Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 46.
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Mittwoch, den 6. März.
( Nachdrud verboten.)
1907
wegung wurde unterdrückt, und es begann eine Totenstille im weiten Zarenreiche. Wohl wurden noch hier und da einzelne Attentatsversuche gemacht, jedoch trat bei den Intelligenten
Tausende von jungen Leuten eilten aufs Land, um dort als Lehrer, Gemeindeschreiber, Heilgehülfen usw. dem Volke zu nüßen. Anstatt diese Bewegung zu unterstüßen, griff die Regierung zu Gegenmaßregeln. Die Presse wurde nach furzer Freiheit wieder unter eiserne Zensurvorschriften gezwängt. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, was in der Seele eines freiheitlich gesinnten jungen Menschen vor sich gehen mußte, der, nur von dem Wunsche beseelt, seinem Nächsten zu helfen, plötzlich den Befehl erhielt, eine unfreiwillige Ueberfiedelung nach einem nördlichen Gouvernement anzutreten. Er hatte geträumt, den nunmehr äußerlich freien Bauern auch zu einem innerlich freien Menschen zu machen. Er wollte ihm langsam die Schätze der Kultur zurückgeben, welche die Sklavenarbeit des Bauern auch ihm geschenkt hatte. Man konnte in der damaligen Zeit überall lesen von unserer"( d. h. der Intelligenz) Blutschuld gegenüber dem Bauern. Man fonnte oft den Satz hören, daß der Mann, der uns mit seinem Blut und Schweiß die Möglichkeit erarbeitet hatte, uns in die deutsche Philosophie zu vertiefen, uns an den Künsten zu erfreuen und alle Errungenschaften der Wissenschaft zu genießen, nun endlich auch an diesen Kulturgütern teilnehmen müsse.
Die reaktionären Maßnahmen der Regierung machten indessen die Intelligenz stubig und drängten sie zu terroristischen Akten. Man glaubte die mächtige Reaktion durch den Terror zur Kapitulation zwingen zu können. Man ging sogar weiter. Man wollte den Kaiser, als obersten Vertreter dieses Systems, stürzen und damit das System selbst zu Fall bringen.
Und nun begann ein Kampf zwischen der Regierung und der revolutionär gewordenen Intelligenz. Es war ein ungleicher Kampf. Ich bin fest überzeugt, daß die damaligen Revolutionäre an sich keine blutgierigen Terroristen waren. Ich erinnere mich, einen Protest des russischen revolutionären Komitees gegen die Ermordung des amerikanischen Bräsidenten Garfield gelesen zu haben. Darin hieß es unter anderem:„ Wir verdammen den politischen Mord in freien Ländern, wo man auf gesetzmäßigem Wege seine Ziele verfolgen und erreichen kann."
So war die schwankende Politik Aleranders II. schuld an seinem Tode. Später ist bekannt geworden, daß an dem Lage seiner Ermordung der Kaiser auf Drängen des Diktators Grafen Loris Melitoff einen Ufas über die Einberufung von Ständen unterzeichnet hatte, aber es wurde auch nachgewiesen, daß der Ukas auch nicht den geringsten Versuch zur Einführung einer Verfassung in Rußland darstellen sollte. Dieser Regierungsakt, der die Teilnahme von Semstwo - Vertretern an verschiedenen Kommissionen mit beratender Stimme zur Folge gehabt hätte, war in aller Heimlichkeit vorbereitet worden. Alexander III. , bei seinem Regierungsantritt vor die Frage gestellt, ob er den Ufas veröffentlichen lassen wollte, war zunächst unschlüssig und befragte den Staatsrat. Dort fand eine fehr aufgeregte Sigung statt. Die nächsten Ratgeber Aleranders II., wie Loris Melikoff und der liberale Striegsminister Graf Miljutin, empfahlen zur Beruhigung des Landes die Veröffentlichung des Ufas. Pobedonoszew führte dagegen in seiner Erwiderung aus, daß die Veröffentlichung unbedingt zur Einführung einer parlamentarischen Verfassung führen müsse. Er suchte an dem Beispiel der ausländischen Staaten nachzuweisen, daß der parlamentarische Einfluß eine schädliche Staatsform sei, die den Glauben zerstöre, die Unzufriedenheit schüre und einigen Phrasendreschern die Möglichkeit gäbe, sich als die wahren Volksvertreter aufzuspielen. Rußland wäre verloren, wenn dieser erste Schritt getan würde. Alerander III, stimmte ihm bei und führte selbst aus, ihm fei oft in Dänemark von Ministern erflärt worden, daß das Parlament nur die Wünsche eines geringen Teils des Volkes zum Ausdruck bringe.
des Volkes auf ihre Seite zu bekommen. Ihr Jdeal war dahin gegangen, dem Volt sein gutes Recht der Teilnahme an der Verwaltung zu verschaffen, und das Volk hatte sie im Stich gelassen. So war es ein heldenmütiger, verzweifelter Stampf der geringen Schar der freiheitlich Gesinnten gegen Die gewaltige Macht der Reaktion gewesen. Hatten vielleicht einzelne unter ihnen von Utopien geträumt, so wären doch die meisten zufrieden gewesen, wenn die versprochenen Reformen durchgeführt worden wären.
