Mnterhaltungsblatt des WorwärtsNr. 133.Freitag, den 12. Juli.1907lNachdruiI verboten.)«iDie)VIuttcr.Roman von Maxim Gorki. Deutsch bon Adolf Heß.Besonders eins von diesen neuen Liedern beunruhigteund erregte die Frau. Aus ihm hörte man kein Seufzen, keintrauriges Schwanken einer gekränkten, einsam auf dunklenPfaden kummervollen Zweifels umherirrenden Seele. EinerSeele, die von Not geplagt, von Furcht gejagt war, einerunpersönlichen, farblosen Seele. Aus diesem Liede klangenkeine traurigen Seufzer einer Macht, die sich unklar nachRaum sehnte, kein herausforderndes Geschrei aufregenderKühnheit, die gleichgültig bereit war. Böses wie Gutes zuvernichten. In diesem Liede lag kein blindes Rache- undSchmachgefühl, das alles zerstören konnte— unfähig, etwaszu schaffen. Aus diesem Liede hörte man nichts von deralten versklavten Welt.Die scharfen Worte und die ernste Melodie gefielen derMutter nicht, aber hinter den Worten und der Melodie lagetwas Großes, das Klang und Worte mit seiner Kraft erstickte und das Vorgefühl von etwas dem Gedanken Unfaß-baren im Herzen erweckte. Dieses unbekannte Etwas sahsie in den Gesichtern, in den Augen der Jugend; sie fühlte esin deren Brust, gab sich willenlos der Kraft dieses Gesangeshin, die in Worten und Klängen keinen Platz hatte, und hörtees stets mit besonderer Aufmerksamkeit und tieferer Unruheals alle anderen Lieder mit an.Das Lied wurde leiser als die übrigen gesungen undklang doch stets kräftiger als sie und umwehte die Menschen,wie die Luft an einem Märztage— am ersten Tage des an»brechenden Frühlings.„Wir sollten das Lied auf der Straße singen!" sagteWjessowschtschikow mürrisch.Als sein Vater wieder etwas gestohlen hatte und imGefängnis saß, erklärte Nikolai den Freunden ruhig;„Jetzt können wir uns bei mir versammeln... DiePolizei denkt an Diebe, und Diebe hat sie gern!"Fast jeden Abend nach der Arbeit saß einer von denFreuirden bei Pawel, und fie lasen, schrieben aus Büchern ab,hatten es sehr geschäftig und nahmen sich nicht einmal dieZeit, sich zu waschen. Sie aßen und tranken Tee mit Büchernin der Hand, und ihre Reden wurden der Mutter immer un-verständlicher....„Wir müssen eine Zeitung haben!" sagte Pawel oft.Das Leben wurde hastig und fieberhaft, die Menschenliefen immer geschwinder von einem zum anderen, eilten vonernem Buch zum anderen, wie Bienen von Blume zu Blume.„Man spricht schon über uns!" sagte Wjessowschtschikoweines Tages.„Wir fallen sicher bald herein."„Die Wachtel ist dazu da, daß sie ins Netz gerät!" er-widerte der Kleinrusse.Er gefiel der Mutter immer besser. Wenn er sie„Mütter-lein" nannte, so war ihr immer, als streichelte jemand ihreWangen mit weicher Kinderhand. An den Sonntagen, andenen Pawel keine Zeit hatte, spaltete der Kleinrusse Holz;eines Tages kam er mit einem Brett auf der Schulter, nahmdas Beil und ersetzte schnell und geschickt eine verfaulteTreppenstufe durch eine neue; ein andermal flickte er ebensounbemerkt den einstürzenden Zaun. Bei der Arbeit pfiffer stets, und sein Pfeifen war hübsch wehmütig.Einst sagte die Mutter zum Sohn:,„Laß uns den Kleinrusien als Kostgänger nehmen. Dannhabt Ihr es beide gemütlicher und braucht nicht immer hinund her zu lausen."„Wozu sollen wir Dir viel Mühe machen?" fragte Pawelachselzuckend.„Nun, das macht nichts, ich Hab' mich das ganze Lebenabgeschunden, ohne zu wissen wofür... Einem bravenMenschen zuliebe kann ich schon etwas tun!"..Tu. was Du willst!" erwiderte der Sohn.