Stratzendirnen gingen auf den Strich. 1766 wurde eine achtund- vierzigjährige aufgegriffen, die sich auf einer Treppe schlafen gelegt hatte. Bei einer anderen Arretierten wurde festgestellt, datz sie drei Wochen lang in den Gängen des Schlosses Abenteuer gesucht und offenbar auch gefunden hatte. Sie war allerdings nur 14 Jahre alt. Die Nachsicht, die man in der Regel diesem Proletariat einer Halbwelt zuteil werden ließ, deren Königin als Madame Pompadour von den Fürstenhöfen Europas umbuhlt wurde, stellt allerdings ein Stück Tradition dar. Bis zum 16. Jahrhundert wurden nämlich leichtfertige Frauen dem Hof direkt attestiert. Der Haushofmeister führte die Aufsicht über sie. Die„ndauÄss" waren eine offizielle Einrichtung. Sie hatten einen eigenen Beichtvater und gingen alle Jahre am Barbaratag— dem Fest ihrer Schutzpatronin— dem König einen Blumenstrauß überreichen, wofür sie eine Gratifikation von 46 Livres bekamen. Es scheint sogar, daß die„Dame"— so hieß die Leiterin dieser eigenartigen Kategorie von Hofbediensteten — für sich und ihre Untergebenen ein festes Gehalt bezogen hat. � Theater. Neues Schauspielhaus. Sommer-Ga st spiel unter Harry Walde n.(„Naffles", Schauspiel in 4 Akten von Hornung und Presbrey.) Das englische Stück ist ein Sherlock Holmes mit umgekehrter Pointe. Der virtuose Detektiv, der in den Holmes -Novellen und-Dramen mit einem Netz fein- gesponnener Kombinationen die Uebeltäter umstellt und zur Strecke bringt, findet hier noch einen schlaueren, aus allen Fallen immer wieder entwischenden Berbrecher-Widerpart. Die aristokratischen Geldschränke, an denen Mr. Raffles sich versündigt hat, bleiben un- gerochen, und das„Laster", das noch immer menschlich sympathischer als jene sportsmäßig ausgeübte Menschenjägerei anmutet, triumphiert in höchst vergnügtem Abgang. Der Schluß, der u>n so lustiger ein- schlug, da die Autoren mit raffinierter-Berechnung den Schein er- weckt hatten, als steuerten sie einem tränenreichen nioralisch-melo- dramatischen Ende zu, entschied in letzter Linie den Erfolg; er ließ den faden Nachgeschmack, den solche rein auf das Ber - blüffen angelegte Gewaltsachen sonst regelmäßig erzeugen, gar nicht aufkommen. ES lag ein Spannungsreiz in dem mit skrupelloser Nichtbeachtung aller Wahrscheinlichkeitsbedenken geschickt durch- geführten Spiel und Gegenspiel der zwei gerissenen Kunden, in dem die Bluffs so rasch wie im Pariser Schwanke folgten. Ein An- zeichen von Selbstkritik und von Geschmack war es dabei, daß die Verfasser sich gar nicht erst den Anschein gaben, als prätendierten fie, die Leidenschaften, die sie als Hebel und Auslöser von Effekten hier und da verwenden, sollten ernst genommen werden; Eifersucht, Rachsucht,„wahre Liebe" und was derlei sonst noch Vonnöten, wurde im Telegrammstil mit drollig summarischer Kürze, mit einem Augenblinzeln, man möge den kleinen Aufenthalt entschuldigen, prompt erledigt. Raffles, der verwöhnte Liebling der feinen Londoner Gesellschaft, deffen Eleganz alle Ladyherzen zum Schmelzen bringt, revanchiert sich einerseits des Geldes wegen, aber auch aus angeborener Neigung zu dein aufregenden Gelverbe, für die erwiesene Gast- freundschaft durch Expropriation hervorragender Schmuckgegenstände. Alle Welt spricht von dem Ainateur-Einbrecher, was seiner Eitelkeit und Sensationslust nicht wenig schmeichelt, und ein Extravergnügen bereitet es ihm, unmittelbar unter den Augen eines hochberühmten speziell gegen ihn engagierten Detektivs seine Streiche� fortzusetzen. Nach vielen Kreuz- und Ouerzügen geht es ihm scheinbar an den Kragen. Seine Wohnung ist umstellt. Der hartgesottene Sünder zeigt wohltuende Reue, erhebt sich sogar, etwas spät, zu den Gefühlen reiner Liebe und spielt