Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 111.
19]
Verloren.
Mittwoch, den 12. Juni.
( Nachdrud verboten.)
Eine Leidensgeschichte aus dem Volke.
Von Robert Schweichel . Marie hielt sich die nächsten Tage still in der Wohnung der Alten. Sie wollte um alles in der Welt nicht, daß Gott lieb für ihren Unterhalt arbeitete. Aber sie gewann es nicht über sich, den Leuten im Dorfe schon so bald sich zu zeigen. Indessen wurde es durch die Witwe bekannt, daß Marie wieder in Rothenburg sei und eines Abends kam Petermann zu ihr in die Wohnung der Alten.
" Sei nur ruhig," sagte er, als er Mariens Verlegenheit und Scham gewahrte. Es wandelt keiner in diesem Leben auf Rosen, und es hat keiner Ursache, sich darüber zu freuen, wenn seinen Nächsten die Dornen an einer anderen Stelle als ihn stechen. Gestochen wird aber jeder. Und das ist der Wirte Vorteil," setzte er scherzend hinzu. Gäb's feine Sorgen, so brauchte der Mensch auch keine Sorgenbrecher, und die findet er im Wirtshaus. Ja, ja, hat mancher schon im blauen Engel vergessen, wo es ihn stach und was ihn drückte. Petermann machte der Marie den Vorschlag, wieder in ihren früheren Dienst zu treten.
"
1907
Marie wurde es bald gewahr, wie man von ihr in Rothenburg dachte. Es hätte einer stärkeren Seele bedurft, als sie besaß, um bei der zur Schau getragenen Verachtung gegen sie und den geflissentlichen Stränkungen, die sie bei jeder Gelegenheit von ihrem eigenen Geschlechte erfuhr, nicht den Mut sinken zu lassen. Sie war eine Ausgestoßene in ihrer Heimat. Selbst die kleinen Mädchen und Buben riefen ihr häßliche Namen nach, wann sie ihrer außer dem Hause ansichtig wurden. Sie selbst hatte sich keiner Täuschung darüber hingegeben, daß ihr mit der Trennung von Gottlieb das schwerere Los gefallen fei. Sie hatte ihr Verhältnis zu ihm immer als ein Unrecht empfunden und manche heimliche Träne deshalb auf das Haupt ihres Töchterchens geweint. Sie empfand es als eine Buße, das Urteil der Welt, dem sie durch eine Vergrößerung ihrer Verirrung hatte entfliehen wollen, demütig über sich ergehen zu lassen. Sie hatte vor dieser Buße gezagt und gezittert; aber so schwer, so furchtbar hatte sie sich dieselbe nicht vorgestellt. Und sie hatte niemand, dem sie ihr Leid hätte klagen können!
ich bin fein Schaf, daß ich mir nur so abschlachten ließe! Die ganze Welt möcht' ich zusammenschmeißen."
Gottlieb fand sich freilich an jedem Montag Nachmittag in der Stube der Wilder ein, und traf hier mit Marie zusammen, aber es wurde in seinem Wesen eine Verwandlung immer sichtbarer, welche Marie über das eigene Leid die Lippen schloß. Er vermochte die Gedanken nicht abzuschütteln, welche über ihn kamen, wann er nach vollbrachtem Tagewerk in seine jett einsame Stube trat. Alles, alles erinnerte ihn dort an seinen Verlust. Da saß er denn allein mit aufIch hab's mit meiner Alten überlegt," sagte er. Seit gestützten Ellenbogen an dem Tisch, an dem ihm sonst Marie die Regine fort ist, gibt es nichts wie ergernis mit den mit dem Kinde gegenüber gesessen hatte, und grübelte bis in Dienstboten. Du weißt, wie das Ding bei uns gehen muß, die Nacht hinein. Und in seinem Gemüt wurde es immer wir sind aneinander gewöhnt, und Du kennst unsere Gäste. dunkler, und Marie bemerkte, daß die Schatten zwischen seinen Du brauchst nicht gleich zu kommen. Wart' noch ein paar Brauen von Woche zu Woche finsterer wurden. Ein unheimTage, ich will's inzwischen unter die Leute bringen, daß sie liches Feuer begann sich in seinen Augen zu entzünden. Der nicht die Mäuler aufsperren, wie ihre Scheunentore zur Geist ward mächtiger und mächtiger über ihn, von dem der Erntezeit, wann sie Dich wieder im blauen Engel sehen." alte Lampe auf seinem Sterbebette zu Marie geredet hatte. Er ging nicht eher fort, als bis er feinen Zwed erreicht, Aber diese besaß feine Mittel, den Geier zu verscheuchen, der und Marie hatte es gut im blauen Engel, nun Regine ver- an seiner Leber fraß. Einmal, als ihn Marie bat, sich doch heiratet war. Mit Ausnahme der Mutter vermißte diefelbe in das Unvermeidliche fügen, da er es nicht ändern könnte, niemand zu Hause. Der