Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 153.

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Die Mutter.

Freitag, den 9. August.

( Nachdrud verboten.)

Noman von Marim Gorki. Deutsch von Adolf Heß. Jeden Tag, wenn die Arbeiter sich zur Lektüre einer neuen ausländischen Zeitung oder einer Broschüre bei Andrej versammelten, kam auch Nikolai, setzte sich in einer Ede und hörte schweigend ein, zwei Stunden zu. Wenn die Lektüre beendet war, disputierte die Jugend lange; Wiessortschikow aber nahm an den Wortgefechten nicht teil. Er blieb am

längsten, und wenn er Andrej allein gegenüber saß, legte er

ihm die mürrische Frage vor:

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Und wer hat die meiste Schuld?"

Ja, siehst Du, die Schuld hat derjenige, der zuerst gesagt hat: Das ist mein! Dieser Mensch ist schon vor einigen tausend Jahren gestorben, und es hat weiter feinen Zwed ihm böse zu sein!" erwiderte der Kleinrusse scherzend, während feine Augen unruhig dreinblickten.

Aber die Reichen? Und die, die für sie eintreten? Haben die recht?"

Der Kleinruffe griff sich an den Kopf, zerrte an seinem Schnurrbart und sprach lange und schlicht über das Leben und die Menschen. Es fam aber stets so bei ihm heraus, daß überhaupt alle die Schuld trügen, und das befriedigte Nikolai nicht. Die dicken Lippen fest zusammengepreßt, schüttelte er lebhaft den Kopf und erklärte mißtrauisch, das sei nicht richtig, das verstände er nicht. Dann ging er un­zufrieden und finster fort.

Eines Tages sagte er:

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" Nein, irgend jemand muß die Schuld haben... und die Leute sind hier! Ich sage Dir wir müssen unser ganzes Leben wie ein Feld voll Unkraut durchpflügen ohne Gnade, fest zugreifen!"

" So hat eines Tages der Listenführer Issai von Euch gesprochen!" erwiderte die Mutter.

" sai?" fragte Wjessowtschikom nach kurzem Schweigen. " sa. Er ist ein böser Mensch! Schnüffelt überall herum, fragt alle Leute aus... geht jetzt auch in dieser Straße und gudt in unser Fenster...."

ns Fenster?" wiederholte Nikolai.

Die Mutter lag schon im Bett und konnte sein Gesicht nicht sehen. Aber sie begriff alsbald, daß sie etwas zuviel gesagt hatte, denn der Kleinrusse begann sofort einzulenken: Laß ihn doch gehen und gucken! Hat viel freie Zeit, da geht er eben spazieren"

Nein, wart mal!" sagte Nikolaj dumpf. Er hat schuld!"

ist?"

Woran?" fragte der Kleinrusse schnell." Daß er dumm Aber Wiessowtschikow gab ihm keine Antwort und ging

fort. Der Kleinrusse schritt langsam und müde im Zimmer auf und ab. Die Stiefel hatte er tie stets ausgezogen, um feinen Lärm zu machen und Frau Wlassow nicht zu stören Aber sie schlief nicht, und als Nikolai fortgegangen war, sagte sie unruhig:

sch habe Angst vor ihm! Er ist wie ein überheizter Ofen, der wärmt nicht, sondern verbrennt..."

saa!"... erwiderte der Kleinrusse gedehnt. Ein böser, schwer zu nehmender Junge. Ihr solltet nicht mit ihm über sai reden, Mütterlein... Der spioniert tatsächlich... und bekommt sogar Geld dafür."

Was Wunder! Sein Gevatter ist ja bei der Polizei!" bemerkte die Mutter.

Ich fürchte, Nikolai schlägt ihn noch," gab der Kleinruffe seiner Befürchtung weiter Ausdruck. Da seht Ihr, welche Gefühle die Kommandanten über unser Leben in den Unter­gebenen großgezogen haben! Wenn solche Leute wie Nikolai ihre Schmach empfinden, und ihre Geduld reißt. was fommt dabei heraus? Blut spritzt gen Himmel, und die Erde schäumt davon wie Seife

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Sonderbar, Andrej!" rief die Mutter leise.

Wer Fliegen verschluckt, muß sich erbrechen!" fagte Andrei nach kurzem Schweigen. Und dennoch, Mütterlein,

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ist jeder Tropfen von ihrem Blut in ganzen Meeren von Bolfstränen im voraus abgewaschen

Er lachte plößlich leise und setzte hinzu 3war richtig... aber nicht tröstlich."