bedeutungsvoll mit dem Revolver. Tragisch geht er ins Nebenzimmer, ein Schuß knallt. Doch sobald die Verfolger ihm dahin nachstürzen, riegelt sein Freund die Türe zu und der angebliche Selbstmörder springt wohlbehalten reisefertig auS dem geheimen, die beiden Stuben ver- bindenden Wandschränke eines Uhrgehäuses und verschwindet mit spöttischem Gruße. Harry Walden verlieh dem weltmännischen Gaunertypus einen eigenen Charm, eine anmntig blasierte Couragiertheit indi- viduellen Gepräges, die über alle Unmöglichkeiten der Rolle hinweg- half. AuS dem Ensemble verdiente Herr Starnburg als kalt- blütig kaustischer Detektiv und P a u l K o r n. der einen armen Kollegen Naffles. einen Dutzendeinbrccher sehr naturalistisch spielte, besondere Hervorhebung. Das Publikum war sichtlich interessiert. dt, Musik. Unser„Zentral-Theater" macht in seiner Sommer- Raison bei Kroll Anstrengungen nach etwas Höhcrem. Wir haben schon immer bedauert, daß sich die großenteils tüchtigen Kräfte dieses Theaters in so viel Operettenschund verzehren müssen. Jetzt ist ihnen u. a. in Bizets„Carmen" eine Aufgabe gestellt worden, welche geeignet ist, gute Kräfte zu entfesseln, aber auch vor- handene Schranken deutlicher zu zeigen. Montag gab es eine von diesen Aufführungen.« Die Regie brachte neben unnötigen Nach- läsfigkeiten, zu denen auch einige starke Striche kamen, manches Vernünftige und Sympathische; anscheinend hat die Sorgfältigkeit der„Komischen Oper" in solchen Dingen hier vorbildlich gewirkt. Der Grund, daß wir aus den vielen Wiederholungen, welche derzeit die Operntätigkeit Berlins ausmachen, gerade diesen Abend gewählt haben, war das Gastspiel der mit Recht berühmten Sängerin M, Gutheil-Schodex aus Wien . Es wird selten wieder eine Künstlerin geben, die cS so sehr versteht, alles Niedrige und Theatralische von sich ferne zu halten, und die uns so sehr zur An» schauung bringt, in welchem Sinne Musik Ausdruck ist. Sie faßte die Persönlichkeit der Carmen im Gegensatze zu den gewöhnlichen Auffassungen als eine vornehmere Gestalt auf, deren LiSbesglut weniger elementar ist und sich mehr gegen die eigene als gegen andere Personen richtet. Hinter der Meisterschaft der Gesangs - spräche und des Spieles steht die Singstimme der Künstlerin(für Carmen etwas hoch) insofern zurück, als der sinnliche Wohllaut fehlt, und als für manche etwas härtere und gleichmäßigere Töne ein weicheres und variierteres Singen angewendet werden könnte. Dies allerdings nur bei der Anlegung des höchsten Maßstabes. Für andere von den Mitwirkenden gilt dies in einfacherer Weise. Da- gegen gaben sich die Herren Braund und Vuskovic sehr viel Mühe nach kräftigem und zum Teil auch abwechselungsvollem Ge- sang; nur daß jener mit seiner Stimme wieder herumwüstete, und dieser doch noch über mehr Entfaltung seiner Stimme verfügen müßte als bisher. Jedenfalls besitzen wir noch manche Künstler, die ebenso wie jener Gast nicht bloß singen, sondern auch„singen und sagen" können; schade, daß zu ihrer Nennung so wenig Gelegenheit istt Wir bedürfen gerade des Hervortretens solcher Künstler, die uns lehren, über den obersten Grundsatz eines großen Teiles unserer gegenwärtigen Musikpflege hinauszukommen, der da lautet:„Ein Ton wie der andere!" Es ist keine wesentliche Verschiedenheit, in welcher Form sich dieser Grundsatz geltend mache: ob in den un- zulänglichen Leistungen eines Teiles jener Operettentruppe; oder beispielsweise in dem Vortrage der Barcarole aus„Hoffmanns Er» zählungen" in der„Komischen Oper", der wirken kann, als ob der Zuhörer in sechs genau gleiche Stücke auseinandergeschnitten würde; oder endlich in der Tyrannei eines Klavierlöwen, der als„unser genialer N. N." die Klaviere und Menschen