Nnterhaltungsblatt des vorwärts 9�r. 96. Mittwoch, den 22. Mai. 1907 lNachdruck ccvtotcu.) *] Verloren. Eine Leidensgeschichte aus dem Volke- Von Robert Schweichel . 2. M a r r e. Marie hatte niemand auf der ganzen Welt: sie war eine Waise. Die älteren Leute in Rothenburg erinnerten sich noch sehr deutlich des Tages es war damals, vor achtzehn oder neunzehn Jahren, als die Kunststraße gebaut wurde, die jetzt dem Dorfe vorüber nach Altenbach und weiter ins flache Land führt. Die Steine zum Baue wurden höher im Gebirge ge- brachen und es war eine lustige Arbeit, den zerkleinerten Granit zu Tal zu schaffen. Die kleinen, vierrädrigen Karren rollten mit ihrer Ladung von selbst den vielfach gewundenen Weg hinab. Schwarz, Mariens Vater, war unter den Leuten, die droben die Steine vom Felsen brachen und sprengten. Er war ans Rothenburg gebürtig, und noch nicht lange vcrhei- ratet. Durch das Wegsprengen des Felsens suchte man droben zugleich den nötigen Bodenraum für die neue Straße zu ge- Winnen. Die Svuren der Pulverröhren sind dort noch heute an der glatten Steinwand zu erkennen. Tag für Tag hörte man in Rothenburg das Knallen der springenden Minen, welches zwischen den Bergen wie ferner Donner fortrollte. Eines Tages aber, etwa um die fünfte Nachmittagsstunde, da gab es ein Dröhnen und ein Donnern, wie man es- im Dorfe noch nie gehört hatte. Der Niesenkops war herabgestürzt. Der Riesenkopf hieß die FclskupPc, welche Wohl Jahrtausende die schmale Schlucht überragt hatte, die man für die neue Straße zu erweitern suchte. Verächtlich hatte er auch auf die Menschen herab- geschaut, die ameisengroß an seinen steinernen Gliedern herum- arbeiteten, hieben und stachen. Gewaltige Tannen wurzelten auf ihm, allen Stürmen trotzend, und von ihm herab hingen lauge phantastische Moosbärte. Der rührt sich nicht!" hatte der Ingenieur gesagt. Wie hätten es die Arbeiter nicht glauben sollen, die den Riesenkopf seit ihrer Kindheit kannten? Es achtete niemand darauf, was der Ricsenkopf für ein Gesicht machte, wann die in seine Brust gebohrten Minen sprangen, und hätte einer das Zittern seiner Värte bemerkt, er hgtte es auf den Wind geschoben. Nun lag der Ricsenkopf am Boden, zerborsten, zer- splittert, zerstäubt, und seine Trümmer wölbten sich zu einem fürchterlichen Grabhügel über den Arbeitern, die bei dem Felsen beschäftigt gewesen waren. Gegen Abend des zweiten Tages, nach ununterbrochener Arbeit, wurde endlich der letzte Verschüttete unter den Trümmern hervorgezogen. Der Felssturz hate zehn Menschen das Leben gekostet. Mariens Vater war unter ihnen. Welch Jammern und Wehklagen in dem sonst so heiteren Rothenburg ! Wieviel Tränen von Witwen und Waisen, von Eltern und Geschwistern flössen damals! Des Vaters Tod gab der kleinen Marie lange vor der Zeit das Leben. Am nächsten Sonntage wurden die Verunglückten be- graben. Da waren es nicht zehn, sondern elf Särge, Ivel che im langen traurigen Zuge aus dem Torfe hinausschwankten. Mitten wir im Leben Sind von dem Tod umfangen." sang der alte Schulmeister hinter den Särgen mit zittern- der Stimme und ihm nach sang das ganze zahlreiche Trauer- geleite. In dem letzten Sarge lag Mariens Mutter. Das kaum geborene Würmchen wurde der Frau Wilder, die mit seinen Eltern unter demselben Dache gehaust hatte, in Pflege ge- geben. Die Gemeinde zahlte die Kosten. Frau Wilder war eine kinderlose Witwe. Sie galt allgemein für eine gute Seele! denn sie stritt und zankte nie: sie schwieg, wenn man rauh gegen sie war, sie duldete, daß man ihr unrecht tat. Die Pfeile und Schleudern des un- barmherzigen Lebens vermochten ihr nichts anzuhaben, denn die Nahu hatte sie mit einem undurchdringlichen Panzer von Phlegma dagegen geschirmt. Mit unerschütterlichem Gleich- mut starrten ihre vorstehenden Augen in die Welt, in stetem Gleichschritt vom Morgen bis zum Abend arbeitend um das tägliche Brot. Sie war zugegen gewesen, als Marie das Licht der Welt erblickt, und sie