In den achtziger Jahren glich die geistige Kultur Ruß lands , nach dem Ausspruch eines damaligen Schriftstellers, einer Wüste.
Im Anfang der neunziger Jahre begann man endlich langsam, die Anschauungen über den russischen Staat und die Ideale der siebziger Jahre zu revidieren, und es ergab sich, daß der früher gehegte Glaube irrig war, daß es nämlich in Rußland möglich sein würde, den Gefahren des Kapitalis mus auszuweichen, weil es noch ein Agrarstaat sei, und daß man daher in Rußland bei einem Siege der Revolution die soziale Frage besser lösen könne als anderswo. Aber der Stapitalismus war tatsächlich auch bei uns eingekehrt. Daher konnten die Revolutionäre nun mit einer Arbeiterbewegung rechnen, und es war ihnen jetzt die Aufgabe gestellt, unter den Arbeitern Propaganda zu machen. Das war der einzige Stand, wo man langsam, aber sicher etwas erreichen konnte. Wir schrieben jetzt das Jahr 1896. Beim Regierungsantritt Nikolaus II. hofften die Liberalen, die sich bis dahin sehr still verhalten hatten, durch Petitionen den jungen Kaiser zur Abkehr von der reaktionären Politik seines Vaters veranlassen zu können. Ihre Hoffnungen waren indessen völlig unbegründet, denn ihnen gegenüber stand die mächtige reaktionäre Partei. Ich kann und will nicht deren Vertreter sämtlich als gewissenlose Ausbeuter hinstellen, denen ihre Politik persönlichen Nuten brachte. Es gab unter ihnen sehr viele ehrliche aber leider kurzfichtige Politiker, die fest davon überzeugt waren, daß Rußland sich vollkommen ruhig auf feinen alten Grundvesten der Nationalität, des Glaubens und des Absolutismus entwickeln könne. Die Unzufriedenheit im Volfe sei nur das Wert einer kleinen Zahl von Hezern, die von der westeuropäischen Sozialdemokratie angestedt feien. In ihren Augen würde die Entwickelung Rußlands eine ganz andere sein, als die der westeuropäischen Staaten, und sie glaubten daher durch ihre Politik die Aufrollung der Arbeiterfrage und alle Uebelstände des parlamentarischen Regimes vermeiden zu können.
Die Liberalen freilich, welche die Durchführung der Neformen der sechziger Jahre durch Bittschriften zu erreichen hofften, bildeten durchaus keine organisierte Partei, wie das ja bei den russischen Zuständen begreiflich ist.
Außerhalb der beiden geschilderten Strömungen stand die gesamte unbewegliche Masse des Volfes, von der nur ein kleiner Teil, die Arbeiter, den Willen hatte, seine traurige Lage durch Ausschreitungen und Streiks zu verbessern.
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Auf die Frage: was soll ich nun tun? war für mich nunmehr die Antwort gegeben: Hätte die Regierung Reformen geschaffen, so würde ich wahrscheinlich mein Wissen und meine Arbeitskraft in ihren Dienst gestellt haben, obwohl ich genau wußte, daß es einen harten und schweren Kampf gegen alteingewurzelte Uebelstände gegeben haben würde. Aber ich war jung und beseelt von dem Drang, meinem Vaterland Nutzen zu bringen. Die Reformen waren aber nicht gekommen, und so war mir klar, daß, wie mein Urteil auch ausfallen würde, ich doch unter Polizeiaufsicht käme und daher auch nicht daran denken könnte, auf einem meiner Güter eine Schule zu errichten. Auch würde ein Leben in Petersburg für mich ausgeschlossen sein, da ich politisch verdächtig war. Durch die Geschichte der revolutionären Bewegungen in Ruß land war ich ferner zu der Ueberzeugung gelangt, daß die Das Resultat war, daß die ehrlichen Ratgeber Liberalen immer noch ihren alten Weg des Bettelns um FreiAleranders II. ihren Abschied einreichten, und nun begann heit weiter gehen würden. Es blieb mir also nur der eine die Reaktion ungehindert zu berrichen. Die revolutionäre Be- Weg: mich meinen revolutionären Freunden anzuschließen.