— 247— sie nicht; jedoch fragt man sie selbst, so sind eS lauter D evrientS, Seidel männer, Staudigls. Tichatschecks, Cre- lingerinneu, Ch ar lott e n(d. h. nicht Zwiebeln, sondern von Hager). ES gibt keine kleinen Schauspieler; die Welt er- kennt nur aus Eigensinn und Dummheit die großen Künstler zu selten an." Dazu bemerkt E. M. Oettinger im Leipziger „Charivari" etwas boshaft:«Es ist in der Tat erschreckend, wie sehr sich von Tag zu Tag der Heuschreckenschwarm der sogenannten Künstler ver- mehrt. Wohin man jetzt spuckt, spuckt man auf einen Garrick oder Talma — in der Einbildung. Alles, was jetzt gesunde Glieds maßen hat, läuft zum Theater. Man sollte endlich darauf bedacht sein, es den Leuten ein wenig zu erschweren. Man sollte jeden, der zum Theater gehen will, zuvor einer Art von Prüfung unterwerfen und zusehen, ob er wenigstens die Anfangsgründe emer wissen� schaftlichcn Schulbildung glücklich überwunden hat." Vergessen wir nicht, daß damals vor aller Welt da? Virtujosen- t u m grassierte und von allen Theatern, die sich's kosten lassen konnten, in erster Linie von den Hoftheatcrn auS rein geschäftlichen Gründen großgezogen wurde. Dieser reiste auf daS hohe Cl in einer Arie, zene gab Koloraturen zum besten; beliebt waren besonders die .Rationaltänzerinnen". Es trafen sich darunter auch einige wirklich bedeutende Fußkünstlerinnen, deren Namen in der Theatergeschichte eine bleibende Stätte gefunden haben. Aber als dann Scharen von böhmischen, polnischen, slovalischen, ungarischen und weiß der Himmel was noch für„Rationaltänzerinnen", die noch kurz vorher simple Bierhebcn usw. gewesen, aus die weltbedeutenden Bretter hüpften. da war's rasch aus. Und soviel Spezialitätenbühnen als heute gab eS damals noch nicht. Die gegenwärtige Zentralisation des Theaterwesens bringt eS mit sich, daß, wer irgendwelche Zukunstshoffnungen hegt, auch nach Berlin kommt. Hier laufen bei den paar Dutzend Theateragcnturen ja alle geschäftlichen Fäden zusammen. Es cht sohin die Möglichkeit vorhanden, irgend- welche Anknüpfungen zu bewerkstelligen, die früher oder später zu einem anderweitigen Engagement führen können. Denn auch nur jemals eine einzige Spielzeit auslasten, heißt für den Bühnenkünstler in vielen Fällen total aus dem Kurs geworfen sein... Nun schwirren alle Casös Unter den Linden voll von diesen Wandermimen. Wer sie hören und sehen will, der findet sie allenthalben. O, und was wird da nicht alles zusammcnschwadroniert und— renommiertl Wie diesem Heldentenor oder Bonvivant schwer silberne Lorbeerkränze zu- geworfen, wie jener Heroine die Pferde ausgespannt wurden und wie sie im blumenüberschütteten Wagen von zahllosen Verehrern nach Hause gezogen wurde-- klangen da nicht die Namen von Kyritz an der Knatter, Mcseritz und andere gleicherweise rühmlichen Kunst- stätten hindurch? Man hört ähnliches in jedem neuen Jahre; und Wenns auch selten wahr gewesen ist, so ist's doch gut erfunden. Wen aber ficht das heute an! Etwa das große Publikum? I bewahre. In dem Moment, wo ein Künstler seinen bisherigen Wirkungskreis ver- läßt, hat man seiner vergessen. Der KnnstidealiSmuS unserer Tage ist von gar kurzer Dauer; selten, höchst selten nur pflegt er einem .Liebling" an ferne Stätten zu folgen. Die paar, die es zur„Be- rühmtheit" gebracht haben, na ja; aber nach den kleineren Sternen ftagt selten einer. Jeder ist dem brutalen Kampf umS Dasein zurückgegeben. Mag er nun selbst zusehen, wie er sich damit abfindet.... Psychische Ansteckung. In letzter Zeit ist die Frage, ob es zweckmäßig ist, die Details eines begangenen Verbrechens öffentlich bekannt zu geben, öfters erörtert worden. Es gibt Geistliche, die eine Veröffentlichung von JWordprozesten deshalb für erwünscht halten, weil den Menschen auf diese Weise zu Gemüte geführt wird, daß