Anterhaltimgsblatt des vorwärts

Nr. 102.

Donnerstag den 30 Mai.

1907

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Verloren.

lNach druck verboten.)

Eine Leidensgeschichte aus dem Volke. Von Robert Sch weichet Nehrings Mienen waren so hell und heiter geworden. wie ihn Marie noch nie gesehen hatte. Nun war auch sie froh, dasj er sie gefragt hatte. Jetzt lag nichts mehr zwischen beiden. Eine innere Stimme sagte Marie, daß Nehring nicht mehr über jenen dunkeln Fleck grübeln würde. Nun ist's gut," rief Nehring, indem er wieder auf- stand. Er warf einen spähenden Blick in dem Garten umher. Es war niemand darin außer ihnen beiden. Die Sonne war hinter den Bergen verschwunden und der erwachte Abend- wind rauschte kühl und stark im Laube. Vom Dorfe herauf scholl das Gebell eines Hundes. Im Tale war es dunkel und still, während am Himmel das Abendrot friedlich und feierlich verblaßte. Marie," begann der junge Gesell mit gedämpfter Stinime. Dann stockte er und seine Brust hob sich wieder schwer. Ach, wir wollen nicht mehr davon reden," bat Marie, welche ihn mißverstand. Nein," sagte er kopfschüttelnd und dann warf er den Hut fort. Er strich sich durch die Haare und atmete tief, daß seine breite Brust schwoll. Er brauchte Luft: er hätte den Strom des Abendwindes eintrinken mögen, um sich das seit- sam gepreßte Herz zu dem zu erleichtern, waS er noch zu sagen hatte. Und was hatte er noch zu sagen? War es ihm nicht mehr genug, daß Marie an seine Unschuld glaubte? Un­genügsames Menschenherz I Das Erreichte sättigt es nie, was es auch sei. Seine Brust war voll von dem, was er noch sagen wollte, itnd doch konnte er kein Wort finden. Marie ward verlegen und rot, sie wußte nicht warum, und ein wunderbares Bangen machte ihr Herz schneller klopfen. Sie faltete die Hände, deren Fläche gen Boden kehrend und blickte beklommen vor sich nieder. Marie," preßte er endlich heraus und sie fühlte seine Hand mit einem Druck an dem Gelenk ihres rechten Armes, dessen Schmerz sie sonst wohl hätte ausschreien lassen. Sie schrie nicht. Ihr Kops sank tiefer auf die Brust. Stärker brauste der Abcndwind in den Zweigen, als wollte er noch einmal seine Macht zeigen, bevor er sich zur Ruhe begab und tiefe Stille die Welt deckte. Das Brausen des Windes übertäubte die wenigen Worte, welche Nehring stammelnd seinem Ruf folgen ließ. Marie lag an seiner Brust und dann lief sie fort. Er sah ihr nicht nach. Er stand und schaute zu den Sternen hinaus, die heller und heller droben aufleuchteten. Sein Antlitz leuchtete wie die Sterne. Er hätte den Erdball auf seiner Schulter tragen können und er hätte ihn nicht gefühlt. Er fühlte sich selber nicht, und als er ging, war es ihm, als würde er den Berg hinabgetragen. Gute Nacht, Marie!" Er glaubte, er hätte es laut hin- ausgerufen, und er hatte es nur gedacht. Marie wußte nicht, wie ihr der Rest des Abends verging. Sie tat ihre gewöhnlichen Obliegenheiten, ohne ein Bewußt- sein davon zu haben. Erst als sie sich niedergelegt hatte, fand sie sich unter Tränen wieder. Es waren köstliche Tränen und sie ließ dieselben rinnen. Ihr Herz ward frei unter denselben. O. Mutter I lispelte sie. So lag sie eine Weile regungslos, die Hände über der Brust gefaltet, und wer sie so hätte sehen können, würde ein Lächeln wie das eines Kindes auf ihren Lippen gefunden haben. Dann stand sie auf und ging an das kleine Kammerfenster, das sie öffnete. Suchend blickte sie nach dem Himmel. Endlich entdeckte sie ihn, den Stern, welcher der Vertraute ihrer Kindheit gewesen war. Sie schaute lange, lange zu ihm auf und ihre Seele hielt Zwie- spräche mit dem abgeschiedenen Geist der Mutter, wie in den Tagen der Kindheit. Ihre Seele war rein wie das Licht, welches die fernen Welten auf ihr Haupt herniedersandten. Von ihrer Mutter sprach sie zuerst am folgenden Tage mit Gottlieb, nachdem sie ihm den Abendtrunk gebracht.

