Nnterhaltungsblatt des vorwärts Nr. 169. Sonnabend, den 31. August. 1907 (Ndchdnil! BtrBotcn.) 45] Die JVEutter. Roman von Maxim Gor!i. Deutsch von Adolf Heß. Die Blumen müssen begossen werden!" meinte die Mutter, nachdem sie die Erde in den Blumentöpfen am Fenster befühlt hatte. Ja. ja!" sagte der Hausherr schuldbewußt.Wissen Sie, ich liebe Blumen, habe aber keine Zeit, mich damit zu beschäftigen...." Als sie ihn beobachtete, sah sie. daß Nikolai auch in seiner gemütlichen Wohnung vorsichtig und geräuschlos, seiner Um- gcbung fremd, umherging. Er legte sein Gesicht dicht an die Gegenstände, die er anblickte, rückte mit den dünnen Fingern der rechten Hand die Brille zurecht, blinzelte und es war, als ob er stumme Fragen an das Ding, das ihn interessierte, richtete. Bisweilen nahm er einen Gegenstand, eine Statuette oder etwas anderes in die Hand, hielt es dicht vor dem Ge- ficht und betastete es sorgfältig mit den Augen. Es schien, als wenn er mit der Mutter zusammen in das Zimmer zum ersten Male getreten und als wenn ihm hier alles ebenso un- bekannt wäre wie ihr. Die Mutter fühlte sich bald in diesem Zimmer am richtigen Platz. Sie begleitete Nikolai durch die Räume, merkte sich, wo die Gegenstände standen, fragte ihn nach seiner Lebenseinteilung, und er antwortete ihr in schuldbewußtem Ton, wie jemand, der wohl weiß, wie alles sein muß, sich aber nicht zurechtfindet. Nachdem sie die Blumen begossen und die auf dem Klavier umherliegenden Noten richtig in einen Haufen zusammen- gelegt hatte, sagte sie mit einem Blick auf den Samowar: Der muß geputzt werden." Er fuhr mit der Hand über das blinde Metall, hielt einen Finger an die Nase und betrachtete ihn ernsthaft. Die Mutter lächelte freundlich. Als sie sich schlafen legte und über ihren Tag nach- dachte, erhob sie den Kopf erstaunt vom Kissen und blickte um sich. Zum ersten Male in ihrem Leben war sie im Hause eines fremden Menschen und das bedrückte sie gar nicht. Sie dachte besorgt an Nikolai und empfand deutlich den Wunsch, alles möglichst gut für ihn herzurichten und Freundlichkeit und Wärme in sein Leben hineinzutragen. Die Ungeschicklich- keit und komische Unsicherheit Nikolais, seine Unkenntnis der gewöhnlichsten Dinge und das Kindlich-Weisc in seinen hellen Augen rührte sie. Dann verweilten ihre Gedanken hart- näckig bei ihrem Sohn, und vor ihr spielte sich wieder, ganz in neue Farben gekleidet und von einem neuen Sinn be- seelt, der erste Mai ab. Und sogar der Kumnier dieses Tages war wie der ganze Tag ein besonderer, er stieß den Kopf nicht wie ein stumpfer, betäubender Faustschlag zu Boden nieder, sondern stach das Herz und erzeugte in ihm stillen Zorn, der den gekrümmten Rücken gerade bog. Die Kinder ziehen in die Welt," dachte sie. auf die unbekannten Klänge des Nachtlebens der Stadt horchend. Sie drangen in das offene Fenster, rauschten in den Blättern im Garten, kamen müde und blaß von weither geflogen und er- starben still im Zimmer. Früh am nächsten Morgen putzte sie den Samowar, stellte ihn auf, setzte leise das Geschirr zurecht und wartete in der 5tüche, bis Nikolai ausgeschlafen hatte. Jetzt ertönte sein Husten, und er trat, in der einen Hand die Brille, mit der anderen den Mund bedeckend, in die Tür. Sie ant- wartete auf seinen Gruß und trug den Samowar ins Zimmer. Nikolai aber begann sich zu waschen, wobei er den Fuß- boden mit Wasser bespritzte, Seife und Zahnbürste fallen ließ und unzufrieden sich selbst anfuhr, Beim Tee erzählte Nikolai: Ich bin in der Semstwoverwaltung mit einer sehr traurigen Arbeit beschäftigt: ich beobachte, wie unsere Bauern verelenden...." Und