„Wenn erumzieht, soll es mich freu'n..."lind der Kleinrusse zog zu ihnen.iVIII.Das kleine Haus an der Grenze der Vorstadt erregtedie Aufmerksamkeit der Leute, und seine Wände wurdenschon von Dutzenden argwöhnischer Blicke betastet. Bunt ge-flügelte Gerüchte zuckten unruhig darüber hin— die Menschenbemühten sich, etwas aufzuspüren, aufzudecken, was hinterden Hauswänden am Abhang verborgen war. Nachts blickteman ins Fenster, bisweilen klopfte jemand an die Scheibenund lies geschwind und furchtsam von dannen.Eines Tages begegnete Frau Wlassow der GastwirtBjegunzew, ein ehrwürdiger Greis, der stets ein schwarzesSeidentuch um den roten, wellen Hals und über die Brust!eine dicke, lila Plüschweste trug. Auf seiner spitzen, glänzendenNase saß ein Schildpattkneifer; aus diesem Grunde nannteman ihn„Knochenauge". Er trat der Frau Wlassow in denWeg und überschüttete sie in einem Atem, ohne eine Antwortabzuwarten, mit einem Strom prasselnder, dürrer Worte.„Pelagea Nilowna, wie gehts? Was macht der Sohn?!Wollt Ihr ihn nicht verheiraten? Junger Mann in den bestenJahren. Je früher man den Sohn verheiratet, um so besserhaben es die Eltern. In der Familie hält sich der Menschgeistig und leiblich am besten, in der Familie fühlt er sich wieder Hahn im Korbe! Ich würde ihn an Ihrer Stelle ver-heiraten. Unsere Zeit erfordert strenge Zucht, die Menschenleben mehr für sich als für andere. In allen Gedanken tutsich Zügellosigkeit kund, und man nimmt Handlungen wahr,die Tadel verdienen. Das Gotteshaus meidet die Jugend,den Orten der Geselligkeit wird sie fremd; man kommt heim-lich in Winkeln zusammen und flüstert miteinander. Warumflüstert man, gestatten Sie die Frage, warum hält man sichabseits? Alles, was der Mensch nicht öffentlich, in der Schenkezum Beispiel sagen kann— was ist das? Das sind Geheim-nisse! Für Geheimnisse aber'ist unsere heilige apostolischeKirche der Ort. Alle anderen Geheimnisse, die in Winkelnvor sich gehen, sind Irrungen und Äirrungen! Wünsche guteGesundheit!"Er nahm maniriert mit seiner krummen Hand die Mützeab, schwenkte sie in der Luft und ging fort, die Mutter ratloszurücklassend.Wlassows Nachbarin, Marja Korssunowa, die Witweeines Schmiedes, die mit Viktualien in der Fabrik handelte,sagte eines Tages, als sie die Mutter aus dem Markte traf,ebenfalls:„Gib acht auf Deinen Sohn, Pelagea!"„Was ist denn?" fragte die Mutter.„Es gehen allerhand Gerüchte!"... vertraute Marjckihr geheimnisvoll an.„Böse Gerüchte, meine Liebe! Er sollso eine Gesellschaft wie die Geißler gegründet haben. EineSekte nennt man das. Sie werden sich dann hauen wie dieGeißler..."„Hör' auf, Marja, Du schwatzt Unsinn!"„Na, wer schwatzt, betrügt nicht, aber wer Heimlichkeitenhat!" erwiderte die Krämerfrau.Die Mutter teilte ihrem Sohn all diese Gespräche mit;er zuckte schweigend die Achseln, der Kleinrusse aber lachte mitseiner tiefen, weichen Stimme.„Die Mädchen sind Euch auch schon gram!" sagte sie.„Ihrseid für jedes Mädel beneidenswerte Freier und lauter brave,nüchterne Arbeiter... aber Ihr beachtet sie gar nicht! Esheißt, es kämen Fräuleins aus der Stadt zu Euch, die sichleichtfertig benehmen..."„Nu, natürlich!" rief Pawel, das Gesicht in verächtlicheFalten ziehend.�Jm Sumpf riecht alles faul!" meinte der Kleinrussemit einem Seufzer.„Ihr aber, Mütterlein, solltet den törich-ten Dingern erklären, was der Ehestand ist, damit sie nichtgar solche Eile haben, sich ihre Prügel zu holen..."„Ach, mein Lieber!" sagte die Mutter.„Sie sehen denJammer, verstehen ihn auch, aber es bleibt ihnen ja nichtsandere? übrig!"„Sie verstehen ihn nicht, sonst würden sie schon einenAusweg gesunden haben!" meinte Pawel.Die Mutter blickte in sein strenges Gesicht.„Dann klärt sie auf! Bittet doch ein paar KlugeEuch..."