hatte bemerkt, daß Marie mit einer Glückshaube geboren worden war. Diese Glückshaube war nach ihrer Meinung die Ursache, lvarum das zarte Ge- schöpfchen am Leben blieb und gedieh. Die Frauen im Dorfe waren wegen dieser Glückshaube überzeugt, daß Marie ein Glückskind sei, und diese Ueöerzcugung schlug auch in der Brust der Wilder immer tiefere Wurzeln. Es mußte ihr von Marie ein Glück kommen. Wie das Glück beschaffen sein sollte, fragte sie sich nicht. Ihre träge Einbildungskraft brachte es nicht über eine nebelhafte Vorstellung von diesem Glück hinaus, das eines Tages in ihre Stube treten würde. Je länger das Glück aber ausblieb, je aichaltender beschäftigte sich die Witwe mit demselben. Dieses Glück war der einzige leuchtende Punkt in ihrem Innern, um den ihr ganzes nebelhaftes Seelenleben schwerfällig sich herumbewegte. Daß das Glück schon in ihrer ärmlichen Stube sich befand, vor ihr hermnspielte, sich an ihre Schürze hing, wann sie das Haus verließ, ihr später half, wann sie im Bergwalde Spreu las, oder auf dem Felde die Kartoffeln behäufelte, daran dachte sie nicht. Geht es doch den meisten Menschen so! Sie erkennen das Glück nicht, welches verlangend nach ihnen die Arme ausstreckt. Kaum e i n Sehender unter Tausenden. Nicht die Geburt, sondern das Leben macht die Glücks- kinder. Marie wäre ohne Zweifel ein Glückskind geworden, wenn ihre Pflegemutter sie geliebt hätte. Marie hatte es nickst schlecht bei ihr. Ihre seelische Trägheit bewahrte die Witwe davor, je die Geduld mit dem Kinde zu verlieren, oder es hart oder gar rauh zu behandeln: aber sie hate auch nie einen Blick, ein Lächeln, ein Wort der Liebe für die arme Waise. Marie erfuhr nie, was Liebe sei, und sie erfuhr auch vieles andere nicht. Frau Wilder wußte nichts zu reden, denn die Arbeit um das Leben stand wie ein unbarmherziger Sklavenaufseher hinter ihr, und je tiefer sie sich in dämmernde Träume von dem Glück einspann, das ihr von Marie kommen sollte, je schweigsamer wurde sie. Sie fuhr immer wie plötzlich aus dem Schlaf geweckt auf, wenn Marie sie einmal etwas fragte und ihre fest stehende Antwort war:Ich weiß nicht." Marie fragte endlich nichts mehr. Sie wurde schweigsam wie die Witwe. Die unzähligen, unerbittlich logischen Fragen der Kinder find die Fühlhörner, welche der ertvachende Geist in das Leben hinausstrcckt, um seinen Weg durch die nnbe- kannte Welt zu finden. Die arme Marie mußte ihre Fühl- hörner allmählich alle einziehen. Die Welt blieb ihr fremd und wunderlich. Die Dorfschule konnte davon nicht viel wieder gut machen. Sie vermochte eben nicht nach dem zu fragen, was sie nicht verstand und der Schulmeister dachte zuletzt daran, sich gerade mit ihr besondere Mühe zu geben. Sie war ja ein Gemeindekind. Er wäre bei den Bauern, und namentlich bei den wohlhabenden, schön angekommen, wenn er ihren Kindern weniger Zeit als der kleinen Marie getvidmet hätte. Es war nämlich ein neuer Schulmonarch in Rothenbnrz aufgekommen. Die kleine Marie hatte eben mit Mühe und Not die oberflächliche Bekanntschaft mit dem A-B-C gemacht, als Frau Wilder eines Morgens von einem durchaus ungewöhn- lichen Reinlichkeitstrieb ergriffen wurde. Sie wusch nicht nur ihr Pflegetöchterchen gründlich, sondern sie kämmte dem- selben auch die Haare und zöpste sie, obgleich es an einem Wochentage war. und steckte das Kiiid schließlich in ein Fähw chen, das für einen Sonntagsanzug galt. Alle Schulkinder wurden in diesem Morgen gescheuert und herausgeputzt, denn es war ein Fest, zu dem der Herr Schulinspcktor nach Rothen- bürg herübergekommen war. Der alte Lampe, der Schul» meister, welcher Mariens Eltern zu Grabe gesungen hatte, wurde in den Ruhestand versetzt. Dreißig Jahre lang hatte er die nachwachsende Jugend Rothenburgs in die Geheimnisse der Fibel und des Einmaleins eingeweiht und man fand es höchsten Ortes an der Zeit, eine jüngere Kraft an seine Stelle zu schielen, zumal sich der alte Lampe mit der neuen Lautier»