beschlagnahmt und schlägt, aber doch wenigstens so gerecht ist, auf sämtliche Tasten des Klaviercs gleichmäßig loszuhauen und der von ihm begleiteten Sängerin alle ihre Feinheiten gleichmäßig zu töten. Wie traurig. daß derartiges selbst im Kreise von wirklichen Künstlern erfolgreich wirkt— begreiflich allerdings bei diesen mehr impulsiven als kritischen Menschen! Und wie traurig, derartiges anhören zu müssen, wenn einem das Unglück einer Unterscheidung und Empfind- lichkeit für diese Dinge zuteil wurde, und wenn man so gerne» helfen möchte, aber keine Gelegenheit dazu findet I sz. Naturwissenschaftliches . Moderne- Ma u Iw urfs a rb eit in der Natur» forsch ung. Ueberall in der Wissenschaft ist man bemüht, die alten eingewurzelten Anschauungen, an die man sich bereits so schön gewöhnt hatte und die einem förmlich in Fleisch und Blut übergegangen waren, zu zerstören und durch neue zu ersetzen, die sich dem Stande der Forschung besser anpassen und vor allen Dingen den neueren Errungenschaften, die Lücken in die alten Theorien geschlagen haben, Rechnung tragen. Die Anschauungen von dem Wesen der Elektrizität haben durch die neu entdeckten Eigenschaften der Radioaktivität schon starke Aenderungen erlitten. Gegenwärtig herrscht die Elektronentheorie, welche merk» würdigerweise viele Anklänge an die alten Anschauungen über dia Elektrizität besitzt. Durch sie hat auch die Anschauung von dein Wesen der Materie eine ganz andere Gestalt gewonnen. Alle Körper bestehen aus kleinsten Teilchen, den Molekülen, und diese wieder aus den kleinsten Teilen der chemischen Grundstoffe, den Atomen. Diese Atome sind aber noch weiter teilbar, und eine Brücke zu den noch kleineren Massenteilchen bietet die Erscheinung der Zersetzung von Säuren, Basen und Salzen in wässeriger Lösung durch den elektrischen Strom. Aus diesem Vorgange läßt sich die kleinste mögliche Elektrizitätsmenge, das„I o n", berechnen, und von da auf die kleinsten bekannten Massenteilchen, die „Elektronen", übergehen. Auf die Existenz dieser Elektronen läßt die Eigenschaft der Kathodenstrahlen schließen, leichte Körper in Bewegung zu setzen und diese beim Austreffen erwärmen zu können, sich ferner vom Magneten ablenken zu lassen. Nimmt man an, daß die Kathodenstrahlcn aus kleinen elektrisch geladenen Massenteilchen bestehen, und berechnet die Größe der Ablenkung durch einen Magneten von gewisser Stärke, dann stimmt die er- rechnete Größe mit der durch Versuche bestimmten überein, und das ist gewissermaßen eine Bestätigung der Richtigkeit der An- nähme. Aus anderen Feststellungen ergibt sich ferner, daß die Masse eines Elektrons etwa 206 mal kleiner ist als diejenige eines Atoms Wasserstoff. Auch nach den Strahlen, die von radioaktiven Substanzen ausgesandt werden, ergeben sich ähnliche Werte für die Masse eines Elektrons. Die Annahme von Elektronen dient auch zur Erklärung der Umwandlung von radioaktiven Elementen in andere Elemente. Im ganzen hat sich die Elektronentheorie bis jetzt als recht fruchtbar erwiesen und sie scheint auch berufen zu sein, Aufschlüsse über die Eigenschaft der Elastizität zu verschaffen, bei der die bis- herige Betrachtungsweise sich als unanwendbar erwiesen hat. Mit Hülfe der sonst so ungeheuer fruchtbaren mathematischen Methoden der Differential- und Integralrechnung ist es nicht möglich, die elastischen Vorgänge in Körpern zu verfolgen, weil die Arbeit so schwierig wird und so umfangreich, daß sie unausführbar erscheinen muß. Vielleicht hilft auch hier die Elektronentheorie aus. bei der man die Einzelteilchen der Masse betrachtet, während man nach
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24 (3.7.1907) 126
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