„Ihr lieben Menschen!" dachte sie oft traurig, den Kopf schüttelnd. Aber sie alle führten schon jetzt ein schönes, ernstes, der- ständiges Leben, alle sprachen von guten Dingen und suchten andere das zu lehren, was sie wußten, und taten das, ohne sich zu schonen. Sie verstand, daß man solches Leben trotz seiner Gefahr lieben könne und blickte seufzend rückwärts, wo ihre Vergangenheit sich wie ein dunkler, schmaler Streifen in der Ebene hinzog. Unmerklich bildete sich bei ihr das ruhige Bewußtsein ihrer Notwendigkeit für dieses neue Leben heraus.— Früher hatte sie nie das Gefühl gehabt, jemandem nötig zu sein, jetzt dagegen sah sie deutlich, daß viele ihrer be- durften, und das war ihr neu, angenehm und ließ sie den Kopf aufrichten... Sie brachte regelmäßig die Flugblätter in die Fabrik, sah das als ihre Pflicht an und hatte schon eine Menge Kniffe herausgefunden, um die Spione, die sie täglich beobachteten, zu nasführen. Ein paarmal hatte man sie durchsucht, aber stets einen Tag später, nachdem die Blätter in der Fabrik er- schienen waren. Wenn sie nichts bei sich hatte, wußte sie den Argwohn der Spione und Wächter zu erregen, sie nahmen sie fest und untersuchten sie gründlich: dann stellte sie sich ge- kränkt, stritt mit ihnen herum und ging, nachdem sie sie blamiert, stolz über ihre Geschicklichkeit, von dannen. Dieses Spiel machte ihr Spatz. Wjessowtschikow wurde in der Fabrik nicht wieder auf- genommen, er trat als Arbeiter bei einem Holzhändler ein und fuhr den ganzen Tag mit Balken, Brettern und Brenn- holz durch die Vorstadt. Die Mutter sah ihn fast täglich: Seine beiden Rappen schritten, die vor Anstrengung zittern- den Beine steil aufftemmend, langsam vorwärts. Daneben schritt Nikolai mit schlaffen Zügeln, zerlumpt und schmutzig, in schweren Stiefeln, die Mütze in den Nacken geschoben, plump wie ein eben aus der Erde gegrabener Baumstumpf. Sein Kopf schaukelte hin und her. er blickte sich dicht vor die Füße, wollte nichts sehen. Seine Pferde fuhren blind- lings auf entgegenkommende Wagen und Menschen los, um ihn herum summten wie ein Hummelschwarm bösartige Schimpfworte, und lautes Geschrei durchschnitt die Luft. Er erhob nicht einmal den Kopf, gab keine Antwort, pfiff scharf und durchdringend und brummte dann seinen Pferden zu: »Nu man hü, hül"... (Fortsetzung folgt.) JNcuc KunftUteratur. Von ernst Schur. Die Kunst der Gegenwart in ihren verschiedenen Tendenzen und Strömungen zu begreifen ist ein Ziel, das augenblicklich wieder als besonders wünschenswert erscheint, da die verschiedenen Parteien (Akademiker und Sezessionisten) so energisch aneinander geraten und das Publikum von dem Für und Wider nicht genügend unter- richtet sein kann. Aus diesem Bestreben heraus Klarheit zu schaffen, ist ein Buch erschienen von Professor Dr. Strzygowski,.Die bildende Kunst der Gegenwart'(2M S., geheftet 4 SR, bei Quelle u. Meyer, Leipzig 1907), In verschiedenen Kapiteln find die Archi- tektur, die Plastik, die Griffelkunst und die Malerei behandelt. Das Buch gibt keinen historischen lieberblick, sondern charakterifiert sich als eine persönlich gehaltene Programmschrift. Es haftet ihr etwas Akademisches an, etwas Schulmeisterliches. Wir sind heute endlich' dahin gekommen, daß wir dem Künstler überlassen, was und wie er darstellen soll, und eS ist nicht erquicklich, wenn sich auch noch ein anderer hineinmischt, dem die eigentliche Berufung doch abgeht, da