unbehilflichen Frau aber schien das Haus wie ausgestorben, seitdem sie nicht mehr die feifende fuhr er wild auf. ,, Aendern kann ich's freilich nicht," rief er mit gerunzelter Stimme ihrer Tochter darin hörte. Ihr Trost war der Stirn, und wenn sie mir jezt den Heiratskonsens schenkten, Schulmeister, welcher nach wie vor einen Teil seiner Frei- ich könnte nicht mehr glücklich werden, wie ich's war. Aber stunden neben ihrem Lehnstuhl zubrachte, wofür ihm manches Gute zugewendet wurde. Er mußte erzählen, was alles im Dorfe borging und das Kreisblatt vorlesen. Gegen Marie Auf dem Heimwege begegnete er dem Amtsrichter. Er hegte er einen geheimen Aerger. Er hatte auf den Nachlaß des alten Lampe ein besseres Recht als Nehring zu haben ging mit einem finsteren Blick an demselben vorüber, ohne ihn geglaubt und er beschuldigte Marie bei sich, den Alten auf zu grüßen, wie er sonst wohl getan. Aber die boshaften Nadelstiche, das kränkende Benehmen, feinem Sterbelager zugunsten Nehrings beschwazt zu haben. Deshalb suchte er durch Frau Petermann durchzusetzen, daß die tugendstolze Geringschäßung der Rothenburgerinnen Marie nicht wieder in den Dienst des blaun Engel träte. Aber waren richt das schlimmste, was Marie schweigend zu erFrau Petermann besaß keinen Einfluß auf ihren Mann dulden hatte. Biel ärger waren die unzweideutigen Späße, und das böse Beispiel, worauf der Schulmeister gegen diesen welche sich die männlichen Gäste, besonders die städtische vorsichtig deutete, erregte sein Lachen. Der Schulmeister war Jugend, gegen die Arme erlaubten, die Zudringlichkeiten und überhaupt immer sehr vorsichtig, mehr als vorsichtig gegen boraussetzungsvollen Zumutungen, von denen sie verfolgt die reichen Bauern von Rothenburg . Er glaubte nicht fest wurde. Die Gäste hatten sich auch wohl früher einen Scherz genug in ihrer Gunst sißen zu können und er verstand es gegen sie herausgenommen; allein eine solche rücksichtslose bortrefflich, ihnen zum Munde zu reden, indem er sich den Sprache hatte ihr Chr sonst nicht beleidigt. Was war denn Anschein gab, als habe er eine eigene Meinung, und würde geschehen, eine solche Sprache, ein solches Benehmen zu rechtnur durch die vortrefflichen Gründe des anderen eines fertigen? Marie begriff es nicht, wagte nicht, es zu fassen, Besseren belehrt. Er selbst entwickelte die Gründe des und als es ihr flar wurde, ergriff sie schwindelndes Entseßen anderen und pries das Schlagende derselben und ihre Un- bor dem häßlichen Zerrbild ihres Selbst, das ihr aus der widerlegbarkeit, so daß sich dieser wunder wie flug dünken Meinung der Menschen über sie entgegenstarrte Ihr graute durfte. vor diesem Bilde mit der zunehmenden Furcht, daß es lebendig werden möchte Die Sprache der Verführung, die sich ihr gegenüber nicht zu verschleiern für nötig erachtete, berwirrte und betäubte sie wie ein gähnender Abgrund den jenigen, der mit einem nicht schwindelfreien Kopfe hinabschaut.
Allerdings ist es vielleicht kein gutes Beispiel, wenn Sie die Marie wieder in das Haus nehmen," sagte er zu Petermann, allein im Geschäft hat man freilich andere Rücksichten zu beobachten. Versteht sich, versteht sich, da kann Ihnen niemand einen Vorwurf machen. Und wenn ich bedenfe, daß die Marie ordentlich und willig ist, daß die Gäfte dieselbe immer gern gehabt haben, daß sie Ihr Hauswesen durchaus kennt, so haben Sie vollkommen recht. Ja, ja so ein Geschäftsmann wie Sie, Herr Betermann, der sieht die Dinge immer gleich von der richtigen Seite an."
Natürlich sahen nach seiner Meinung die Leute die Dinge auch von der richtigen Seite an, welche Marie verdammten, weil sie zu Gottlieb in die Stadt gegangen war.
Reiner benahm sich gegen die Arme zudringlicher, feiner war in seinen Reden frivoler gegen sie, als der Sohn des reichen Bäders am Markt in Altenbach. Der junge Nösen war ein verdorbener Gymnafiaft. Der Sprung von der Schulbank auf die Universität war ihm wiederholt mißlungen. Jekt trieb er sich zu Hause umher und vertat seines Vaters Bazen auf dem Billard und in den Wirtshäusern. Des Vaters Gewerbe zu ergreifen, dazu dünfte er sich zu vornehm.