Nttterhaltungsblatt des vorwärts Nr. 103. Dienstag, den 4. Juni. 1907 131 Verloren. (Nachdruck verboten. < Eine Leidensgeschichte aus dem Volks. Von RobertSchweichel. Er mußte doch endlich gehen. Sein Bangen um Marie war nur zu gerecht, denn als er sich zögernd entfernt hatte, und Marie allein war, da empfand sie die Schneide des Streiches, der ihr Lebensglück gefällt hatte, um so furcht- barer. Sie verbrachte diese und die folgenden Nächte in verzweifelndem Weinen. Ten Tag über schwankte sie in einer an Bewußtlosigkeit grenzenden Betäubung umher. Es waren Tage und Nächte, von denen sie später nur eine Er- innerung der Leere hatte. Und dann behauptete die Natur ihr Recht. Sie brach der Verzweiflung, dem Schmerz die Spitze ab. Die Gegenwart war tot, die Zukunft ein kaltes Grab. So lag sie vor Marie, so lag sie vor Gottlieb. Sie wußten beide nicht, was werden sollte. Beide hatten sich an diefem Gedanken stumpf gedacht. Als der alte Lampe begraben wurde, zuckte es während' des Gebets des Pfarrers seltsam auf in Gottliebs Mienen. Später sagte er zu Marie:Fch wollt', der Alte Hütt' noch bis zu»reiner Zurückkunft gelebt!" Marie blickte scheu vor sich nieder. Auch sie hatte an den Trost jenes gedacht, als sie den Trauerzug die Dorfgasse hatte hinunter schwanken sehen, und sie fühlte sich unfähig, mit ihrer Hand die Falte zu glätten, die sich in Gottliebs Seele bildete. Aber auch die letzten Worte des Sterbenden waren ihr wieder eingefallen: ..Hab ihn lieb und lasse nicht von ihm!" Von ihm lassen! Wie konnte sie es? Daß sie einander in diesem Leben nimmer gehören sollten, machte es ihnen beiden unmöglich, von einander zu lassen. Sie brüteten beide für sich darüber, daß sie sich trennen müßten, sie sprachen es auch gegeneinander aus. daß es am besten sei, wenn jedes feinen gesonderten Weg weiter ginge. Dumpf und klanglos kamen die Worte über ihre Lippen: Aber das Herz besaß nicht den Mut, dasjenige auszuführen, was sich dem Ver- stände als notwendig aufdrängte, und der Verstand verlor sein Recht, wenn das Auge dem Auge begegnete. Ver- zweifelt warf sich dann Marie an die Brust des Gesellen und umklammerte leidenschaftlich seinen Nacken. Das Unglück schlug die einst so hell und heiter auf- lodernde Flamme ihrer Liebe nieder, daß sie mit einer dunklen heftigen Glut brannte. Gottlieb kam zwar täglich nach dem blauen Engel, aber es war ihm unmöglich, sich in die Wirtsstube zu setzen. Es wußte ja jeder im Dorfe, daß er und Marie nimmer ein Paar werden konnten und er traf nicht das Unrechte, wenn er wähnte, daß die Leute gern von ihm gewußt hätten, was er nun zu tun gedächte? Er kam um eine bestimmte Stunde, wo er Marie allein in der Küche wußte. Die übrige Zeit verbrachte er daheim mit den wenigen Büchern, die ihm Lampe hinterlassen hatte. Unter denselben befand sich auch eine Bibel. Gottlieb las viel darin und grübelte darüber. Es war kein Trost, den er aus den beiden Testamenten schöpfte. Er suchte auch keinen darin: sondern verglich das Treiben der Menschen mit den göttlichen Vorschriften. So kam das Frühjahr heran. In Gottliebs und Mariens Brust gab es weder frisches Laub noch neue Blüten. Als Gottlieb am zweiten Pfingstfeiertage gegen Abend nach dem blauen Engel kam, sagte ihm der Wirt, daß Marie eben nach den Ruinen hinaufgegangen sei; es seien Gäste oben, die sich eine Mahlzeit binaufbestellt hätten. Gottlieb ging ihr nach. Er sah sie mit einem großen Korbe, den sie auf dem Kopfe trug, langsam über die Halde schreiten. Er rief und sie wandte sich nach ihm um. Ich dacht eben an Dich," sagte sie, als er sie eingeholt hatte, mit einem von Innigkeit schimmernden Blick.Ich soll warten oben, um das Geschirr wieder mit herunter zu bringen, und da dacht ich. Du kämest unterdessen und gingst wieder fort, weil ich nicht da sei. Jetzt gehen wir mitsammen hinauf und haben auch ein Stück Feiertag." Ja, das ist wirklich wie ein Geschenk," entgegnete Gott - lieb, indem er Marie