Mnterhaltungsblatt des vorwärts Nr. 62. Donnerstag, den 28. März. 1907 19] (Stadj&vud verbalen.) Im Kampf für Rußlandd f rcibcit. * Am nächsten Tage reiste ich ab. Als Andenken an Har- lamoff nahm ich nur seine Papiere und sein Tagebuch mit. Ich wollte seine Papiere nicht benutzen und gab sie einem Freunde, der uns als Deckadresse diente, zur Verwahrung. Nun war ich wieder in der Stadt Belaja Zerkov. An- dreesf hatte sich während dieser drei Wochen als guter Kauf- mann bewährt, so daß der Stellvertreter nur zwei Wochen dageblieben war und meinem Freunde erklärt hatte, er könne das Geschäft allein leiten: Kudascheff so hieß ich damals würde sehr zufrieden mit ihm sein. Von Abramoffs erhielten wir Nachricht, daß unser ge- meinsamer Freund Petroff schon über acht Monate im Ge- fängnis säße und wahrscheinlich bald verbannt werden würde. Ferner teilten sie mit, daß sie vorläufig noch nicht kommen könnten. Die Nachricht von Petroff war gewiß sehr traurig, aber am Ende konnte jeder Tag nicht allein den Freunden, sondern auch mir selbst die gleiche Gefahr bringen. Andreeff machte den Vorschlag, die Druckerei nun wieder in Tätigkeit zu setzen und mit Hülfe einiger Kameraden eine Zeitung herauszugeben. Ich würde darauf eingegangen sein, aber die Zeitung war ein Lieblingswunsch von Anna Michailowna; ohne sie wollte ich ihn daher nicht verwirklichen. Wir verhielten uns nun ruhig ungefähr sechs Wochen und erledigten bloß die geschäftlichen Angelegenheiten. Da kam eines Tages ganz unerwartet das Ehepaar Abramoff an. Sie wollte hier bleiben, er sollte weiter nach Charkoff reisen. Nun begann ein reges Leben. Bald war Anna Michailowna wieder in der Druckerei, und die Broschüre ihres Mannes über die Fabrikinspcktion wurde gedruckt. Sie arbeitete den ganzen Tag: wir halfen ihr nur ab und zu. Am Abend mußten wir hin und wieder Einladungen annehmen, um so unser Ansehen als ehrbare Kaufleute zu wahren. Anna Michailowna war meine Cousine, die Stellung Andrecffs war schon durch seine Vertretung während meiner Abwesenheit Senügend charakterisiert. Wenn wir am Abend allein waren, am es oft zu langen theoretischen Auseinandersetzungen zwischen uns. Anna Michailowna und Andreeff meinten, es sei höchste Zeit, die Arbeiter mit politischen Forderungen hervortreten zu lassen. Der wirtschaftliche Kampf genüge nicht, wir müßten jetzt mehr und mehr die politischen For- derungen geltend machen. Ich freute mich, daß Anna Michai- lowna dieser Ansicht war, denn schon von Anfang an war ich für eine energische politische Propaganda eingetreten, aber bei mehreren Kameraden auf Widerstand gestoßen. Sie meinten, die Arbeiter müßten erst zur Solidarität erzogen, ihr Klafsenbewußtsem gestärkt werden, dann könnten wir von den ökonomischen Streiks zu rein politischen Bewegungen übergehen. Ich stellte dagegen die Behauptung auf, daß, wenn die Arbeiter mit ihren politischen Forderungen hervorträten, sie von selbst die unzufriedenen Elemente um sich sammeln und so die Revolution vorbereiten würden. Ich war damals mit meinen noch unreifen demokratischen Anschauungen der Meinung, daß, wenn Rußland eine Revolution erleben sollte, es keine bürgerliche, ähnlich wie in Deutschland 1848, sein, sondern daß wir das Proletariat zum Siege führen würden. Meine Freunde aber lachten mich ob dieses Optimismus aus und nannten mich einen Schwärmer. In der Druckerei wurden außer Broschüren noch eine Reihe von Aufrufen für Freunde, die in anderen Städten tätig waren, gedruckt. Wieder machte ich kurze oder lange Reisen, um diese Schriften und Proklamationen fortzuschaffen. Es konnte auf mich nicht so leicht ein Verdacht fallen, denn ich war stets gut angezogen, fuhr erster Klasse und stieg in den besten Hotels ab. Viele meiner Freunde begriffen diesen Luxus nicht, nur gegenüber Anna Michailowna brauchte ich ihn nicht zu verteidigen: sie gab mir hierin vollkommen recht. Trotz aller Vorsichtsmaßregeln geschah es aber doch, daß ich durch Zusammenkünfte mit Personen, die von der Polizei ohne ihr Wissen beobachtet wurden, auch auf mich die Auf- merksamkeit lenkte. Ich bemerkte es ein paarmal und ver- doppelte nun meine Vorsicht. Nur