durchführbar, und eS fragt sich deshalb nochmals: Gibt es wirklich im Feld-, Wald- oder Wiesenboden Samen, die daselbst längere Zeiträume hindurch schlummern, um nach Jahrzehnten oder Menschenaltern oder vielleicht gar nach Jahrhunderten erst eine Auferstehung zu feiern, während ihre Altersgenossen nach ein- oder zweijährigem Ausruhen gekeimt, gewachsen und nun längst verblüht und vergangen sind? Hierauf geben die Kulturversuche mit ruhenden Samen, die Professor Peter an der Universität Göttingcn angestellt hat, eine unzweideutig bejahende Antwort. Aus den grossen Forsten zwischen dem Rhume -Odertal und dem Börntal nordöstlich von Göttingen , die tOV bis löüjährigen Hochwald über uralten Ackerflächen ent- halten, wurde an vegetationslosen Stellen im tiefsten Waldes- schatten der Boden sehr sorgfältig in vier je 8 Zentimeter tiefen Schichten, also bis zu 32 Zentimeter Tiefe, ausgehoben, die Schichten gesondert nach dem botanischen Garten gebracht und dort Unter aller erdenklichen, den Hinzutritt neuer Samen ausschliessenden Vorsicht in abgeschlossenen Räumen sich selbst überlassen. In diesen Kul- turen gingen nun neben einer Anzahl von Waldpflanzen nur wenige Arten von Ackerunkräutcrn und Weidepflanzen auf. Für einzelne, die nur in je einem Exemplar und nur in der obersten Bodenschicht vorkamen, ist wohl zufällige Verschleppung in das Waldcsinnere anzunehmen. Andere» namentlich kleinsamige Arten (Vogelmiere, eine Hartheu-Art, eine Simse und andere), die teil- weise in Menge bis zu den untersten Schichten vorkamen, lagen ge- wiss schon sehr lange im Erdboden, und für sie dürfte man nach den mehrjährigen zahlreichen Versuchen Professor Peters die Be- zeichnung der„ruhenden Samen" mit Recht in Anspruch nehmen. Ueber die Frage nach der Zeitgrenze für die Erhaltung der Keimfähigkeit von Samen im Boden, die durch diese Kulturversuche noch nicht als erledigt angesehen werden kann, spricht sich der Göttinger Gelehrte dahin aus, dass für viele Acker- und Weide- kräuter die Grenze, bis zu der ihre ruhenden Samen die Keimkraft behalten, ziemlich viel weiter als ein halbes Jahrhundert zu setzen sein wird. Weshalb, wird man fragen, keimten denn nun diese Samen nicht zu rechter Zeit nach dem Ausfallen aus ihren Samenkapseln oder Früchten, und wie gelangten sie in so beträchtliche Boden- tiefen? Es ist wohl anzunehmen, dass die Acker- und Wiesenun- krautsamen, falls sie nicht sofort bei Anlage der Forstschonung mit untergepflügt sind, in den Wald verschleppt oder verweht und durch den Schatten am Keimen verhindert worden sind. Die Tätigkeit der den Boden durchwühlenden Würmer, Insekten, Maulwürfe und Mäuse liess sie teils direkt, teils indirekt durch Vcrmittelung des Regens, der sie in die Röhren und Höhlungen hineinwusch, all- mählich in immer grössere Tiefen gelangen, und nun war es mit dem Keimen völlig vorbei. Denn auch die Schwere der über dem Samen lastenden Bodendecke wird von ihm als ein Hemmnis, sozu- sagen als eine Warnung vor unzeitigem Keimen, empfunden werden, und so tritt denn jener Zustand latenten Lebens ein» der uns die lebende Materie in vollständig passivem Zustande, ohne chemische Umsetzungen, aber mit der Fähigkeit, ihre besonderen Eigenschaften unbekannte Zeiträume hindurch zu bewahren, zeigt. Von den Umständen hängt es ab, ob dieses latente Leben einmal wieder in den aktiven Zustand hinübergeführt wird, oder doch end- lich in den Zustand lebloser Materie hinüberschlummert. FHeines Feuilleton. Das Eude der Morgue. Eine eigenartige Institution, die wohl so manchem zu den« Bilde des alten Paris notwendig zu gehören schien, schwindet dahin: Die Tore der M o r g u e, des vielgeuanuten Leichenschauhauses, sind durch einen Erlass des Polizeipräsidenten