 20 Dollar jede Woche denke Dir. Alles, was ich erübrigen kann, sind 13 Dollar die Woche, die ich an Elzbieta sende, um die Kinder zur Schule schicken zu können." Marija verharrte eine Weile in brütendem Schweigen; dann, als sie merkte, daß Jurgis Interesse zeigte, fuhr sie fort:Auf diese Weise halten sie die Mädchen, sie lassen sie sich erst in Schulden stürzen, damit sie nicht wieder loskommen können. Ein junges Mädchen, das vom Ausland kommt, kein Wort Englisch versteht und in ein solches Haus gerät, ist ver- loren. Oft wissen die Mädchen, die sich zuerst nur zur Haus- arbeit verdingen, nicht einmal, wohin sie geraten sind. Hast Du die kleine Französin mit dem blonden Haar bemerkt, die neben mir stand?" Jurgis nickte bejahend.Gut, sie kani vor ungefähr einem Jahr nach Amerika . Sie war Lageristin und sie wurde von einem Manne für eine hiesige Fabrik engagiert, mit noch sechs anderen. Alle kamen in ein Haus weiter unten in unserer Straße, und dieses Mädchen»vurde allein in ein Zimmer eingeschlossen. Sie gaben ihr ein Be- täubungsmittel ins Essen, und als sie wieder erwachte, fand sie. daß sie entehrt sei. Sie jammerte und schrie, raufte sich das Haar, aber sie hatte nichts, um sich anzuziehen und weg- zugehen. Zehn Monate wurde sie in diesem Hause gefangen gehalten, kam nie heraus; dann sandten sie das bedauerns- werte Geschöpf wieder fort, weil es ihnen nicht zu Willen sein wollte. Ich vermute, sie werden sie auch von hier bald ent- fernen, sie bekommt von dem vielen Absynthtrinken Wahn- finnsanfälle. Nur eines der Mädchen, die mit ihr hierher- kamen, befreite sich wieder. Sie sprang ei /»es Nachts aus dem zweiten Stock." Es wird viel Geld in diesem Geschäft verdient," fuhr Marija fort:sie bezahlen gegen 40 Dollar für ein Mädchen, und sie bringen sie von überall her. Siebzehn sind hier in diesem Hause, und davon neun auS verschiedenen Ländern. An manchen Plätzen kannst Dir noch mehr finden. Französinnen sind vielleicht die schlimmsten von allen. Aus- genommen die Japanerinnen. Gleich nebenan ist ein HauS voll dieser schlitzäugigen Weiber, aber ich möchte wahrhaftig nicht dort fein." (Fortsetzung folgt.) Sines GeifterKelcKwörers letzte Inspiration. von Knud RaSmusse n.*) lSchluß.) Wieder ertönte die Trommel drinnen im Hause, und rings- herum standen die Leute in stummem Lauschen. Bald jedoch mischte sich ein Gesumme zwischen das Trommelschlagen, und langssn, aber mächtig schwoll die Stimme des Alten an; laut und eintönig erklang schließlich der Geistergesang aus der Hütte heraus. Kale faß oben auf dem Hausdach und ward mehr und mehr ergriffen; unwillkürlich stimmte er mit ein. anfangs bloß summend. Die anderen alle standen stumm und unbeweglich und blickten zum Hause empor, aus dem der Lärm drang. Da hört plötzlich der Gesang auf; bloß die Trommel schlägt ein rascheres und immer rascheres Tcmpo an. Der alte Sagllork hebt an zu stöhnen, als unterläge er einem schweren Gewicht, das ihm beinahe den Atem benähme. Und mit einem Male stößt er«inen wilden Schrei aus, daß sich den Zuhörern die Gesichter in Angst zu- sammenziehen. Au au! ES ist unmöglich! Ich unterliege k Er liegt auf mir! Hilf mir! Ich bin zu schwach, ich bewältige es nicht!" Und das Schreien, das einem aufrichtigen Entsetzen entsteigt, erstirbt in einem kremkhaften Schluchzen. Die Trommel aber rührt sich wilder und wilder! Der alte Kale oben auf dem Haus- dach hat Tränen in den Augen und hebt an, aus vollem Halse eine Geisterweise zv singen. Eile Dich, Setz' Deine Kräfte ein!" brüllt Sorkrark voller Spannung nach dem Hause hinauf. Dann schweigt die Trommel einen Augenblick, und Totenstille herrscht im Hause. Die Spannung unter den Zuhörern wächst. Bald jedoch ergreift der alte Sagdlork wiederum seine Trommel, und nach ein paar ein-