er eben nicht— Künstler ist. Gewiß besitzt der Verfasser für Böcklin , Klinger, Menzel, Meunier Verständnis und er stellt ihr Wollen und Können mit Betonung dar. Er nimmt auch, da er Oesterreicher ist, kein Blatt vor den Mimd, wenn es sich um die offizielle königlich preußische Kunst und die Stellung des Kaisers zur Kunst handelt. Aber ich bezweifle, daß weitere Kreise(für die doch eigentlich solch Buch be- rechnet ist) sich hier wirklich Sachkenntnis holen werden. Und ich bezweifle es darum, weil das Buch in seiner ganzen Fassung nicht zu jenem Punkt vordringt, wo die Klarheit beginnt. Wir hören allerlei Bemerkungen, deren zulänglicher Grund allzu sehr im Per- sönlichen bleibt und deren sachlicher Wert nicht genügend begründet ist. Für solche prinzipiellen Auseinandersetzungen gibt es nur zwei Wege: historische Darstellung des zeitlichen Verlaufs oder Herausarbeitung der formalen Prinzipien ohne Rücksicht auf Voll- ständigkeit. Der Verfasser nimmt weder den einen, noch den anderen Standpunkt ein, darum bleiben seine Er- örterungen im Haltlosen, Schwankenden stecken. Mit Interesse wird daher diese Schrift nur der lesen, der den Stoff schon beherrscht (und der wird manche Fragezeichen machen); andernfalls wird dem Leser der Kopf schwirren, Vergangenheits- und Gegenwartskunst brodeln in diesem Topf durcheinander. Und so ist dieses Buch schließlich in dem Sinne ein Zeitbuch, als die mannigfalttg durch- einandersttebenden Kunsttendeuzen der Gegenwart zur Darstellung kommen, gesehen durch ein perfönliches Temperament; man merkt ihm an, daß es eine Gelegenheitsschrift ist, die eine Reihe von Vorträgen zusammenbindet. Die zahlreichen Abbildungen sind mit Umsicht ausgewählt. Den oben angegebenen, historischen Weg der Betrachtung schlägt ein anderes Werk ein, das einen Grundriß der modernen Plastik und Malerei des 19. Jahrhunderts geben will, verfaßt von Dr. B. D a u n.(Die Kunst des 19. Jahrhunderts. In zwölf Heften. Mit 250 Abbildungen. Verlag Georg Wattenbach, Berlin .) Hier haben wir eine verläßliche, ruhige Darstellung und Gruppierung des Stoffes. Beginnend mit dem Klassizismus in Frankreich und den anderen Ländern, geht der Verfasser dann zur Romantik über. komnit dann zum Realismus, bespricht den Impressionismus und Pleinairismus und behandelt weiterhin die Bestrebungen der Sezession; ein Schlußkapitel ist den modernen graphischen Künsten gewidmet. Das Sachliche herrscht vor. Allgemeinverständlichkeit ist an-- gestrebt und der Stoff ist von allem Ballast des Allzu- vielen, das nur die Uebersicht stört, befreit. So wird das Werk, wenn eS abgeschloffen vorliegt, einen Führer bilden für die, die über die Kunst der Gegenwart sich dadurch belehren lassen wollen, daß sie den Gang der Entwickclung vom Beginn des Jahr- Hunderts an verfolgen können. So gibt das Brich eine gute Grund- läge, die unerläßlich ist, wenn man zum Verständnis der Kunst- Probleme der Jetztzeit gelangen will. Es hat auch den Vorteil, daß eS sich der Kürze befleißigt. Natürlich darf man von solchem Werk. das auf einen weiten Leserkreis rechnet, nicht mehr verlangen, als es bieten kamt. Persönliche Färbung muß eS gerade vermeiden und das Tatsachenmaterial möglichst übersichtlick bringen. Wer mehr verlangt, der greife zu O s b o r n S trefflich ge- schriebencr, auch umfangreicherer„Geschichte der Kunst des 19. Jahr- Hunderts', die als Schlußband zu dem bekannten„Handbuch der