mich zu verlieren. Vor meiner Abreise inS Ausland kämpfte ich lange mit dem Wunsche, sie aufzusuchen und Abschied von ihr zu nehmen; ich unterdrückte ihn aber und schrieb ihr einen langen Brief. Ihre Antwort hatte mich noch erreicht, und außer den allernotwendigsten Sachen war es das einzige. was ich von meinem früheren Leben ins fremde Land mit- nahm. Dies alles zog durch meinen Kopf, als ich auf der Grenz- station stand. Ich stieg in den Zug ein, andere Uniformen, andere Gesichter tauchten auf der kleinen Station Otloschin auf. Die Zollrevision wurde vorgenommen, einige Mitreisende wurden gefragt, ob sie nach Amerika   auswanderten. Dann hoar alles erledigt, und der Zug raste weiter. In Berlin   stieg ich in einem kleinen Hotel am Schle- fischen Bahnhof ab. Ich mußte sehr sparsam sein. Man hatte mir ein paar Adressen gegeben, mit deren Hülfe ich Petroff hier aufzufinden hoffte. Die letzte Nachricht von seiner Frau meldete, daß sie beide nach Berlin   reisen und hier eine längere Zeit bleiben würden. Ich fand ihn in einem Privatkrankenhause, wo er vor ein paar Tagen operiert Worden war. Seine Frau pflegte ihn. Ich war erschrocken, als ich das liebe Gesicht abgemagert und gequält wiedersah. Ja, es geht schlecht, lieber Freund," sagte er.Bin jetzk Invalide." Es wird schon besser werden," tröstete ich ihn,die Operation ist glücklich verlaufen, und das andere ist eine Kleinigkeit." Wenig Hoffnung," erwiderte Petroff.Wie lange habe ich mich schon gequält! Ein ganzes Jahr bin ich krank; jetzt endlich haben die Aerzte herausgefunden, daß ich ein inneres Geschwür habe. Ich habe aber nicht mehr die Kräfte, um noch ein langes Krankenlager auszuhalten." (Schluß folgt.) Das Volksllcderbucb. Einige Jahre ist es her, seit auf einem Sängerfeste deutscher  Männergesangvereine in Frankfurt   a. M. der deutsche   Kaiser die Snregung gab zu einem Volksliederbuch. Dieses Volksliederbuch ist nun vor kurzer Zeit erschienen. Bei der Bedeutung, die es für den Männergesang haben dürste, ist eine Betrachtung der von ihm ver- folgten Ziele wohl angebracht. Die Männcrgesangvereine, die gegenwärtig selbst in dem kleinsten deutschen Städtchen eine Rolle spielen, sind dennoch nicht eine erb- eingesessene deutsche   Einrichtung. Kaum hundert Jahre ist es her, seit der Berliner   Singakademiedirektor Karl Friedrich Zelter   die erste»Liedertafel" einrichtete. Es handelte flch damals um eine wirk- liche Liedertafel, gesellige Zusammenkünfte: während man an der Tafel sah, wurden Lieder gesungen. Nicht leicht war es, Zutritt zu erlangen; nur Komponisten, Sänger von Beruf, Dichter wurden als Mtglieder aufgenommen. Nicht länge dauerte es, bis auch in anderen StädtenLiedertafeln" nach dem Muster der Berliner entstanden, in Leipzig   und Frankfurt   a. O. Immer noch handelte es sich um streng exklusive Gesellschaften. Später erst trat der populäre Zug auf, der, an Stärke immer wachsend, bis auf die Gegenwart die Männergesang- Vereine beherrscht hat. Und jetzt hat sich das Verhältnis fast um- gekehrt: Wären die ersten Liedertafeln aristokratischer Art, so sind vis jetzigen zumeist demokratisch. Es gibt kaumcinen bürgerlichen verufsstand, der sich nicht seinen Gesangverein gründete; die jungen Kausteute, die Beamten, die Handwerker, Arbeiter, die Lehrer usw. alle noch in einzelne Sondergruppen sich trennend, gründen ihre kleineren oder größeren Vereine. Eine ähnliche Bewegung wie von Berlin   ging etwa gleichzeitig auch von der Schweiz   aus. G. H. Nägeli rief 1810 einen Männergesangverein in Zürich   ins Leben; die