die Sünde zum Tode führt. Wenn auch geglaubt wird, daß die Aufklärung namentlich der Jugend zweckmäßig sei und daß Unwissenheit nicht Unschuld bedeute, so muß es doch sehr fraglich erscheinen, ob gerade ein Sensationsprozeß die erwünschte Aufklärung zu leisten vermag. Im Journal der amerikanischen Medizinischen Vereinigung wird aufs neue auf die Gefahr der Suggestion hingewiesen, die bei eingehender Berichterstattung über Kriminalprozesse besteht. Aerzte, die die menschliche Psyche zu beobachten Gelegenheit haben, geben zu, ein Mensch könne durch die Macht der Suggestion mit der Vorstellung eines Verbrechens so sehr vertraut werden, daß er sie in die Tat umsetzen müsse. Man könnte glauben, daß die Veröffentlichung der näheren Um- stände etwa eines Selbstmordversuches geeignet wäre, Leute, die sich mit Selbstmordgedanken getragen haben, davon abzuschrecken. Aber das Gegenteil ist der?fcll. Der Bericht über einen Selbst- mord hat oft weniger widerstandsfähige Personen veranlaßt, dem Beispiel zu folgen. Dasselbe gilt auch für sexuelle Verbrechen. Die Gefahr ist in diesem Falle für geistig minderwertige oder defekte Individuen besonders groß. Wenn solche Personen Sensa- tionsprozesse lesen oder mitanhören, die sich auf diesem Gebiete abspielen, so entsteht in ihnen der Wunsch ähnliches zu erleben. Einem normalen Menschen können Kriminalbcrichte nichts anhaben, ein großer Teil der Menschen ist aber nicht normal, und diesem Umstand sollte Rechnung getragen werden. Gerade die pathologisch veranlagten Individuen zeichnen sich durch Neugierde und Sensa- tionslnst auS; sie sind es, die Kriminalbcrichte eifrig lesen und die Gericktssale füllen. Solche Leute bedürfen einer geistigen Bevormundung, und die Aerzte, die die Suggestion und deren ver- hängnisvolle Macht in ihrem ganzen Umfang kennen, sollten� ihren ganzen Einfluß dahin geltend machen, daß im Interesse der öfscnt- lichen Gesundheit ein Schutz gegen Psychische Infektion erreich» werde Theater Neues Theater:«Vorbestraft ", Schauspiel in vier Akten von Albert Bernstein-Sawersky. Das Stück wurde mit dem bei Premieren des Neuen Theaters üblichen Beifallssalven aufgenommen, der Verfasser konnte eine erklecklichs Anzahl von Malen vor dem Vorhang erscheinen. Wenn sich bis Nüchternheit der Phantasie, die diesem Drama ihr Gepräge auf» drückt, mit einiger Nüchternheit des Urteils paaren sollte, so kann Herr Bernstein-Sawersky sich über die künstlerischen Qualitäten seines Schauspiels keinen Illusionen hingegeben haben. Der Applaus beweist nicht das Geringste. Was der Verfasser gab, viel» leicht auch nur hat geben wollen, war ein dialogisiertes Plaidoycr für eine gute Sache. Exemplifizierung eines der vielen skandalösen Mißbräuche unseres Gerichtsverfahrens an einem besonderen Fall. Aber so gewiß eS ein lächerliches Vorurteil, ein leerer dogmatischer Formenkultus ist, der die Tendenz aus dem Gebiet des Dramas überhaupt verweisen möchte, so gewiß ist es doch auf der anderen Seite, daß im Drama für Tendenzen mit dramatischen Mitteln gewirkt werden, daß durch die lebendige Gestaltung der handelnden Menschen, durch folgerechte psychologische Entwickclung der Schick» sale die Gemüter erregt und dem Gedanken so ein ganz anderer seelischer Nachhall, als es die bloße Erörterung und Argumentation vermag, geschaffen werden muß. Fehlt solche dichterische Beseelung, so kommt nicht mehr heraus, als eine belanglose Umsetzung von Ansichten und Ideen, die auf dem Umweg über das Theater nur mit allerhand gleichgültigem Ballast befrachtet werden, ohne irgend einen wertvollen Zuwachs zu erhalten. Es ist eine grausame und nutzlose Bestimmung, die den Staats» anwälten und Richtern gestattet, Zeugen, die jemals mit den Gesetzen in Konflikt gekommen find, durch die Frage nach ihren Borstrafen