Diesmal sagte sie nicht: wohl bekomms! Ihre Wangen glühten in Feuer auf, als sie den Feierabcndruf vernahm. und die Schain lag noch auf ihnen, als sie an Nehrings Tisch trat. Sie hatte nur einen Blick siir ihn. Auch er sagte nichts: stumm reichte er ihr die Hand und sie erwiderte deren Druck innig, während sie einander mit schimmernden Augen an- schauten. Marie hatte die Mutter nie so vermißt wie jetzt. Ja sie gelangte erst durch die Liebe zu Gottlieb zu der ganzen schweren Bedeutsamkeit ihres Verlustes. Es war mehr als Anhänglichkeit und Dankbarkeit gegen die Pflegerin ihrer Jugend, wenn sie Gottlieb eines Tages aufforderte, mit ihr zu der Frau Wilder zu gehen. Sie wollte sich nicht selbst weggeben. Die Witwe sollte es tun. Es war für Marie etwas wie ein Halt darin. Am nächsten Montagnachmittag ließ Göttlich die Arbeit ruhen. Er kam in seinen Sonntagskleidern nach dem blauen Engel Marie hatte gleichfalls ihre besten Sachen angelegt, und so gingen sie beide nach der Hütte der Witwe. Die Alte war eben beschäftigt gewesen, einen ihrer Röcke auszubessern. Der Flecken, den sie aufsetzte, war rot, der Rock war einmal grün gewesen. Der Flecken, wenn derselbe erst aufgesetzt war, versprach länger auszuhalten als der Rock. Aber die Alte hatte schon nach einigen Stichen die Hand mit der Nadel sinken lassen. Wenn erst das Glück kam, dann brauchte sie nicht mehr zu flicken. Und ihre Gedanken waren dem Glücke nachgewandert. Sie suchte mit sich darüber ins Reine zu kommen, ob sie sich nicht einen roten Nock wünschen sollte. Als das junge hübsche Paar zu ihr in die ärmliche Stube trat, starrte sie dasselbe regungslos an, bis ihr Marie mit einer verschämten Miene zurief: Mutter, das ist der Gottlieb Nehring, und wenn Du nichts dagegen hast, so will er mich heiraten." Ja, das will ich," bekräftigte Gottlieb,und ich verdiene schon, was wir beide brauchen. Ich will die Marie gut halten wie meinen kleinen Finger. Das ist die Wahrheit. Keine Frau soll's besser haben wie sie." Die Alte sah von Marie zu ihm und wieder zurück auf das Mädchen. Die Wirklichkeit begann wieder, sie in ihre unfreundlichen Arme zu nehnien. Wie siehst denn aber aus?" begann sie gegen Marie. Hab' Dich mein Lebtag so nicht gesehen. Bist so ganz glanzig, als ob ein Licht in Dir brennt und durchscheint." O, ich weiß nicht, was es ist," entgegnete Marie, indem sie sich verlegen mit der Hand über das Gesicht strich. Der Geselle lachte mit frohem Stolz. Dann sagte er: Also Ihr habt nichts dagegen, wenn wir einander heiraten?" Heiraten?" fragte die Alte kopfschüttelnd.Ich war auch eininal verheiratet. Es ist kein Segen dabei. Es ist bei nichts ein Segen, wenn nicht das Glück kommt. Ich Hab' darauf gewartet, seit die Marie geboren wurde, aber es will nicht kommen." Du willst also nicht, daß mich der Göttlich nimmt?" fragte Marie etwas betroffen. Ja. was kümmert's mich denn, wer Dich nimmt," cnt- gegncte die Witwe.Bin ja nicht Deine Mutter. Aber es ist kein Segen dabei: es ist bei nichts Segen. Wo wirst denn wohnen?" In Altenbach . Mutter!" Und Ihr seid der Bräutigam?" fragte die Alte den Maurer. Dieser nickte und sie fuhr fort:Mein Mann war so groß und stattlich wie Ihr. Er hat drei Jahre lang das Fieber gehabt und sich zu Tod' gehustet. Es ist kein Segen beim Heiraten, wenn nian arm ist und das Glück will nicht kommen.. Gottlieb, der ihr mit einer peinlichen Verwunderung zugehört hatte, gab Marie heimlich einen Wink. Sie wollten fortgehen. Die Witwe dachte nicht daran, sie zurückzuhalten. Na, komm' mal wieder," war alles, was sie in gleich- mütigcm Tone zu Marie sagte, als diese von ihr Abschied nahm. Niedergedrückt von den Reden der Alten gingen Gottlieb und Marie eine Zeitlang schweigend neben einander her. Endlich blieb er stehen und scwte:Gelt, Marie, ich weiß, wovon Du so glanzig ausschaust. Du liebst mich und ich liebe