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in diesen Stücken der Ursprung vieler Tränenbäche zu erblicken sei, die auch die deutsche Bühne überschwemmt hätten." Gewiß: der Ursprung vieler Tränenbäche. Aber auch die unverfiegbare Quelle eines gewaltigen Stromes.
Was Jbsen erfüllt hat, das ward von Diderot oft geahnt, in manchen Fällen mit heute verblüffender Deutlichkeit ausgesprochen. Man scheint das bislang noch nicht gemerkt zu haben. Aber wer fann es bestreiten, wenn er Säge liest wie diese:
Auf solche Weise( nämlich durch entsprechende Verbindung und Abwechselung von Spiel und Gespräch) muß man unser„ Beiseite" erfezen."
Keine Episodenfiguren! Wenn aber der Gang des Stückes eine erfordert, so soll sie einen besonderen Charakter besitzen, der sie heraushebt."
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Wir müssen uns einzig mit dem Spiel beschäftigen, jene Theatercoups vermeiden, deren Wirkung vorübergehend ist, und Bilder schaffen."
Jm natürlichen Sohn" gibt es merkwürdige Szenen. Dorval spricht nicht. Aber fann es Worte geben, die so eindringlich reden wie sein Tun und sein Schweigen? Er mag von Zeit zu Zeit ein paar Worte sagen, meinetwegen; aber man darf nicht vergessen, daß sich selten einer umbringt, der viel redet."
Und was soll man hierzu sagen:„ Manchmal habe ich gedacht, es ließen sich auf dem Theater die wichtigsten Fragen der Ethik behandeln, und zwar ohne den fräftigen und roschen Gang der dramatischen Handlung zu beeinträchtigen."
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„ Die Exposition vervollständigt sich in dem Maße, wie das Drama fich entwickelt; und der Zuschauer weiß erst dann alles, wenn der Vorhang fällt." Die Konsequenz dieses Verfahrens stellt das analytische Drama dar, wie es trotz einiger früherer Beispiele ( vom„ König Oedipus" an bis zur„ Braut von Messina ") durch Jbsen erst eigentlich zu Ehren gebracht worden ist. Es gibt eine Tragödie von Corneille ich glaube, es ist der „ Nicomedes"- wo die Hochherzigkeit Haupteigenschaft aller Berfonen ist." Wer denkt dabei nicht an Ibsens „ Klein Eyolf", so gut wie an die„ Iphigenie "!
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Es war schon etwas, in einer Zeit der Deklamation darzutun, daß man oft an die Stelle der Morte die Geberde fezen könne. Man muß Spielautveisungen immer dann geben, wenn sie ein Bild schaffen; wenn sie zur Unterstreichung oder Klärung des Dialogs dienen; wenn sie diesen verknüpfen helfen; wenn sie charakterisieren; wenn fie eine besondere Feinheit enthalten, die sich nicht ohne weiteres ergibt; wenn sie eine Antwort eriegen; und schließlich immer zu Beginn der Auftritte."
Diderot schlug vor, Maler und Schauspieler sollten zusammen wirken. Aber freilich:" Ich glaube nicht, daß wir jemals das Theater genügend schätzen werden, um so weit zu kommen." Heute haben unsere literarischen Bühnen wirklich ihre Maler.
In jener Zeit war die Einführung, ja Uebertreibung der Spielanweisungen notwendig, um erst einmal ein wirkliches Spiel zu ermöglichen. Wie soll denn sonst der Leser, selbst wenn er ein Theaterkenner ist, bei der Lektüre fich das Spiel ergänzen, da er es niemals auf der Bühne sieht? Soll er mehr Schauspieler sein als der Schauspieler?"
Jene Feinheit der Schauspielkunst, zu der Jbsen unsere Theater erzieht, begründete schon Diderot : Jm Leben beachtet man alles. Mitten in einem erregten Gespräch wird ein doppelsinniges Wort, eine Bewegung, ein Blick häufig zum Verräter. Ist man im Theater etwa weniger scharfsichtig, weniger aufmerksam? Wenn ja: um so schlimmer; dann ist es Sache eines großen Dichters, das Publikum von diesem Fehler zu befreien."