einmal hatte ich den Leichtsinn begangen, einen Bekannten, dem ich einen Tag vorher einen Packen verbotener Schriften überbracht hatte, kurz vor dem Abgang des Zuges in ein Restaurant zu bc- stellen. Ich wollte ihn sehen und mit ihm über dies und jenes sprechen. Ich war in die Unterhaltung mit ihm vertieft, als er mich plötzlich unterbrach und leise sagte:Verflucht I Wir werden beobachtet und zwar von einem sehr gefährlichen und bekannten Spion. Drehen Sie sich nicht um. Wir wollen sofort zahlen und gehen!" Ein Stück gingen wir zusammen, dann verabschiedete ich mich, nahm eine Droschke und fuhr zum Bahnhof. Kaum hatte mir der Gepäckträger meinen Gepäckschein übergeben, als ich denselben eleganten Herrn sah, der mich und meinen Freund in dem Restaurant beobachtet hatte. Es blieb mir aber jetzt nichts anderes übrig, als den Zug zu benutzen, ich stieg in ein Coup6 erster Klasse ein und sah, daß der elegante Herr in den nächst stehenden Wagen einstieg. Ich wollte im Coupä allein sein, um mir zu überlegen, wie ich meinen Ver« folger am besten los würde. Während der Fahrt kann er mich ja nicht festnehmen, dachte ich. Wenn er mich ein paar Stationen weiter begleitet, bleibt mir nichts anderes übrig, als aus dem Zuge zu springen. Es ist etwas riskant, aber doch besser, als verhaftet zu werden. Kurz vor Abgang des Zuges nahm in meinem Abteil noch ein sehr dicker und gutmütig aussehender Herr Platz. Als der Zug sich in Bewegung setzte, zog er einen Speisekorb hervor, goß sich einen Schnaps ein und vertilgte eine große Anzahl Butterbrote. Er bot mir zu essen und zu trinken an, und wir kamen ins Gespräch. Er war Gutsbesitzer, Mit- glied eines Semstwo und sehr liberal in seinen Anschauungen. Er äußerte unumwunden seine Unzufriedenheit mit der Herr- schenden Reaktion und sagte:Es ist schade, daß wir Semstwo - leute in unseren Bestrebungen gehemmt werden. Wir sind' doch die einzigen Kulturträger im Lande. Unsere Schulen taugen etwas. Die Regierungsschulen gehören dem geistlichen Ressort an, und anstatt Aufklärung zu verbreiten, spionieren die Lehrer mit, ob der Bauer nicht vielleicht Sektierer ge- worden ist, und ob unsereiner auch keine Lästerreden gegen Gott und den Zaren führt! Ich habe noch die Zeit der Bauernbefreiung erlebt und habe da wirklich mit Leib und Seele für die Bauern gearbeitet. Was soll man jetzt tun? Ich hatte eine Musterschul�, und die haben sie mir einfach zugemacht. Es sind schwere Zeiten über unser Vaterland hereingebrochen." Ich hörte ihm stillschweigend zu, und nur als er mich fragte, ob ich auch Gutsbesitzer sei, verneinte ich es und sagte ihm, ich sei Kaufmann und handle mit landwirtschaft- lichen Maschinen. Der Zug raste immer weiter: ich dachte unaufhörlich daran, wie ich meinem Verfolger entgehen könnte. Auf den paar Stationen, wo gehalten wurde, pro- menierte ich auf dem Perron und merkte, daß mein Verfolger noch da sei. Es war Spätherbst. Die Reise ging durch Laubwälder, durch weite Ebenen, hier und da tauchte ein Dorf auf, und wieder kam Wald. Er sah so trostlos aus, beraubt alles seines Schmuckes. Mein Reisegefährte sprach immer weiter. Nachdem er mich gefragt hatte, welche Firma ich verträte, begann er mir die Vorzüge dieser oder jener Maschine zu erklären. Haben Sie noch eine weite Reise?" wandte er sich plötzlich an mich. Ja, das weiß ich eigentlich nicht. Vielleicht steige ich früher aus, um noch ein Geschäft abzumachen. Fahren Sie noch weit?" fragte ich ihn. Ich muß aus einer kleinen Station aussteigen, in anderthalb Stunden sind wir da. Der Schnellzug hält eigent- lich nicht inimer, nur wenn Passagiere da sind." Der Zug hielt wieder ein paar Minuten auf einer großen Station. Ich ging hinaus und dachte:Vielleicht kannst du hier unbemerkt verschwinden." Aber der elegante Herr folgte mir unverdrossen auf Schritt und Tritt. Ich gab mir den Anschein, als ob ich gar nicht ahne, daß er mich beobachtete. Mein Begleiter war mit ausgestiegen, wir scherzten und lachten. Wieder raste der Zug, und ich hatte immer noch keinen Ausweg gefunden I Der Schaffner öffnete eilig unser« Coup6tür und sagte zu meinem Gegenüber: .Nicht wahr, Sie steigen nun aus?."