den schweren Korb abnahm. Sie traten in den Wald. Welch ein Leben voll Wohl- laut in der goldig grünen Dämmerung! Die Vögel schlugen. zwitscherten, trillerten, riefen und lockten einander und jubelten in glücklicher Liebe. Wenn es keinen Heiratskonsens in der Welt gäbe," sagte Gottlieb,dann gingen wir jetzt als Mann und Fran spazieren und die Vögel sängen uns lustiger. Es wär' mit ihrem Singsang auch bald vorbei, wenn sie erst anfragen müßten, ob sie ihr Nest bauen dürfen. Zuletzt wird einer noch einen Erlaubnisschein haben müssen, ob er auch geboren werden darf. Was darf der Mensch denn eigentlich noch?" Sei doch still." bat Marie sanft und brückte seine Hand.Hier ist einem wohler, als unter den Menschen." Hast recht," sagte er.Unsereiner mutz zu den Tieren in den Wald laufen, wenn er nicht unter seinesgleichen teufelswild werden soll." Sie hob ihre schönen Augen mit einem traurigen Lächeln zu ihm auf, und er ward still. Nach einer Weile blieb er stehen und den würzigen Frühlingswaldduft einatmend, sagte. er:Ja, hier ists schön. Marie!" Er setzte den Korb nieder und betrachtete sie mit strahlen, den Blicken. O, so schön," bestätigte sie leise.Als ich noch ein klein' Ding war," fuhr sie fort, während er sie liebevoll um- faßte,da war ich nie so froh, als wenn die Mutter im Frühling mit mir hierher nach Reisig ins Holz ging. Da faß ich denn irgendwo ganz still, wo es blühenden Wald- meister gab, und hörte zu, wie die Vögel sangen. Manchmak fand mich die Mutter nachher eingeschlafen, aber ich hört' auch im Schlaf die Vögel immerfort singen. Gottlieb küßte sie zärtlich. Endlich gingen sie weiter und ihre Augen leuchteten. Die späte Nachmittagssonne vergoldete den zerbröckelten und zerfallenen Turm der Rotenburg . Das Licht umspielte ihn wie ein holder Jugendtraum den Greis, ihn tröstend über zertrümmerte Hoffnungen und Freuden. Gleich diesen lagen die Ruinen der einst so stolzen Burg zu den Füßen des selbst schon halb Verwitterten und ein neues Geschlecht war um ihn laut, das er nicht verstand. Wie verwundert mochte der alte Turm nicht auf die Gesellschaft herabblicken. die sich in seinem Schatten gelagert hatte, wenn er sie mit den Erinnerungen seiner Jugend verglich! Es war ein munteres Völkchen, das an dem schönen Pfingsttage in dem alten Gemäuer f-ein Wesen trieb und nach manchem Spick jetzt in dem Schatten des Turmes ausruhte. Die jungen: Männer lagen zu den Füßen der Mädchen hingestreckt, welche das Haar mit Lkränzen von Ephcu, Waldmeister und Erd- bcerblüten geschmückt hatten. Eine von den Schönen ließ die Saiten einer Guitarre erklingen, und während die Töne unter ihren Fingern hervorperlten, ward von den anderen mancher schüchtern fragende mancher schelmische, mancher schniachtende Blick getauscht, manche Hand verstohlen gedrückte Jugend, Heiterkeit und Glück schauten aus strahlenden Augen auf die schöne, bräutlich blühende Welt hinab. Marie folgte Gottlieb in die Ruinen, nachdem sie den von ihm hinaufgetragenen Korb der Gesellschaft übcrant- wortet hatte. Hand in Hand, wie sie am liebsten miteinander gingen. schritten sie zwischen den Schloßrninen umher. Von Zeit zu Zeit blieben sie stehen und schauten über die Berge in das Tal. Sanft gerundet mit Tannen oder Laubholz be- kleidet, dessen junges Laub sich hell von den dunklen Föhren abhob, ragten die Berggipfel zu dem Frühlingshimmel empor- Ein blauer Duft ruhte zwischen ihnen und umschwamm die fernen Höhen, ihre Umrisse sänftigend, sie verhüllend und endlich mit dem Himmel zusammenfließend. In der Tiefe glitzerte und flimmerte der Bcrgstroin und die hier und dort an den Abhängen zerstreuten Dörfer lagen wie Rothen- bürg unter Blütenschnee verschüttet. Dunkel rollte der Strom an den altertümlichen Mauern von Altenbach vorüber, welches von hier oben zum Teil sichtbar war. Auf der Ebene, die sich hinter der Stadt wie eine Landkarte ausbreitete, lag noch der warnie Sonnenschein und blitzte in ihm hier und