mit schuldbewußtem Lächeln wiederholte er: Ja. ja! Beobachte nur! Die Leute hungern, legen sich infolgedessen vorzeitig ins Grab, die Kinder werden schwach aeboren und sterben wie die Fliegen im Herbst. -* Alles das wissen wir. wir kennen die Ursachen des Unglücks, und dafür beziehen wir unser Gehalt.,,, Weiter tun wir eigentlich nichts... Was sind Sie denn? Student?" fragte sie ihn. Nein, ich bin Dorfschullehrer... mein Vater ist Fabrik» direktor in Wjatka, ich aber wurde Lehrer. Auf dem Lande gab ich den Bauern Bücher, und dafür wurde ich ins Ge- sängnis geworfen. Nachdem ich meine Zeit abgesessen hatte, wurde ich Buchbindergehülfe, war wieder nicht vorsichtig genug und kam abermals ins Gefängnis: später wurde ich nach Archangelsk verbannt.... Dort hatte ich wieder Un- annehmlichkeiten mit dem Gouverneur und wurde in ein kleines Dorf an der Küste des Weißen Meeres verschickt, wo ich fünf Jahre zubrachte." Seine Erzählung klang in dem hellen, von Sonnenlicht erfüllten Zimmer ruhig und gleichmäßig. Die Mutter hatte schon viele solche Geschichten gehört und niemals begriffe� wie man sie so ruhig erzählen konnte und niemandem Vor- würfe machte, sondern das alles wie etwas Unvermeidliches hinnahm. Heute kommt meine Schwester," teilte er ihr mit. Ist- sie verheiratet?" Sie ist Witwe. Ihr Mann war nach. Sibirien der« bannt, floh aber von dort, zog sich unterwegs eine heftige Er- kältung zu und starb vor zwei Jahren im Auslande.,. Ist sie jünger als Sic?" Nein. Sechs Jahre älter.... Ich bin ihr in vielen Dingen Dank schuldig.... Sie sollen einmal hören, wie sie spielt! Das ist ihr Klavier.... Sie hat überhaupt viele Sachen hier. Die Bücher sind mein." Aber wo wohnt sie denn?" Ucberall!" antwortete er lächelnd.Wo eine Hand nötig ist, da ist sie." Gehört sie mit dazu?" fragte die Mutter. Natürlich!" Er ging bald in den Dienst: die Mutter aber dachtx über die Sache nach, an der diese Menschen Tag für Tag hartnäckig und ruhig arbeiteten. Und sie fühlte sich vor ihnen, als wenn sie nachts vor einem Berge stände. Gegen Mittag erschien eine hohe, stattliche, schwarz ge- kleidete Dame. Als die Mutter ihr die Tür ösfnete, warf sie einen kleinen, gelben 5�offer auf den Fußboden, ergriff schnell Frau Wlassows Hand und fragte: Sind Sie Pawel Mickailowitschs Mutter?" Ja!" erwiderte die Mutter, durch ihre elegante Klei» dung verwirrt. So habe ich Sie mir auch vorgestellt! Mein Bruder schrieb, Sie würden bei ihm wohnen.... Pawel Michails- witsch und ich sind schon lange befreundet. Er hat mir oft von Ihnen erzählt." Ihre Stimme war etwas dumpf, sie sprach langsam, ihre Bewegungen waren aber kräftig und schnell. Die großen, grauen Augen lächelten jugendlich heiter, an den Schläfen aber glänzten schon feine strahlenförmige Runzeln und über den kleinen Ohrmuscheln schimmerten silbern graue Haare. Ich will esienti' erklärte sie.Eine Tasse Kaffee trinken..." Ich koche sofort welchen!" erwiderte die Mutter und holte das Kaffeegeschirr aus dem Schrank. Spricht Pawel denn über mich?" Natürlich! Oft..." Sie zog eine kleine lederne Zigarettentasche heraus, zündete sich eine Zigarette an und fragte, im Zimmer umher- gebend: Sind Sie sehr besorgt um ihn?" Die Mutter beobachtete, wie die blauen Flammcnzungen der Spritlampen unter der Kaffeekanne zitterten, und lächelte. Ihre Befangenheit vor der Dame verschwand. Also er spricht von mir... der gute Junge!" dachte sie und sagte langsam:Sie fragen, ob ich mir Sorge mache? ... Natürlich, es ist nicht leicht... Aber früher war es schlimmer... jetzt weiß ich er ist nicht allein... Und wie ist Ihr Name?" «Sophie."