Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 248.
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Der Sumpf.
Sonnabend, den 22. Dezember.
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1906
aber als er davon hörte, war es zu viel für ihn, und während einer ganzen Woche stieg er auf den Straßenbahnwagen und fuhr nach den Schlachthöfen und half eifrig mit bei der Propaganda, um zu büßen für seine Taten im vorigen Jahre. Es war ganz wunderbar zu sehen, welchen Unterschied zwölf Monate in Packingtown hervorgerufen hatten.
Roman von Upton Sinclair . Autorisierte Uebersetzung. Als Jurgis aus der Versammlung fam, händigte ihm jemand ein Blatt ein, das er nach Hause trug, um es zu lesen, und er wurde dadurch bekannt mit dem Appeal to Den Leuten waren allmählich die Augen geöffnet worden. Reason"( Appell an die Vernunft). Vor ungefähr zwölf Die Sozialisten fegten förmlich alles vor sich her, und Scully Jahren hatte ein Grundstücksspekulant in Kolorado die war am Ende mit seinem Wiz. Ganz kurz vor Schluß des Ueberzeugung gewonnen, daß es unrecht sei, in den Not- Wahlkampfes fam ihnen zum Bewußtsein, daß der Streit wendigkeiten für das menschliche Leben zu spekulieren. Er von Negern gebrochen war, und so besorgten sie sich einen zog sich von seinem Geschäft zurück und begann mit der solchen Südkarolina- Feuerfresser", den„ Mistgabelsenator", Herausgabe eines sozialistischen Wochenblattes. Es fam eine wie sie ihn nannten, einen Mann, der seinen Rock abnahm, Zeit, wo er es selbst sezen mußte, aber er hielt aus, und nun wenn er mit Arbeitern sprach, der schwor und fluchte wie ein war seine Zeitung ein großes Unternehmen. Er brauchte einen Türke. Für diese Versammlung machten sie ausgiebige Waggon Papier jede Woche, und die Postzüge hatten Stunden Reklame, und ebenso die Sozialisten, mit dem Erfolg, daß zu warten, um alles für sein Geschäft in jener fleinen Kansas - ungefähr tausend Zuhörer anwesend waren. Der„ Mistgabelstadt zu verladen. Es war ein vierseitiges Wochenblatt zum fenator" mußte ungefähr eine Stunde lang das Kreuzfeuer Preise von weniger als einem halben Cent, die Anzahl seiner ihrer Fragen ertragen und ging dann voll Aerger und Widerregelmäßigen Substription betrug aber über eine viertel willen weg. Der Schluß des Abends in der Versammlung Million. Es war durch alle Postämter Amerikas zu be- war reinen Parteiangelegenheiten gewidmet. Jurgis sprang ziehen. umber, winkte mit den Armen vor Aufregung, und auf dem Höhepunkt seiner Aufregung angelangt, machte er sich von seinen Freunden los, steuerte auf die Tribüne zu und schickte sich an, eine Rede zu halten. Der Senator hatte geleugnet, daß die demokratische Partei forrupt sei; die Republikaner feien es, die die Stimmen fauften, sagte er, und hier schrie Jurgis wütend:„ Das ist eine Lüge, das ist eine Lüge!" Er fuhr fort zu erzählen, daß er es wissen müsse, denn die Demofraten hätten seine Stimme einst selbst gekauft. Er würde dem„ Mistgabelsenator" seine Erfahrung ausführlich vorgetragen haben, hätten ihn nicht Adams und ein Freund am Kragen genommen und auf seinen Sitz zurückgeschafft.
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Der Appell" war ein Propagandablatt von besonderer Eigenart. Es war fräftig gewürzt in westlicher Weise und Tonart. Es sammelte Neuigkeiten über das Treiben der Plutokratie und tischte sie auf zum Nutzen des„ amerikanischen Arbeitstieres". Nebeneinander in den Kolumnen stand: Diamanten im Werte von Millionen von Dollars oder die Idee einer Dame der Gesellschaft zu einer Einrichtung für ihre Lieblingspudel" und daneben„ Mrs. Murphey in San Franzisko, die in den Straßen verhungert ist", oder" John Robinson, der eben aus dem Hospital entlassen wurde, hat sich in New York erhängt, weil er feine Arbeit finden konnte". Der Appell" sammelte diese Elendsgeschichten aus den Tageszeitungen und strich sie zu kurzen Notizen zusammen.„ Drei Banken von Bungtown, South Dakota , verkracht, weitere Spargroschen der Arbeiter verloren."" Der Bürgermeister von Sandy Creek, Oklahoma , ist mit 100 000 Dollar durchgebrannt. Das ist die Art zu regieren, die man von dieser Sorte lernen fann."" Der Präsident der Florida - Flug maschinenkompagnie ist wegen Bigamie eingesteckt worden. Er war immer ein scharfer Gegner des Sozialismus, der, wie er sagte, das Familienleben zertrümmern würde." Der Appell" hatte, was man so sagt, seine Armee, ungefähr 30 000 jener Eifrigen, die ihn mit Stoff versahen und die er wiederum anfeuerte, in ihrer Mitarbeit auf der Höhe zu bleiben, gelegentlich sogar durch eine Preisfonfurrenz für alles mögliche, von einer goldenen Uhr angefangen bis zu einer Privatjacht oder einer Farm von 80 Ader Land. Aber manchmal wieder war der Appell" auch verteufelt ernst. Er sandte einen Korrespondenten nach Kolorado und brachte ganze Seiten über die Mißachtung der amerikanischen Geseze in jenem Staat. In einer bestimmten Stadt des Landes hatte der Appell" über 40 Soldaten seiner„ Armee " in den Hauptquartieren des Telegraphentrusts, und feine Botschaften von Wichtigkeit für Sozialisten ging durch, ohne daß nicht ein Abzug davon an den Appell" gesandt wäre. Er druckte ganze Breitſeiten während des Wahlkampfes, und ein Eremplar davon kam Jurgis in die Hände.