bloßzustellen,— wenn auch bei weitem nicht in gleichem Maß brutal als jener andere Usus, nach dem die Polizei die entlassenen Sträflinge, die sich in ehrlicher Arbeit eine neue Existenz zu gründen suchen, verfolgen, die Erinnerung an ihren Fehltritt ständig erneuern, sie von Stelle zu Stelle hetzen darf. Brieux in seiner..Roten Robe", dem wuchtigsten gegen die ver» knöcherte Hartherzigkeit deS Rechtes und des Richtertums in neuerer Zeit geschriebenen Tendenzdrama, hat dieS Moment der Lffent» lichen Ausgrabung längst verbüßter Strafen in äußerst wirksamer Weise mitverwendet. Bernstein macht es zum Angelpunkte seines Stückes. Ein Kommerzienrat I. Ricmann, den bor Jahrzehnten ein in Notlage verübter Jugendstreich auf ein paar Monate ins Gefängnis gebracht hat, ist hier der leidende, wenn auch in seinem unaufhörlichen Schwanken in der Dürftigkeit der Charakteristik nur recht geringes Mitleid erweckende Teil. Sein Freund, ein früherer Offizier, kommt durch eine unglückliche Verknüpfung von Zufällen in den Verdacht der Wcchselfälschung. Riemann könnte ihn durch eine Zeugenaussage retten. Er weiß, die Unterschrift des inzwischen verstorbenen Wechselausstellers ist echt, aber in der Angst vor jener heiklen Frage nach den Vorstrafen, die den längst vergessenen Makel aufdecken, seine Familie böswilligem Gerede preisgeben, die Karriere seines Jura-beflissenen Sohnes vernichten würde, kann er sich drei Akte lang zur Erfüllung dessen, was ein» fachste Ehrenhaftigkeit in diesem Fall gebietet, um seiner.Ehre" willen nicht entschließen. Er behauptet, nichts zu wissen, weigert sich als Zeuge aufzutreten. Ganz selten nur, so in dem Gespräch der beiden Gatten, als die verwöhnte Frau, die ihm alles verdankt, bei dem Gedanken an die mögliche Gefahr eine Märtyrinnenmiene aufsteckt, und sich sein Zorn an dieser pharisäerhaften Pose ent» zündet, überrascht eine interessantere, nicht unmittelbar an der Oberfläche der gegebenen Situation liegende Wendung. Eine Art von äußerlicher Spannung erzielte der 3. Akt mit der Gerichts- sitzung. Was den Indizien an zwingender Beweiskraft abgeht, ersetzt der Staatsanwalt durch den Aplomb moralischer Entrüstung; ein Zeuge, der entlastend für den Angeklagten aussagt, wird ein» geschüchtert und durch Aufzählung der Vorstrafen blamiert. Drei Jahre Zuchthaus sind beantragt, und Riemann, der das alles als Zuschauer mit anhört, schweigt beharrlich. Vernichtet von dem Bewußtsein seiner schweren Schuld, taumelt er nach Hause. Die Worte deS Sohnes, der sich ganz plötzlich, offenbar um der Theater. Wirkung willen, als uneigennütziger Idealist und Mann deS Rechts entpuppt, richten ihn auf. Er will nachträglich noch sein Zeugnis ablegen! Zu spät. Furchtbar trifft ihn die Nachricht, daß sich de» Verurteilte in dex Gefängniszelle erhängt hat. Die Aufführung vermochte die matten Farben nicht aufzu» ftischen. Arnold StangeS Darstellung des KommerzienrateS war gutes Mittelmaß, die Besetzung einiger Nebenrollen ließ recht Erhebliches zu wünschen übrig. ckt. Kammerspiele deSDentschenTheaterS:«Komödie der Liebe" von Henrik Ibsen . Ein gleichgültiges Stück und eine unbeträchtliche Ausführung— das war das ErgebmS dieses dritten JbsenabendS in den Kammerspielen. Wohl spürt man ,n diesem etwas unbeholfenen Versdrama deS jungen Ibsen<1362!) d»e scharfe Gesellschaftsknttk. den Mut der Negation, die Bekennerfchaft zur rücksichtslosen Selbstbehauptung gegen alles Ueberkommen, heraus, aber in Technik, Probicmslcllung und Löiung fehlt doch allzuviel, als daß auS einer Ausgrabung lebendige Biihnenwncksamkeit und tiefer gehende Anregung erstehen könnte. Die Tendenz gegen die Spießbürgerttchkeit der konventio»
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24 (28.3.1907) 62
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