Abends kamen die Gendarmen. Sie ging ihnen ohne Er- staunen und furchlos entgegen. Die Gendarmen traten lär- mend ein und legten eine gewisse Lustigkeit und Zufriedenheit an den Tag. Der Offizier mit dem gelben Gesicht zeigte die Zähne: „Nun, wie geht's? Schon das dritte Mal, daß wir uns begegnen, wie?" Sie schwieg und fuhr mit der trockenen Zunge über die Lippen. Der Offizier sprach viel in belehrendem Ton, und fühlte, daß ihm das Reden Vergnügen machte. Aber feine Worte erreichten sie nicht, störten sie nicht. Nur als er sagte: „Du selbst hast schuld, Mutter, wenn Dil es nicht der- standen hast. Deinem Sohn Respekt vor Gott und dem Zaren einzuflößen..." Sie stand an der Tür und antwortete ohne ihn an- zusehen: „Ja... die Kinder--. sind unsere Richter— sie verurteilen uns mit Recht dafür, daß wir sie auf diesen» Wege im Stich lassen." „Was?" rief der Offizier.„Lauter!" „Ich sage— unsere Richter sind die Kinder" wiederholte sie schweratmend. Da begann er wieder schnell und böse zu reden, aber seine Worte drehten sich im Kreise und trafen die Mutter nicht. �Fortsetzung folgt.) I�aturwnensckaftttcde dcberficbt (Der Einfluß der Umgebung.) Von Dr. C. T h e s i n g. l. Wenn man in der Natur sieht, wie die Kinder stets dieselben Artmerkmale wie ihre Eltern tragen und sich, die geringfügigen individuellen Abweichungen abgerechnet, kaum von diesen unter- scheiden, drängt sich einem leicht die Vorstellung auf, als wären tierische und pflanzliche Arten unveränderliche, beständige Ein- heiten. Es ist ja bekannt, wie lange sich die Lehre von der Art- konstanz in der Wissenschaft erhalten hat. Umso erstaunlicher be- rührt es einen, welche tiefgreifenden Veränderungen ein Wechsel in den normalen Lebensbedingungen an einem Organismus her- vorzuzaubcrn vermag. Ja, wenn wir den gewaltigen Einfluß der Umgebung in Rechnung ziehen, scheint es kaum übertrieben, Tiere wie Pflanzen als Zwangsformen zu bezeichnen, deren Aussehen und Gestalt von den Reizen abhängig sind, die während ihrer Ent- Wickelung und auch noch im späteren Leben aus sie eingewirkt hoben. Es besteht gewissermaßen ein labiles(schwankendes) Gleich- gewicht zwischen den Organismen und den Lebensbedingungen, eine Abänderung der Netze ruft auch entsprechende Veränderungen in dem Bauplane hervor. Je einfacher dabei ein Lebewesen ist und je weniger es nach einer bestimmten Richtung spezialisiert ist, desto weniger Widerstand scheint es im allgeineinen einer Ab- änderung entgegenzusetzen. Ebenfalls gewinnt man aus zahl- reichen Beobachtungen den Eindruck, daß die Länge der Reiz- einwirkung einen erheblichen Einfluß auf die Beständigkeit eines bestinlmten Merkmales hat. Auf verschiedenen stärkemehlhaltigen Stoffen, auf feuchtem Brot. Kartoffeln usw. zeigen sich bisweilen kleine purpurrote Flecken, die wie Blutströpfchen aussehen. Diese seltsame Er- scheinung bildet auch den Anlaß zur Sage von der blutenden Hostie und wurde in früheren Zeiten oft zu kirchlichen Wundern ausgenutzt. Der Erreger des blutenden Brotes stellt sich bei der Untersuchung als ein winziger Spaltpilz heraus, die sogenannte Wundermonade(�licrococcus prodigiosus), deren Kolonien sich durch eine prächtige blutrote Färbung auszeichnen. Verpflanzt man den kleinen Pilz jedoch von seinem gewöhnlichen Nährboden auf eine alkalische Agar-Agarlösung, so dauert es gar nicht sehr lange, bis seine rote Farbe blasser und blasser wird und endlich voll- ständig