Man denkt an den Schauspieler Baffermann, wenn man lieft: ,, Nicht nur das Gesicht muß eine Mimit haben, sondern der ganze Mensch." Dabei soll aber die richtige Mitte gewahrt werden:„ einer, von dem ich nur gewisse Bewegungen gewahre, die meine Einbildungs traft in Tätigkeit setzen, kann mich mehr rühren, packen und hinreißen, als ein anderer, der mich jede Regung fehen läßt."
Wie weit für jene Beit ging Diderot im Realismus! Was tut's, ob mir einer den Rücken oder das Gesicht zukehrt!" Goethes fpätere Regel, die das Gegenteil fordert, illustriert aufs Klarste den Rückschritt.
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Diderot hatte ein Recht, die Fachleute zu verachten, die ja meist weniger vom tiefsten Wesen ihres Faches wissen als ein Außen stehender, der mit Aufmerksamkeit und Schenklappen zusieht. geßt Eure Regeln, pfeift auf die Technik!" rief er den Leuten zu. Aber die Leute pfiffen auf ihn und vergaßen ihn.
Etwas anderes hatte er auch eigentlich gar nicht erwartet. Oft blickt sein Pessimismus durch. Den seither tausendmal gehörten Einwand nimmt er vorweg: die Leute würden sagen, bringt uns das Leben nicht genug wirkliche Leiden, anch ohne daß man uns noch erdichtete schafft?" Oder er erzählt die Handlung eines Stückes und bemerkt dazu:„ Es ist wenig Dialog in diefer Handlung; aber ein Mann von Genie, der die Lücken auszufüllen hat, braucht nur ein paar Einfilbigkeiten einzustreuen; er wird hier einen Ausruf, dort den Anfang eines Sakes hinzufügen: selten aber sich eine zufamenhängende, wenn auch noch so kurze Rede erlauben." Wer tat das, ehe Jbsen tam!„ Das wäre auch eine Tragödie; aber für diese Gattung braucht man besondere Dichter, besondere Schauspieler, ein besonderes Theater und vielleicht sogar ein besonderes Bolt."
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berot hat viel eher und viel stärker auf Deutschland gewirkt wie auf Frankreich . Gerade mit seinen Theorien. Mau braucht mur an Leffings Beifall zu denken. So setzten sich auch Jbsen und feine Pragis erst in Deutschland durch. Und hier freilich nachhaltiger, werbender als sonstwo auf Erden. Gerade jetzt, in diesen Jahren, fängt Jbsen an in die Breite des deutschen Publikums einzubringen, zum Repertoir zu gehören, Klassiler zu werden; während ein großer Teil des Auslandes ihm noch immer hülflos gegenübersteht oder sich wieder von ihm abfehrt.
Ich sehe die Wurzel zum Gipfel Jbsen in Diderot . So gewiß Jbsen viel mehr ist als etwa nur die Grfüllung Diderotscher Tendenzen: so gewiß steden auch in diesen Tendenzen noch mancherlei andere Wurzeln. Aber die gesundeste war eben jene, aus der das psychologische Familien- und Gesellschaftsdrama erwuchs. Dabei wirkten als Zwischenglieder nicht die mißlungenen Versuche auf dem Stilgebiet des„ bürgerlichen" Dramas, fondern, in Deutschland wenigstens, jene Helden und Königsstücke, wie sie von Kleist, Hebbel , Grillparzer mit psychologischem Interesse ausgestattet wurden.
Kleines feuilleton.