Tendenz war hier jedoch von Anfang an eine viel volkstümlichere als in Berlin  . Von der Schweiz   aus'wurde allmählich Süddeutsch- land für den volkstümlichen Männergesang gewonnen. Etwas später schloß fich Oesterreich an, so daß nach und nach.der Männergcsang alle Gauen überspannte, wo die deutsche Sprache heimisch war. Diese Entwickeluna des Männergesanges brachte es mit sich, daß eigentlich künstlerische Bestrebungen immer mehr in den Hinter- grund traten. Je weiter die.Begeisterung für den Männcrgesang um sich griff, desto tiefer sank das künstlerische Niveau der Musik, an der man sich erfreute. ES kam eine Zeit des künstlerischen Tief- standes, der Geschmacklosigkeit, die schwer zu überbieten sein dürften. Eine öde Sentimentalität, philiströse Behäbigkeit, seichte Simpelei beherrschten lange den Männergesaug in einem Umfange, daß die meisten Gesangvereine überhaupt nicht mehr in Betracht kamen, wo es sich um künstlerische Bestrebungen handelte. In jüngster Zeit ist nun eine neue Richtung aufgetaucht. Müde der hcrkönunlichcn Liedertafelei und im Vertrauen auf die Leistungsfähigkeit einiger vorzüglich geschulter Chöre, haben einige Komponisten, der Schweizer  Hegar an der Spitze, dem Männergesang neue Ausgaben.gestellt. Die Chorballade, deren unbestrittener Meister Friedrich Hegar  ist, hat in den letzten Jahren Immer mehr Aufnahme gefunden. Sie setzt sich hinweg über den alten, simpel-gemütlichen Ton der Männerchorgesänge, verwendet die Mittel der Neuzeit in vollem Umfange, erzielt auch brillante Wirkungen, setzt aber eine virtuose Leistungsfähigkeit voraus. Diese zu erringen ist nun bei dem Material, über daS weitaus die meisten Männerchöre verfügen, keine leichte Sache. Gerade bei den Sängcrfesten zeigte sich der Widerspruch zwischen Wollen und Können in sehr auffallender Weise. Kleine Vereine mit sehr bescheidenen Mitteln machten die größten Anstrengungen, die technischen Schwierigkeiten zu überwinden, die nicht selten in der neueren Literatur zu überwinden sind. Natürlich fast immer vergebens. Es kann eben nicht der Zweck kleiner Dilettantenvereinigungen sein, virtuosen Zielen nachzugehen. So entstand das Bedürfnis, eine Sammlung von Gesängen zu schaffen, die inneren Kern mit künstlerischer Fassung verbindet, die weder auf den sentimentalen Ton der alten Liedertafelei gestimmt ist, noch auch virtuose Fertigkeit in so hohem Maße verlangt, wie die neuere, bessere Männerchorliteratur. Da bietet fich nun das Volks- lied dar. Daß es in neuerer Zeit ganz zu verschwinden droht, ist eine oft beklagte Tatsache. Sie hängt tief mit den sozialen Ver- Hältnissen unserer Zeit zusammen. Ob es gelingen wird, dem Zuge der Zeit entgegen, das Volkslied wieder zu Ehren zu bringen, ist eine Frage, die erst die Zukunft beantworten kann. In dem neuen Volksliederbuch ist der Versuch gemacht, das Volkslied wieder fruchtbar zu machen. Eine sehr bedeutende Arbeit ist darin geleistet worden. In zwei starken Bänden von je 800 Seiten ungefähr sind über 600 Gesänge dargeboten. Der leitende Gedanke war, aus allen Jahrhunderten, soweit wir die Literatur überhaupt kennen, eine Auswahl des Besten zu geben, was das deutsche   Volks- lied hervorgebracht hat. Und das ist nicht wenig. Seit den Zeiten der mittelalterlichen Minnesänger bis ins IS. Jahrhundert fließt der Quell, bald rascher, bald spärlicher. Und nicht nur das eigentliche Volkslied ist hier benutzt; auck� das volkstümliche Lied ist berücksichtigt, das gerade in den letzten zwei Jahr- Hunderten zu hoher Bollendung gelangt ist. Die beste