schwindet. Die Lebenskraft des Micrococcus wird durch diese Behandlung in keiner Weise geschädigt. Bringt man den Pilz nach kurzer Frist unter normale Bedingungen zurück, dann stellt sich auch die blutige Farbe sofort wieder ein. War dagegen die Züchtung auf Agar-Agar sehr lange Zeit durchgeführt, dann wächst er auch auf Brot und Kartoffeln weiß weiter, erst nach zahl- reichen Generationen gewinnt er seine rote Färbung wieder zurück. Hier erkennen wir es ganz klar, daß durch veränderte Umgebung eine Umstimmung im Organismus hervorgerufen werden kann, die umso dauerhafter ist, je länger die neuen Verhältnisse ein- gewirkt haben. Noch auffälliger sind die Formveränderungen, welche wir durch künstliche Eingriffe bei einem einzelligen Urtierchen, der kleinen Amoeba limax, erreichen. Wie wir aus einer früheren Uebersicht wissen, bildet die Gestalt der Scheinfüßchen oder Pseudopodien, mit deren Hülfe sich diese niedersten Lebewesen fortbewegen, das wichtigste Unterscheidungsmerkmal der verschiedenen Amoeben- arten. So bildet A. limax für gewöhnlich nur ein einziges langes Pseudopodium, A. Proteus ist durch zahlreiche lappige Schein» füßchcn gekennzeichnet und bei A. radiosa endlich strahlen die Pseudopodien als lange, spitze Dornen nach allen Richtungen vom Körper aus. Jetzt wollen wir einmal die A. limax eine Zeit lang unter dem Mikroskop beobachten. Anfangs liegt das Tierchen von der Helligkeit erschreckt zu einer Kugel zusammengeballt. Bald aber regt sich in seiner Brust Tatendrang, nach allen Seiten werden breite, lappige Scheinfüßchen ausgesandt, und es entsteht eine Form, die sehr an eine junge A. Proteus erinnert. Das dauert jedoch nur kurze Zeit, dann streckt sich der ganze protoplasmatische Körper in die Länge und eine typische A. limax kriecht unter unseren Blicken umher. Wenn wir das Tierchen in Frieden lassen, wird diese Gestalt von nun an dauernd beibehalten. Ganz anders dagegen, falls wir uns einen kleinen Eingriff erlauben und das Wasser durch den Zusatz einer geringen Spur Kalilauge schwach alkalisch machen. Beunruhigt ziehen sich die Tiere wieder zur Kugel zusammen; allmählich gewöhnen sie sich jedoch an diese veränderten Verhältnisse. Wieder beginnen sich Scheinfüßchen vor- zub LIben, aber oh Wunder, diesmal haben sie keine breite lappige Gestalt, sondern sind spitz und dornförmig geworden. Weiter und immer weiter werden die Plasmafüßchen vorgewölbt, und aus der A. limax ist eine echte Radiosa geworden. Diese Gestalt bleibt be- stehen, so lange das Wasser eine alkalische Beschaffenheit behält» erst bei Zurückversetzung in gewöhnliches Wasser geht diese Zwangs» form wieder verloren und eine normale A. limax tritt von neuem hervor. Auch aus den Reihen der höheren Tiere und der Pflanzen kennen wir zahlreiche Fälle, die für die Abhängigkeit von äußeren Einflüssen eine beredte Sprache führen. Ein kleiner Schmetter- ling, das gemeine Landkärtchen, Vanessa levana, kommt bei uns in zwei Formen vor, die sich in ihrem Aussehen so von einander unterscheiden, daß sie lange Zeit für zwei scharf geschiedene Arten gehalten wurden. Kaum sendet die Sonne ihre ersten warmen Strahlen zur Erde hernieder, dann schüttelt die kleinere Früh- jahrsfcrm die Puppcnhülle von sich und beginnt ihren Flug. Jeder, der einmal Schmetterlinge gesammelt hat, kennt das hübsche. braun gefärbte Tierchen mit der bunt gefärbten Fleckenzeichnung auf den Flügeln. Aus den Eiern der Frühjahrsform