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XXII.

Als eines Feiertages die Mutter aus dem Krämerladen fam, die Tür öffnete und auf die Schyvelle trat, wurde sie plötzlich von Freude wie von warmem Sommerregen über­strömt im Bimmer erflang Bawels entschlossene Stimme. Sie ist da!" rief der Kleinrusse

Die Mutter sah, wie Pawel sich schnell umwandte, und

daß in seinem Gesicht ein verheißungsvolles Gefühl zum Vor­

schein kam.

,, Da bist Du nun... wieder zu Hause..." murmelte fie ganz verwirrt und setzte sich nieder.

Er beugte sich blaß zu ihr herab, in seinen Augenwinkeln schimmerten ein paar helle, fleine Tränen, und seine Lippen zitterten. Er schwieg eine Weile, und die Mutter blickte ihn ebenfalls schweigend an.

Der Kleinruffe ging leise pfeifend mit gesenktem Kopf an ihnen vorüber und trat auf den Hof.

" Ich danke Dir, Mama!" begann Pawel mit tiefer Stimme und preßte ihre Hand mit seinen zitternden Fingern. Ich danke Dir, Liebe!"

Durch den Gesichtsausdruck und die Stimme ihres Sohnes freudig erschüttert, streichelte sie seinen Stopf, unter­drückte ihr heftiges Herzklopfen und sagte leise:

,, Christus sei mit Dir!... Weshalb.. Wofür?" " Ich danke Dir dafür, daß Du uns bei unserem großen Werk behilflich bist!" sagte er. ,, Wenn jemand eine Mutter sein eigen nennt, die ihm auch geistig nahe steht so ist das feltenes Glück!"

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Sie sog seine Worte schweigend und begierig ein und schwelgte im Anblick ihres Sohnes, der so strahlend und ihrem Herzen so nahe vor ihr stand."

Ich habe geschwiegen, Mama... ich habe gesehen, daß vieles in meinem Leben Dich kränkt... Du tatest mir von Herzen leid, aber ich fonnte nichts dabei tun, vermochte es nicht! Ich dachte, Du würdest Dich niemals mit uns aus­söhnen, unsere Gedanken nie als Deine eigenen annehmen.... sondern nur schweigend dulden, wie Du Dein ganzes Leben lang getan hast. Das war schiver!..."

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,, Andrej hat mich viel verstehen gelehrt!" flocht sie ein, dem Wunsche nachgebend, ihren Sohn an seinen Kameraden zu erinnern.

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,, Er hat mir von Dir erzählt!" sagte Pawel lächelnd. " Jegor auch. Wir sind Landsleute... Andrej wollte mir sogar das Lesen beibringen..

,, Aber Du geniertest Dich und hast heimlich studiert?..." " Hat er zugeguckt!"... rief die Mutter verwirrt durch übermäßige Freude, die ihr die Brust erfüllte. Beun ruhigt schlug sie vor:

die

Solltest ihn doch rufen! Er ist absichtlich fortgegangen, um uns nicht zu stören. Er- hat keine Mutter Andrej!..." rief Pawel und öffnete die Flurtür ,,, wo/

bist Du?"

"

Hier. Will Holz spalten. " Das hat Zeit!... Romm her!"

" Ich komme schon.

Aber er fam nicht, sondern trat in die Küche und be merkte ganz häuslich:

Wir müssen Nikolai sagen, daß er Holz bringt, es ist nicht mehr viel da. Seht Ihr, Mütterlein, wie gut es Pawel geht? Anstatt zu strafen, füttert die Behörde nur die Rebellen..."

Die Mutter Tachte, ihr Herz erstarb noch vor süßer Freude, sie war wie berauscht, aber schon rief ein vorsichtiges Gefühl in ihr den Wunsch wach, ihren Sohn ruhig, wie immer, zu sehen. In ihrer Seele war zu viel Schönes, und sie wünschte, daß ihre erste Lebensfreude mit einem Mal und für immer so stark und lebhaft, wie sie gekommen, in ihrem Herzen wohnen bliebe. Und aus Furcht ihr Glück zu töten, deckte sie es schnell zu, wie ein Vogelfänger einen feltenen Bogel.