Nnterhaltungsblatt des Horwärls Nr. 16. Mittwoch, den 23. Januar. 1907 lNachdruck verboten.) iqj JMadamc d'Ora» Roman von Johannes V. Jensen. „Wie können die in meine Post geraten sein?" murmelte Hall verwundert. Er faltete sie auseinander und sah, das) das Exemplar der„Daily News" vom 17. Januar datiert war, und das von„La Presse" vom 19. Februar, sie waren also über drei Monate alt. In der englischen Zeitung stand ein langer und sensationeller Artikel über einen Mord, der mit blauem Bleistift umrandet war. Hall überflog den Artikel, er erzählte mit vielen gesperrten Unterbrechungen von einem jener mystischen Frauenmorde, wie sie seit Jack The Rippers Zeit hin und wieder in den großen Städten vorkommen. Man hatte einen Sack aus der Themse auf- gefischt, der die zerstückelte Leiche eines jungen Mädchens enthielt. Alle die gewöhnlichen Züge, wie sie dieser Art Per- brechen eigen sind, wiederholten sich. Die Leiche war von „kundiger Hand" zerlegt, und gewisse Schrecknisse deuteten darauf hin, daß der Mörder eines jener„Untiere in Menschen- gestalt war, wie sie das Großstadtleben erzeugt". Die Er- mordete war ziemlich schnell als ein Fräulein Elly Johnson identifiziert, die einige Tage zuvor von ihrem Platz in einem Hutgeschäft und aus denr Zimmer in der Stamfordstreet, das sie bewohnte, verschwunden war. Eine Eigentümlichkeit bei dem unheimlichen Fund war, daß der Leiche die linke Hand fehlte. Da es sich herausstellte, daß Elly Johnsohn einen Ring an dieser Hand getragen, hatte man hier einen wichtigen Anhaltspunkt für die Ergreifung des Mörders. Es waren noch keine Spuren des Missetäters gefunden, obwohl die Polizei im Besitz eines wertvollen„Schlüssels" zu sein glaubte. Hall las diesen Bericht mit einer umnebelten und ihm widerlichen Vorstellung, daß er ihn auf irgend eine Weise angehe. Wie in aller Welt ging es nur zu, daß diese Zeitungen in seine Post hineingeraten waren. Er erinnerte sich des Geschwätzes dieses törichten Engländers Mason, aber er sah keinerlei Verbindung darin, mochte sich auch nicht da hineindenken. Er warf die Zeitung in eine Ecke des Zimmers und öffnete„La Presse" vom 9. Februar. Sie enthielt eine kurze, unterstrichene Notiz über eine Schlägerei auf der'Gare du Nord zwischen zwei wilden Engländern,— nichts weiter. Auch diese Zeitung warf Hall weg. „Was war es denn?" fragte Madame d'Ora . „Nichts. Ein paar alte Zeitungen, die durch einen Irrtum in meine Post hineingeraten sind. War da übrigens ein Umschlag mit Adresse?" „Nein, sie lagen ganz lose." „Dann sind sie von irgend jemand in die Spalte der Tür gesteckt," sagte Hall und grübelte einen Augenblick nach, bis es ihm wieder gleichgültig wurde. Madame d'Ora ver- tiefte sich in„Le Figaro " und lachte oder seufzte von Zeit zu Zeit, wenn da etwas aus dem lieben Paris war, was ihr zu Herzen ging. „Ach ja!" sang sie schließlich und legte die Zeitung hin. Sie sah Hall an, der dasaß und rauchte, nickte ihm zu: „Edmund, hier ist. es gut!" Er blinzelte wohlgefällig und ließ die Augen sorglos umherschweifen. Plötzlich lauschte er, lauschte und sah sonder- bar beklommen aus. „Was sagst Du, Edmund?" „Die Fliegen! Hörst Du, wie sie allwissend und roh hier drinnen summen— sieh die blaue Fliege dort, die sieht so sicher aus, sie fährt fort, in die Höhe zu fliegen und ein Zeichen zu beschreiben, als ob wir sie verstehen sollten. Weißt Du, daß ich mich vor Fliegen fürchte? Wenn sie summen, kannst Du Dir da nicht eine erdrückende Hitze vorstellen und etwas, das süß und erstickend riecht— ein Federbett von verrotteter Süße über Dir und ein Feuer... und sonst still, still... nur Fliegen..." „Du schielst. Edmund," rief Madame d'Ora und lachte. „Sprich doch nicht so unheimlich, ich fühle, daß ich ganz grün werde. Laß uns jetzt die Flasche leeren und fahren, Du. Es war nett hier, aber nun wollen wir weiter." Halls Nasenlöcher bebten, er sah zu der Decke mit den feuchten Flecken hinauf und fuhr fort zu lauschen. Madame d'Ora weckte ihn aber, indem sie die Champagnergläser an- einanderstieß. Sie tranken aus. „Was sollen wir mit all dem Essen machen, das wir nicht verzehrt haben?" fragte Madame d'Ora . „Das lassen wir für die Katze stehen." „Für welche Katze?" „Hier ist doch natürlich eine Katze im Hause," sagte Edmund Hall.