Löpine dem Publikum verschlossen worden und werden sich von jetzt ab nur noch demjenigen öffnen, der sich dahin ausweisen kann, dass er das Studium des menschlichen Körpers zu wissenschaftlichen Zwecken betreibt. Wohl ist es richtig, dass der Gier nach grauen- hasten Sensationen durch diese schauerlichen Schaustellungen Vorschub geleistet wurde. Gar vielen, und nicht nur Müssiggängern oder alten Frauen, sondern auch vielen Fremden, besonders Amerikanern diente die öffentliche Ausbahrung der auf gewaltsame Weise ge- storbcncn und nicht identifizierten Personen zu einer grausigen Augenlnst, an der sie die müd gewordenen Nerven aufpeitschten. Ein tief erschütterndes, zu ernstem Nachdenken anregendes Bild bot sich dem Betrachter, wenn er in diesem Leichenhause einen Augenblick anhielt. Hinter Glasfenstern, wie in einem Laden aus- gestellt, scheinen aus dem düsteren Zwielicht die Leichen hervor, die man anr Morgen hier hereingebracht hat, Selbstmörder und Ver- unglückte, müde Lebenskämpfer, die das Dasein von sich warfen und in den Fluten der nahen Seine ihr Ende suchten, andere lcbcns- vollere Sprossen, von verbrecherischer Hand ermordet. Hier liegt ein altes Mütterchen, mit Lumpen zugedeckt, mit zahnlosem Mund und abgehärnitcn Zügen, die erst im Tode Frieden und Rnhe gefunden hat. dort der grauenvoll aufgeschwemmte Körper eines ertrunkenen Mannes, da die Leiche eines Kindes mit einer schweren Wunde am Kopf. Schonungslos sind die Heiligkeit und Majestät des Todes hier allen Blicken preisgegeben; die spielenden Strassen- kinder huschen an den Glaskästen vorbei, bevor ste wieder im Sonnen- licht ihr Jagen fortsetzen, Frauen mit Kinder» auf dem Arn, treten ein, Arbeiter und junge Mädchen, und ihr Blick zeigt verständnislosen Gleichnrut oder stumpfes Grauen, wenn sie aus dieser dumpfen Grabeslust wieder auf die Strasse treten. Die Ausstellung der Toten hat ja im Grunde den berechtigten Zweck, dass man allen Vorüber- gehenden Gelegenheit geben wollte, die nicht rekognoszierten Toten wieder zu erkennen und ihre Identität festzustellen. Aber das kommt natürlich jetzt in der Millionenstadt nur sehr selten vor, kaum dreimal im Jahre. Unter den 700 bis 800 jährlich hier ausgestellten Leichen bilden die Ertrunkenen die grösste Zahl. Die eingelieferten Leichen werden sorgfältig registriert; ein Protokoll wird über ihren Fund aufgenommen, dam. werden sie entkleidet und durch eine Behandlung im Gefrierapparat so präpariert, dass sie sich längere Zeit halten, ohne zu verwesen. So grauenvoll und barbarisch im Grunde diese Sitte der Leichen- schaustellung ist, so berechtigt die bereits lange geplante und nun von Clsmenceau durchgeführte Schliessung der Morgue erscheint, so hat diese Todeshalle doch auch manch ernsthasten Geist befruchtet und manch erschütterndes Bild der Phantasie heraufbeschworen. Jr. den vierziger Jahren, als die Romane von Sue das Leben von Paris in all seinen Lastern und Abgründen darstellten, war die Morgue als das schauerlichste Denkmal modernen grohstädtischeu Lebens aufgerichtet, alle die Schilderungen, die damals das Babel an der Seine in brennenden Farben vorführten, zeigten den Weg von Ueppigkeit und Glanz durch rauschende Feste und durch Verbrechen bis zu der düsteren Totenkammer auf der Seineinsel, in der die Selbstmörder ihren letzten Schlaf schlafen. Die Maler lernten an diesen Kadaverr im Vorübergehen Anatomie und viele Künstler hat es gereizt, diese! grauenhafte Motiv mit Schönheit zu umgeben und malerisch dar zustellen. Die Kunst Delacroix ', Daumiers und anderer hat so auch aus den Bildern der Morgue Anregungen gezogen. Und manch? nachdenksamen Gemüter fanden Erbauung und Bereicherung ihre? Seins vor diesen Bildern des Todes. Unter den