Kunstgeschichte" von Anton Springer im Verlage von E. A. Seemann (Leipzig ) erschienen ist. Dieses Buch ist mit viel Geschick und Sach- kenntnis in einem anregenden und flüssigen Stil geschrieben und dürfte vorgeschrittenen Lesern viel Interessantes bringen. Das Ab- bildungsmaterial ist sehr reichhaltig und sorgfältigst ausgewählt. Speziell die Kapitel, die die Gegenwart behandeln, find lebendig geschrieben und die sonst selten zu sehenden Abbildungen unterstützen vorzüglich de» Text. Wollen die drei genannten Werke einen zusammenhängenden lleberblick geben über die Kunst einer ganzen Epoche mit all ihren Einzelheiten, so versuchen neue Publikationen auf einem andere« Wege Belehrung und Anregung zu geben. Sie vermeiden das Prinzipielle, die lückenlose Aufeinanderfolge. Sie zerpflücken den Zusammenhang und lösen ihn in Einzelteilchen auf. Es sind die heutzutage besonders beliebten Monographien, die nicht nur. wie man ihnen vielleicht vorgeworfen hat, der Oberflächlichkeit durch flüchtige, essayistische Darstellung entgegenkommen, sondern auch oft Spezialthemata mit aller Detailbehandlung zum Vorwurf nehmen. Unter den zahlreichen Publikationen dieser Art sind zwei be- sonders hervorzuheben: Die Künstler-Monographien, herausgegeben von Knackfuß(Velhagen und Klasing, meist zwei oder drei Mark pro Band) und die Sammlung.Die Kunst" von Richard Muther (bei Marquardt u. Co., 1,50 M. pro Bändchen). Beide Sammlungen haben ihren bestimmten Charakter. Die Knackfuß-Monographien haben meist ein reiches und gutes Jllustrattonsmaterial. das bei dem großen Format der Bücher wirkungsvoll zur Darstellung kommt. Der Text ist meist zuverläisig; er gibt daS Tatsächliche und führt in die Kenntnis der Zeit- umstände und der Tendenzen der künstlerischen Art des jeweilige« Gebietes ein. Die Sammlung„Die Kunst' richtet sich nicht so sehr an das große Publikum. Die Abbildungen sind weniger zahl- reich und kommen nicht so gut zur Geltung, da sie meist sehr klein sind. Der Text ist persönlich gefärbt, was ja oft den Stoff reizvoller macht, aber auch den Ungelehrten leicht irreführen kann. Knackfuß will belehren. Das Persönliche tritt zurück. Die Sache herrscht. SNuther will unterhalten, fesseln. Dem- gemäß ist auch die Ausstattung dieser kleinen Bändchen, durch die sie sich nicht zum wenigsten schnell' eingeführt haben, eine sehr ge- fchmackvolle. Druck und Anordnung und Einband machen einen äußerst gefälligen Eindruck. Einige neuerschienene Bände seien hier erwähnt. A. Zacher behandelt„Rom als K u n st st ä t t e' und zeigt, wie diese Stadt im Wandel der Zeiten ihren Charakter jewefls geändert und im Grunde doch den gleichen behalten hat, als der er uns in der Gegenwart entgegenKitt, ein Sammelpunkt für die künstlerische Schaffenskraft ganzer Jahrhunderte. Und so durchleben wir die Entwickeluug von Anbeginn an, als Rom der Mittelpunkt der Welt war, bis die Renaissauce nach dem Untergang des römischen Reiches eine neue, glorreiche Zeit heraufführt, und schließ- lich die Neuzeit, in der Scharen von Künstlern an diese Stätte pilgern, mn sich an Kunst zu sättigen. So zieht ein wichtiger Teil der Kunstgeschichte überhaupt au unserem Geiste vorüber. Nach Spanien führt uns Muther mit seinem.VelaSquez'. Eine andere Welt. Voller Willkürlichkeiten und Schrecknisse, voller
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24 (8.8.1907) 152
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