Nnterhaltungsblatt desNr. 175.Dienstag, den 10� September�(Nachdruck verVoten.)611 Die JVIutter»Roman von Maxim Gor!i. Deutsch von Adolf Hetz.Ssawely atmete schnell, zog die Luft mit kurzen, gierigenZügen ein. Seine Stimme setzte oft aus, seine knochige»Finger an den kraftlosen Händen glitten auf der Brust hinund versuchten, die Paletotknöpfe aufzuknöpfen.„Es schadet Ihnen so spät im Walde... Laubwald istfeucht und schwül!" bemerkte Sophie.„Mir hilft nichts mehr!" keuchte er.„Mir hilft nur nochder Tod..."Es war nicht leicht, ihn anzuhören, und seine ganzeGestalt rief jenes überflüssige Mitleid hervor, das seine eigeneOhnmacht kennt und verdrießlichen Aerger erweckt. Er setztesich auf ein Faß, beugte die Knie so vorsichtig, als fürchteteer, sie könnten brechen, und rieb die schweißige Stirn. SeinHaar war trocken, tot.Der Scheiterhaufen flammte auf, ringsum zitterte undschaukelte alles, die Schatten flohen furchtsam in den Wald,alÄ hätten sie sich verbrannt, und über dem Feuer schimmertedas runde Gesicht Jgnatys mit aufgeblasenen Backen. Es rochnach Rauch: wieder ballten sich Stille und Nebel lauernd aufdem Platz zusammen und lauschten auf die heiseren Wortedes Kranken:„Aber dem Volk,,. kann ich als Zeuge von Verbrechennoch Nutzen bringen.,. Da, sehen Sie mich an... ich binachtundzwanzig Jahre, aber— ein toter Mann! Und vorzehn Jahren habe ich ohne Mühe zwölf Pud getragen...Mit der Gesundheit, dachte ich, brauchst Du noch siebzig Jahrebis zum Kirchhof... Aber dann vergingen zehn— undjetzt kann ich nicht mehr. Die Herren haben mich bestohlen,mir vierzig Jahre meines Lebens geraubt.,. vierzigJahre..."„Das ist seine Melodie!" sagte Rybin dumpf.Das Feuer flammte wieder auf. aber jetzt schon kräftiger,Heller, wieder wichen Schatten in den Wald, wieder schlichensie an's Feuer heran und zitterten um den Scheiterhaufen instummem, feindseligem Tanz. Im Feuer knisterte und ächztenasses Reisig. Die Blätter an den Bäumen flüsterten undrauschten, von der warmen Luftwelle beunruhigt. Fröhliche,lebendige, gelbe und rote Flammenzungen spielten mitein-ander, umfangen sich, stiegen in die Höhe, streuten Funken,heiße Blätter flogen auf, und die Sterne am Himmel fun-leiten lächelnd und lockten..»„Das ist nicht mein Lied... Tausend Menschen singenes... für sich, ohne die heilsame Lehre zu verstehen, die dasVolk daraus ziehen kann... Wieviel Wesen werden durchdie Arbeit zu Tode gequält, wieviel Krüppel gehen schweigendvor Hunger zugrunde... Wir müssen schreien, Brüder,müssen schreien!" Er hustete, krümmte sich und zitterte amganzen Leibe.„Warum?" fragte Jefim.„Mein Kummer— ist meineSache... Bin ich froh, dann sieh zu..„Stör' ihn nicht!" riet Rybin.„Du hast ja selbst gesagt, man soll mit seinem Kummernicht prahlen!" bemerkte Jefim finster.„Hier handelt es sich um etwas anderes, um das gemein-same Leid, nicht um das persönliche," sagte Rybin eindringlich.„Hier hat ein Mensch eine Tiefe ausgcmessen und ist nun amErtrinken... Da ruft er der Welt zu:„He, geht nichtdiesen Weg!..."Jakob stellte einen Eimer Kwas auf den Tisch, warfeinen Bund grünen Lauchs hin und sagte zum Kranken:„5tonim, Ssawely, ich bring' Dir Milch..."Ssawely schüttelte den Kops, aber Jakob faßte ihn unterdie Achsel, hob ihn auf und führte ihn zum Tisch.„Hören Sie," sagte Sophie leise und vorwurfsvoll zuRybin,„warum haben Sie ihn hierher gerufen? Er kann'jede Minute sterben...*„Das kann er!" stimmte Rybin ihr bei.„Mag er dochunter Menschen sterben... das ist leichter, als allein...Einstweilen soll er nur reden... Sein Leben ist für nichtsund wieder nichts zugrunde gerichtet— da mag er nun derMenschen wegen noch etwas ausharren... das tut nichts!"