Die Maner der Föderierten auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise , die berühmteste Trauerstätte des revolutionären Proletariats, ist in Gefahr, dem Uebelwollen und dem bru talen Geschäftsgeist bourgeoiser Machthaber zum Opfer zu fallen. Am 1. Januar 1909 läuft nämlich die 25jährige Frist ab, für die der Pariser Gemeinderat den Rasenplatz vor der Mauer, unter dem 878 Männer, Frauen und Kinder, die feige hingemordeten letzten Streiter der Kommune begraben liegen, reserviert hat. Vergebens bemühte sich die äußerste Linke der Stadtvertretung in den 80er Jahren eine Konzession des Plazes für immerwährende Zeiten zu erwirken. Der damalige Seinepräfekt, der foeben verstorbene Boubelle, setzte die Ablehnung des Antrags durch, für den sich bes fonders der Radikale Bichon, der jetzige Minister des Auswärtigen, eingesetzt hatte. Poubelle war es auch, der wiederholt die Errichtung eines Denkmals hintertrieb, ja einmal, als schon Gitter um den Platz errichtet waren, sie wieder aus dem Boden reißen ließ. Clemenceau fragte damals in der Kammer entrüftet, ob man denn nach der Amnestie noch die Repressalien des Bürgerkrieges fortsehen wolle. Bekanntlich haben diese Repressalien auch heute noch nicht aufgehört, wie die erbitternden Polizeimaßnahmen beweisen, die die Pariser Arbeiter bei ihrer Trauerkundgebung am letzten Maisonntag alljährlich über sich ergehen lassen müssen unter der Aera Clemenceau nicht weniger als ehedem. Jeht aber ist die Fortdauer dieses Totenkults überhaupt in Frage gestellt. Wenn nicht ein Beschluß des Gemeinderats oder des Parlaments Vorforge trifft, wird der Plaz parzelliert und für Grüfte reicher Bourgeoisfamilien abgegeben werden. Die alten Pariser Stadta friedhöfe sind nämlich längst ein reservierter Boden der Besitzenden geworden und tragen eine ungeheuere Grundrente. Die Sozialisten werden natürlich alles daransehen, um die Erhaltung der denkwürdigen Stätte zu sichern und die Märtyrer von 1871 werden dann wohl auch das Denkmal erhalten, das ihnen die fortdauernde Liebe und Bewunderung des Proletariats ohne den bornierten Widerstand der Herrschenden längst gewidmet hätte. Der Regierung wird es nicht leicht fallen, dieses Werk zu hindern, so sehr auch die Errevolutionäre Clemenceau , Bichon und Briand ihren Büßereifer demonstrieren.
Neues Theater.
Theater.
B
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( Ensemble Gastspiel Ber. liner Künstler.) Ein seltsamer Fall", Vierakter von J. Morton und J. F. Gunniver. Herr Bonn hat doch eine feine Nase gehabt. Erst schafft er Hintertreppenliteratur auf die Bühne und sorgt auf diese Weise, daß selbst Herr Holzbock vom Skandalanzeiger Reißaus nimmt. Hintenherum wird er noch unsterblich: weil es ihm zu danken ist, daß Spektakelstüde, die sonst nicht gut genug gewesen wären, eine obſture Vorstadtbühne zu zieren, nunmehr in sogenannten anständigen Theatern heimisch werden. Die Bühnenleiter sollten ein bißchen auf literarischen Anstand sehen, wenn sie ihr Haus für sommerliche Gastspieler vermieten. Es sollte ihnen doch nicht gar so gleichgültig sein, wer da mimen tommt, und was er mimt. Irgendjemand trommelt sich ein Ensemble zusammen und zieht mit einem Schmöker ein. Meint man etwa, daß solche Soft für das Berliner Sommervölkchen gut genug sei, oder daß sie den Geschmack des Stammpublikums nicht verderbe weil dieses ja durch Abwesenheit glänze? Weit gefehlt! Dasselbe Publikum, dessen Physiognomie uns noch vom Winter her fehr wohl bekannt ist, hatte sich auch wieder zu der Première des phantastischen Schauspiels" vollzählig versammelt. Ganz natürlich auch! Denn man erhofft sich doch irgend ein Sensationchen einen perversen Reiz für die erschlafften Nerven. Die Enttäuschung über den seltsamen Fall" mußte allerdings auf dem Fuße folgen. Aber nicht deshalb, weil die englische Verfasserfirma teine Nervenkost" böte, sondern deshalb, weil die diesmal fredenzte für das Stadtviertel: Schiffbauerdamm- Unter den Linden- Friedrichstraße eigentlich doch schon zu abgeklappert ist.
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