„Ich habe sie über Nacht gehört." Madame d'Ora schauderte und wurde ganz blaß.„Du bist schrecklich, Edmund," sagte sie und ihre Zähne schlugen ein paar Mal zusammen.„Wie kannst Du nur! Sich zu denken, daß man hier in der Finsternis sitzt und etwas hört — Ah!" Heftig schlang sie die Arme um seinen Hals. „Könntest Du hier mit mir sterben?" fragte er lächelnd, aber es huschte ein Funke von sonderbarer Zerstörungslust durch seinen Blick. Sie antwortete ihm mit ihrem tiefen, unschuldigen Liebeslachen. Die Sonne schien so hell und klar, als sie hinauskanien und in den Wagen stiegen. Sie fuhren jetzt tiefer in das Land hinein und kamen zuletzt an die Küste an der andern Seite der Insel an einer unbesuchten Stelle. Hier wo der Atlantische Ozean seine langen, grünen und durchsichtigen Wellen an den Strand warf, blieben sie mehrere Stunden und schauten nach den Seglern aus, die weit da draußen jeder feine stille Bahn zogen. Das Gras an dem niedrigen Hang war so wunderbar frisch und ging bis hart an den Rand der See, und es stand voll von Frühlingsblumen. Es kamen keine Menschen, sie hatten das Gras für sich allein und den weiten Himmel und die See, die sang und ihre Wogen an das Ufer warf. Hier waren sie an einem grünen User zwischen Himmel und Meer, zwischen der täglichen Raumunendlichkeit des Himmels und seiner blauen Fülle und der wandernden Ruhe des Meeres. Ein leiser Lufthauch, ein So'nnenwind strichen über See und Land, die Liebkosung des sanften Tages. Die Ruhe unter dem Blau wurde von einem langen und an- haltenden Ton getragen. Madame d'Ora summte und trällerte, bis sie eins wurde mit dem tiefen Himmel und der Unruhe des Meeres und der unsagbaren Milde des Tages. Den Blick auf die feinen Striche der Lämmerwölkchen gerichtet, die dort oben meilen- hoch unter dem Himmel lagen, hörte Hall sie singen, immer herzlicher und milder, umhüllt von der Sonnenbrise und den schweren Stimmen des Meeres. ... Plötzlich wird sich Edmund Hall bewußt, daß er weg" gewesen ist. Er hat nicht geschlafen, aber er hat in einer Stimmung von Wolkenfernheit dagelegen, ist erstarrt, weil er Leontinens selbstvergessendem Singen gelauscht hat; er hat das Gefühl seines Körpers, ja sogar das seiner Nerven verloren. Als er aber zu den Sinnen zurückkehrt, hat er ein im selben Augenblick schwindendes Nachgefühl von der Unwirklichkeit aller Dinge, des Himmels, der Erde und seiner selbst, ein Gefühl, als sei er an einem anderen Ort zu einer andern Zeit gewesen. Er sieht gleichsam den Schatten von etwas Schrecklichem, das während einer fernen Bewußtlosigkeit vor sich geht, er merkt, daß ein süßer und trübseliger Geruch in seiner Erinnerung zugegen getvesen, und daß ein Name an seine Ohren geklungen ist, fremd, aber mit einer inneren Nähe, die ihm Todesangst einflößt— Elly Johnson! 9. Madame d'Ora trat also in Neiv Jork auf, und sie hatte einen stürmischen Erfolg: namentlich ihre„Carmen" erweckte die Begeisterung der feurigen Amerikaner. Nachdem sie einen Monat lang in einem märchenhasten Rausch voil Gesaug und Erfolg auf dem Theater, und von Fest und Furore mit Edmund Hall umhergewirbelt war, ging Madame mit un- ermlldlichcr Energie auf ihre große Tournee durch die Staaten. Als sie fortgereist war, verschwand auch Edmund Halls nervöses und kaltes Gesicht aus den fashionablcn Caf6s und von den Promenaden. Und die Blätter, die sich. sehr frei- mütig mit den beiden bekannten Namen beschäftigt hatten, ließen sie aus dem öffentlichen Bewußtsein fallen, plötzlich und total, so wie es die Presse in Amerika , die keine Er- innerung hat, zu tun pflegt.
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24 (23.1.1907) 16
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