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31.
Das erste, was Jurgis tat, als er eine Stellung gefunden hatte, war, daß er Marija besuchte. Sie kam herunter in das Parterrezimmer des Hauses, um ihn dort zu sprechen. Er blieb an der Tür stehen; mit vor Freude strahlendem Geficht verkündete er ihr:„ Ich habe nun Arbeit gefunden, nun fannst Du wenigstens hier wegziehen." Aber Marija schüttelte den Kopf. Für sie sei alles vorbei, sagte sie; niemand würde sie anderswo anstellen. Sie könnte aus ihrer Vergangenheit doch kein Geheimnis machen. Andere Mädchen hätten es schon vor ihr versucht, aber vergebens. Tausende von Männern fämen hierher, und früher oder später würde sie irgend einen treffen. Und außerdem," fügte Marija hinzu, bin ich zu nichts mehr nüße, habe keine Hoffnung mehr, denn ich nehme doch Morphium. Was könntest Du mit mir anfangen?"
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,, Nein," „ Kannst Du's nicht lassen?" rief Jurgis. antwortete sie, ich werde es immer wieder nehmen. Was nüßt es, sich darüber aufzuregen? Ich werde vermutlich hier bleiben bis ich sterbe. Das ist alles, wozu ich noch tauge." Mehr als das konnte Jurgis nicht aus ihr herausbringen, jeder weitere Versuch war verlorene Mühe. Als er ihr sagte, daß er Elzbieta nicht mehr gestatten würde, Geld von ihr anzunehmen, antwortete sie teilnahmlos:" Dann geht's hier drauf das ist alles." Ihre Augenlider hingen schwer herab und ihr Gesicht war rot und geschwollen; er sah, daß er sie langweilte, daß sie ihn fortwünschte. So ging er schließlich, enttäuscht und traurig.
Es enthielt ein Manifest an die Streifenden, das in den Industriezentren in mehr als einer Million Exemplaren verbreitet worden war. Ihr habt den Streik verloren," war Der arme Jurgis war nicht sehr glücklich in seiner die Ueberschrift. Was wollt Ihr nun anfangen?" Der Häuslichkeit. Elzbieta war jetzt häufig krank, und die Jungen Artikel war, was man einen„ Brandartikel" nennt, geschrieben waren wild und ungezogen und durch das Umhertreiben auf von einem Manne, dessen Seele von Eisen umschmiedet war. den Straßen schon verdorben. Aber er blieb trotzdem bei der Als dieser Aufruf erschien, wurden 200 000 Eremplare davon Familie, fie erinnerte ihn an sein altes Glück; und wenn nach den Schlachthofdistrikten gesandt und dort hinter etwas schief ging, schöpfte er wieder neuen Mut, wenn er an Bigarrenfisten in einem kleinen Laden verstaut, und jeden die sozialistische Bewegung dachte und sich mit ihr in Gedanken Abend und an Sonntagen nahmen die Mitglieder des Partei- beschäftigte. Seit sein Leben durch diesen großen Strom vereins von Packingtown ganze Arme voll und verteilten sie mitgerissen wurde, erschienen ihm die Dinge, die zuvor sein verhältnismäßig geringer auf der Straße und in den Häusern. Die Leute von Packing- ganzes Leben ausfüllten, von town hatten den Streik verloren, wie er nur je verloren Wichtigkeit zu sein. Seine Interessen lagen jetzt wo anders werden konnte, und die Leute lasen daher die Blätter gern.- in der Welt seiner Ideale. Sein äußeres Leben gestaltete 200 000 Eremplare genügten faum. Jurgis hatte sich ent- fich einfach und uninteressant, er war nur ein Hotelportier schlossen, nicht mehr in die Nähe seines alten Heims zu gehen; und beabsichtigte es zu bleiben, weil er seinen Unterhalt da