Definitton dieses volkstümlichen Liedes hat einer seiner vorzüglichsten Meister gegeben, Abraham Peter Schulz, als er sagte, ein gutes Lied müsse neu sein und doch vertraut klingen. Das Material bestand also zum größten Teil aus Volksliedern, d. h. einstimmigen Volks- melodien, und volkstümlichen Liedern, denen von ihren Komponisten schon die brauchbare Fassung gegeben war. Die besseren wurden einfach hinübergenommen, wenn sie schon von Hause aus für Männerchor gesetzt waren, oder sie wurden für Männerchor ein- gerichtet, wenn eS sich ursprünglich um Stücke für gemischten Chor handelte. Schwieriger war die Arbeit bei den eigentlichen Volks- liedern. Diese sind nur als Melodien überliefert, der Satz für Männerchor, die Harmonisierung mußte bei jeder einzelnen Melodie besorgt werden. Von der Art, wie dies geschieht, hängt der künstlerische Wert der Sammlung ab. Dieser Teil des Werkes ist geeignet, auch höheren künstlerischen Ansprüchen zu genügen. Viele unserer vorzüglichsten Musiker wurden für diese Bearbeitungen herangezogen. Namen wie Richard Strauß  , Engelbert tzumperdinck, Max Bruch  , Wilhelm Berger  , Friedrich Gernsheim  , Karl Reinecke  , Ludwig Thuille  , Her- mann Kretzschmar, Philipp Wolfrum, Georg Schumann   zieren das Werk um nur die bekanntesten zu nennen. Besonderen Dank ver- dienen die Herausgeber dafür, daß sie auch das alte deutsche   Volks- lied gebührend berücksichtigt haben, jene herrlichen Weisen des 14., 15., 16. Jahrhunderts, die den kostbarsten Besitz unserer Volksmusik bilden. Gerade an diesen Melodien wuchs die alte deutsche   Kunst. Das mehrstnnmige Kunstlied des 16. und 17. Jahrhunderts ist im Grunde weiter nichts, als eine kunstvolle Verarbeitung jener damals allbekannten Volkömelodien. Was damals geniale Meister wie Heinrich Isaak  , Heinrich Finck  , Ludwig Senffl, Hans Leo Haßler  , Joh. Herm. Schein u. a. geleistet haben, ist heute leider nur wenigen Kennern einigermaßen vertraut. Von ihren Bearbeitungen der Volksmelodien konnte leider nur wenig für diese neue Sammlung benutzt werden. Die meisten davon sind überaus verwickelte Gebilde, von so großer Schwierigkeit, daß sogar die berufsmäßigen Musiker unserer Zeit ihre Not mit ihnen haben, so oft, richtiger gesagt, so selten sie sich damit einmal ab- geben. Also blieb nichts übrig, als das nächste beste zu tun und die alten Melodien von den vorzüglichsten Künstlern neu bearbeiten zu lassen in einer Art, die unserer Musikpraxis nahe steht. Vielleicht darf man eS später einmal wagen, in ein Volksliederbuch auch alte Originalsätze des 16. Jahrhunderts zu stellen. Man wird billiger- weise den Wert der neuen Bearbeitungen jener Lieder nicht meffen dürfen au den klassischen Stücken des 16. Jahrhunderts. Nichts- dcstoweniger können viele davon auch höheren künstlerischen An« sprächen wohl geniigen. Daß aber das Volkslied in neNcreN Zeiten auch noch so manches Wertvolle darbietet, dafür zeugen die zahlreichen Dialektlieder; da gibt es Lieder in plattdeuischer Mundartz in rheinischem, pfälzischem, elsäsjischem, schweizerischem bayerischem, tiroler, fteirischem Dialekt, von denen die meisten im IS. Jahrhundert noch gesungen wurden, viele noch bis in die Gegen- wart hinein. Es ist nämlich eine merkwürdige Tatsache, daß die heutzutage bekannten Volkslieder fast alle ziemlich jung sind, mit Ausnahme einiger geistlicher Lieder, Choräle, die bis ins 16. und 17. Jahrhundert zurückreichen. Man hat recht getan, den Charakter der Sammlung als»Volks- liederbuch" nicht zu eng zu fassen. Durchaus am Platze ist neben