„Sie scheinen Ihr Vergnügen daran zu haben!" riefSophie.Rybin blickte sie an und erwiderte finster:„Das waren die Herren, die ihr Vergnügen daran hatten,als Christus am Kreuze jammerte: wir aber lernen von denMenschen und wollen, daß Ihr noch etwas lernt..Die Mutter hob erschreckt die Brauen und sagte:„Hört doch auf!"Am Tisch begann der Kranke wieder:„Sie richten die Menschen durch Arbeit zugrunde...warum? Stehlen den Leuten das Leben— warum? frageich. Unser Herr— ich habe mein Leben auf der FabrikNefedow verloren— schenkte einer Sängerin goldenes Wasch»geschirr... und sogar ein goldener Nachttopf war dabei...In diesem Topf steckt meine Kraft, mein Leben... dafür istes hingeopfert... Er hat mich durch Arbeit umgebracht.um seine Geliebte mit meinem Blut zu amüsieren... hatihr sür mein Blut einen goldenen Nachttopf gekauft."„Der Mensch ist nach Gottes Ebenbild und ihm gleichgeschaffen," sagte Jefim lachend.„Aber nun haben wirgehört, wozu man gebraucht wird... Das ist gut!"„Dazu schweigen wir nicht!" rief Rybin und schlug mitder Hand auf den Tisch.„Das dulden wir nicht!" fügte Jakob leise hinzu.Jgnaty verzog das Gesicht.Die Mutter bemerkte, daß alle drei Burschen wenigsprachen, aber mit der unersättlichen Aufmerksamkeithungriger Seelen zuhörten, und jedesmal, wenn Rybin sprach,blickten sie ihm lauernd ins Gesicht... Ssawclys Worteriefen in ihren Gesichtern sonderbaren scharfen Spott her-vor. Mitleid mit dem Kranken war in ihnen nicht zu spüren.Die Mutter beugte sich zu Sophie hin und fragte leise:„Sagt er wirklich die Wahrheit?"Sophie antwortete laut:„Ja. das ist wahr! Von solchem Geschenk hat etwas inder Zeitung gestanden... Das war in Moskau..."„Und dafür hat er keine Strafe bekommen..." sagteRybin dumpf.„Das müßte er doch... er müßte zum Volkhinausgeführt und in Stücke gehauen werden, und seinFleisch, das verfluchte, müßte man den Hunden vorwerfen...Große Strafgerichte wird das Volk halten, wenn es aufsteht.Wird viel Blut vergießen, um seine Kränkungen abzuwaschen.Dieses Blut ist— sein Blut, aus seinen Adern gesogen. DaSgehört ihm."„Es ist kalt!" sagte der Kranke.Jakob half ihm aufstehen und führte ihn zum Feuer.Der Scheiterhaufen brannte gleichmäßig hell, und diegesichtslosen Schatten zitterten um ihn herum und beobach-teten erstaunt das lustige Spiel des Feuers. Ssawely setztesich auf einen Baumstumpf und streckte seine durchsichtigen,trockenen Hände nach dem Feuer aus. Rybin nickte nach seinerSeite hin und sagte zu Sophie:„Das— ist schärfer als Bücher! Das— muß man wissen!,. Wenn eine Maschine einem Arbeiter den Arm abreißt,oder ihn tötet, so wird erklärt— hat selbst Schuld. Wennaber einem Menschen das Blut ausgesaugt und er weg-geworfen wird, wie Aas... so läßt sich das nicht erklären.Ich begreife jeden Mord... aber dieses Foltern zum Ver-gnügen— das begreife ich nicht!... Und warum foltertman die Leute, warum quält man uns alle? Zum Vergnügen,aus Scherz, damit man lustig auf Erden leben, sich sür dasVolksblut alles kaufen kann— eine Sängerin, Pferde, silberneMesser, goldenes Geschirr... teures Spielzeug für dieKinder. Du mußt arbeiten, immer mehr arbeiten, ich aberscharre mir durch Deine Arbeit Geld zusammen und schenkemeiner Geliebten einen goldenen Nachttopf."Die Mutter hörte zu. Wieder blitzte als heller Streifenin der Finsternis der Weg Pawels und seiner Mitgänger vorihr auf,Als das Abendessen beendet war, lagerten sich alle umden Scheiterhaufen: vor ihnen brannte geschwinde das Holzaufzehrende Feuer, und hinter ihnen hing Finsternis, die denWald und den Himmel verhüllte... Der Kranke blickte mitweitgeösfneten Augen auf das Feuer, hustete im interbrochenund zitterte am ganzen Leibe. Es schien, daß die Reste seinesLebens unaufhaltsam aus seiner Brust hervorbrachen und