entwickelt sich etwa im Juli die Sommerform, die nicht nur erheblich größer ist, sondern auch einen schwarzen Grundton mit hellen Flecken und Streifen besitzt. Da die Puppen der Frühjahrsform den rauhen Winter überstehen müssen, die der Sommerform dagegen niemals der Kälte ausgesetzt sind, lag es nahe, in der Temperatur den Grund für die Verschiedenheit des Aussehens zu suchen. Das Experiment bestätigte diese Vermutung. Man vermag nämlich jederzeit aus Puppe», die sich unter natürlichen Verhältnissen zur Sommerform entwickelt hätten, durch Kälteeinwirkung die Früh» jahrsform zu erzielen. Andererseits entwickelt sich aus den Eiern der Sommerform in der Wärme regelmäßig wieder die Sommer- form. Da auch zahlreiche Versuche an anderen Schmetterlingen. bei denen ebenfalls Jahreszeitenabartung vorkommt, zu den gleichen Ergebnissen führten, haben wir guten Grund anzunehmen, daß die verschiedenen Schmetterlingsrassen, die in der nördlichen, ge- mähigten und heißen Zone leben, lediglich durch die Einwirkung des Klimas entstanden sind. Wie bei den höheren Tieren unterscheiden sich auch bei vielen Schmetterlingen die beiden Geschlechter ganz bedeutend in ihrem Aussehen. Der männliche Zitronenfalter zeichnet sich durch ein prächtig leuchtendes Zitronengelb aus, die Flügel des unschein- baren Weibchens hingegen sind blatzgelb, fast weißlich gefärbt. Zieht man jedoch die Puppen in der Wärme des Zimmers auf, dann ver» schwindet dieser Geschlechtsunterschied und das weibliche Tierchen prangt gleichfalls in den Schmuckfarbcn des Männchens. Auch bei dem herrlichen Apollofalter gelingt es, wie Standfuß gezeigt hat. durch Wärme das Weibchen in das Gewand des Männchens, das Männchen durch Kälte in das Gewand des Weibchens zu kleiden. Wenn man diese tiefe Abhängigkeit der Färbung und Zeichnung der Tiere von der Temperatur sieht, erwachen einem da nicht un- willkürlich Zweifel, ob man wirklich die sogenannte Schutzfärbung und Farbenanpassung als eine Folge der Zuchtwahl auffassen darf? Liegt es nicht viel näher anzunehmen, die Färbung usw. sei über- Haupt das Resultat verschiedener Reizwirkungen, die wir freilich bisher noch nicht im Einzelnen zu bestimmen vermögen? Gleich Wärme und Kälte ist auch das Licht auf das Aussehen der Lebewesen von weittragendem Einfluß. Jeder weiß, daß die Bewohner dunkler Höhlen zum Verlust des Pigments(Farbstoffs) ihrer Körperoberfläche neigen. Der berühmte Einwohner der Adelsbcrger Grotte, der Olm oder Höhlcnmolch(Proteus snguineus) ist vollkommen farblos. Hält man aber das Tier längere Zeit in einem hellbelcuchteten Aquarium, so beginnt in seiner Haut Pigmentbildung und seine Färbung wird dunkler. Noch stärker als das tierische Leben werden die Pflanzen von der Einwirkung des Lichtes betroffen. Nicht nur für die Ernährung aller grünen Gewächse ist das Licht eine unerläßliche Vorbedingung, nein, es beherrscht auch in hohem Maße das Wachstum, die Organbildung und überhaupt die ganze äußere Erscheinung. Man vergleiche im Geiste nur einmal die gemeine Schwarzpappel mit der Pyramiden» pappel, welch gewaltiger Unterschied im Aussehen! Gehen wir der Ursache, die hauptsächlich an dieser Verschiedenheit Schuld trägt, auf den Grund, dann finden wir, daß es das Licht ist. Bei der Schwarzpappel ist im allgemeinen die Oberseite der Zweige dem
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24 (28.8.1907) 166
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