vielen, den-" k, die Macht des Sterbens in grosser und mächtiger Weise entgegentrat, sei nur der englische Dichter Robert Browning erwähnt, der in herrlichen Stanzen von dem weihevollen Frieden und der demütigen Stille gesprochen hat, die des Todes allverklärende Majestät auch über die Morgue breitet. Theater. Neues Schauspielhaus: Kalnz- Gastspiel, „FigaroS Hochzeit ", Komödie in fünf Akten von Beau» marchais. Das Kainzsche Gastspiel brachte eine Aufführung der beiden Beaumarchaisschen Figarokomödien: des„Barbier von Sevilla " und„Figaros Hochzeit ", deren lustigen Schwänken Rossini und Mozart den Text für ihre gleichnamigen Opern entnahmen. Schon im„Barbier", der von Beaumarchais ursprünglich als Oper konzipiert war und erst, als das Publikum das Werk in dieser Form ablehnte, zum Lustspiel umgearbeitet wurde, leuchten hier und da in dem buntfarbigen Gewebe der Szenen vereinzelte politische Schlaglichter auf. Sie sind gleichsam ein Vorspiel zu dem gross- artigen Feuerwerk satirischen Witzes, das in dem Figaromonolog des späteren Stückes sprüht. Figaro, der muntere, nie verlegene Bediente, der die Anschläge des Grafen Almaviva auf seine Braut mit immer neuen Listen kreuzt und in dem Eifer dieses WettkampfeS keine Regung eines aufbäumenden revolutionären Trotzes zu er- kennen gibt, ist, wie der in vielen Zügen des Temperaments ihm wahlverwandte Dichter, eine auf rein private Interessen gerichtete Natur. Aber der persönliche Groll über die Unbilden, mit denen ihn das Schicksal in dieser auf das blöde Vorrecht der Geburt begründeten Gesellschaftsordnung verfolgt. mündet darum nicht weniger in eine allgemeine Anklage aus, in die dumpf drohend etwas von der KampfeSstimmung des bedrückten„dritten Standes" hineinklingt.„Ein Findelkind aus dem Volke— so habe ich meinen Weg auf eigenen Füssen machen müssen. Um mein Brot zu verdienen, das harte trockene Brot habe ich oft an einem einzigen Tage mehr Verstand gebraucht, als die gesamte Regierung rnr Königreich von Spanien und Navarra in 100 Jahren... Bon der Lanze griff ich zur Feder, ward Schrift- steller. Man sagte mir, Spanien habe Presssteiheit und ich könnte, natürlich unter Aufsicht von zwei, drei Zensoren schreiben, was mirbeliebt, wenn es nur nicht gegen den Staat wäre, gegen die Kirche, gegen die guten Sitten und schlechten Beamten, gegen privilegierte Tänzerinnen... Ich schreibe einen Artikel voll schlagender Wahrheiten und die N. gierung sperrt mich ein als Erreger von Unzufriedenheit. Ich leg mich in hundert Borzimmern auf den Stellenbetlel; die besten Plötz. werden mir versprochen und anderen gegeben, weil sie nichts, abei auch gar nichts vor den dazu nötigen Eigenschaften besitzen..- Diese und ähnlich' stahlscharf gespitzte Epigramme, die zu dem leichten, ja frivole'. Komödienstil, in welchem der Konflikt des Dieners mit dem Herrn von Beaumarchais behandelt wird, bedeutsam kontrastieren,— der demonstrative Jubel. mit dem die Anspielungen bei der Aufführung begrüßt wurden, haben den» Stücke, das erst nach langen Kämpfen im Jahre 1784 den Weg zur Bühne fand, den Ruf erworben, daß er als Vorbote im Spiegelbilde des Theaters das Nahen der großen Revolution verkündigte. Beaumarchais selbst war sich einer solchen „Mission" jedenfalls in keiner Weise bewußt. Er lebte mit dem herrschenden Regime, gegen welches die Sarkasmen seines Helden sich richten, von gelegentlichen Streitigkeiten abgesehen, durchaus in gutein Einvernehme». Sohn eines Pariser Uhrmachers, erregt er. noch nicht zwanzigjährig. Aufsehen durch eine mechanische Erfindung, gewinnt vermöge einer moralisch wenig ehrenvollen Standes-
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24 (26.3.1907) 60
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