»NcHM festl tief Set Polizeloffihlet. aber seine .Stimme wurde von einem wüsten Geschrei übertönt: ..Nieder mit dem SelbstherrschertumI" Die Polizisten jagten die Meng« auseinander, stürzten auf den Rednex los: dex aber schrie, von allen Seiten dicht Umringt: „Es lebe die Freiheit! Mit ihr laßt uns leben und isterben l" Die Mutter wurde beiseite gestoßen: sie lehnte sich voll Angst an ein Kreuz und schloß in Erwartung von Schlägen die Augen. Stürmisch durcheinander wirbelnde mißtönende Klänge betäubten sie, die Erde schwankte unter den Füßen, der Wind und die Angst erschwerten den Atem. Unruhig drang das Pfeifen der Polizisten durch die Lust, eine rohe Kommandostimme erscholl, Frauen schrien hysterisch, die hölzerne Einfriedigung krachte, und dumpf klang das schwere Stampfen der Füße auf der trockenen Erde... Das dauerte lange und das Stehen mit geschlossenen Augen wurde der Mutter schließlich unerträglich... Sie blickte geradeaus und stürzte mit ausgestreckter Spanb schreiend vorwärts. Nicht weit von ihr auf einem schmalen Wege zwischen Gräbern hatten Polizisten den tang» haarigen Menschen umringt und trieben die von allen Seiten auf sie eindringende Menge zurück. In der Luft blitzten weiß und kalt die Säbel: sie flogen über den Köpfen hin und fielen schnell nieder. Spazierstöcke und Zaunlatten tauchten auf und in ihrem wilden Tanz erhob sich das blasse Gesicht des jungen Menschen: seine feste Stimme übertönte den Sturm wütender Erregung: „Genossen! Wo�u vergeudet Ihr Eure Kraft?,, Er trug den Sieg davon. Die Menschen warfen die Stücke hin, sprangen einer nach dem anderen fort: die Mutter aber drang von einer unbezwinglichen Macht getrieben vor- wärts und sah, wie Nikolaj, den Hut in den Nacken geschoben. die vor Wut sinnlosen Menschen zurückdrängte. Sie hörte seine tadelnde Stimme: „Ihr habt den Verstand verloren... so seid doch ruhig!,. Es schien ihr, als wenn seine eine Hand rot war.., „Nikolaj Jwanowitsch, gehen Sie fort!" schrie sie, auf shn zustürzend. ».Wohin wollen Sie? Man wird Sie schlagen«T» (Fortsetzung folgt) Das Los der indifchen frauen. _ Von Dr. F. W i e s e, "■ Es gibt bielleicht kein zweites Volk auf Erden, bei dem alle Vorkommnisse des täglichen Lebens so unter dem Einfluß reli- giöser Gebräuche stehen, als das indische. Die kleinsten häuslichen Tätigkeiten werden verrichtet nach vorgeschriebener Weise, unter vorgeschriebenen Gebeten oder ebenso vorgeschriebenem Schweigen. So ist auch die Stellung der Frau in der Familie durch religiöse Gesetze geregelt: eine Acnderung ihrer Lage ist nur unter Verlust der Kaste möglich, der furchtbarsten Strafe für den Hindu, weil sie den Verlust der Familienehre und Rechte, wie jeder gesellschaftlichen Stellung bedeutet. Nach der Lehre der Bedas, der kanonischen Bücher der Hindus, ist die Frau ihrer Natur nach unfähig, selbständig zu sein. Sie ist ein unreines Wesen, muß unter steter Bewachung gehalten werden und kann nur durch die Geburt eines Sohnes, der fie«er- löst", einen Anspruch auf Seligkeit erlangen. Der Vater, dem zu Seinem Verdruß ein Mädchen erwächst, hat darum die religiöse Zslicht, sie so bald als möglich mit einem Manne der eigenen Kaste zu verheiraten. Nach den Vorschriften des Manu ist acht Jahre das früheste, zwölf Jahre das höchste Alter, in dem ein Mädchen verheiratet sein muß; bei den Brahmanen ist das Alter von ö bis zu elf Jahren die gewöhnliche Zeit der Verheiratung. Von dem Augenblicke an, wo der junge Gatte sein Kinderweib in sein Haus abholt,— waS unter so kostspieligen Gebräuchen geschieht, daß fchon deshalb die Geburt mehrerer Töchter als ein Unglück ange- sehen wird, das zum Gebrauch des Mädchenmordes geführt hat— ist sie ihm auf Gnade und Ungnade unterworfen; kein Recht schützt sie, keine Barmherzigkeit hilft ihr. Eingeschlossen in der Zenana, dem Frauengemach, lebt sie als Sklavin des Mannes und der alteren Frauen deö Hauses. Das heilige Buch des Manu sagt: „Eine kinderlose Frau kann im achten jähre, eine, deren Kinder sterben, im zehnten, eine, die nur Töchter hat, im elften Jahre ent- lassen werden; eine, die krank ist, ohne Aufschub. Dagegen:«Wenn der Mann ein Trrnker ist und bösen Leidenschaften ergeben, und die Frau erzeigt ihm keine Achtung, so soll sie ihres Schmuckes und ihrer Gerätschaften beraubt und auf drei Monate verlassen werden." Auch die Ungerechtigkeit, daß das Unglück der Frau harter bestrast spird, als das Laster des Mannes, beruht auf religiösen Vor- stcllungen. Der Hindu glaubt an die Unsterblichkeit der Seele, in, sofern sie eines Wesens mit Gott ist. Der Mensch wird mehreren Existenzen verschiedener Art unterworfen, um den Lohn seiner Taten zu ernten. Wird er endlich stei von den Folgen seiner Handlungen, so geht er auf in den Geist und hört auf. ein Jndi- viduum zu sein, wie der Fluß sich nicht mehr als Fluß unterscheidet, wenn er in den Ozean aufgeht. Das ist der Begriff der Seligkeit des Hindu. Jedes Vergehen aber unterwirft ihn einer neuen, niederen Existenz. Ein so großes Unglück, wie das, keine Söhne zu haben, kann nur die Strafe schwerer, in einer früheren Existenz begangener Sünden sein, und ist die Frau demnach jeder Züchii. gung wert. Am furchtbarsten zeigen sich die Folgen dieser An» schauung in dem Looö der indischen Witwen, die nach dem Volks. glauben stets den Tod des Mannes verschuldet haben. Oft noch dem Kindesalter angehörend, nicht wissend, was es verschuldet hat wird ein solch armes Geschöpf behandelt wie die fluchwürdigste Verbrecherin. Ausgestoßen von allem freundlichen Verkehr, ihres Gutes, ihrer Kleider, sogar ihres Haares beraubt, hat sie hinfort nichts mehr zu erwarten als Absperrung, Verachtung, Mißhandlung. Was Wunder, wenn es früher Tausende dieser unglücklichen Wesen dazu trieb, den Tod auf dem Scheiterhaufen zu suchen? Dann waren sie das Elend ihrer Existenz los, ja. sie waren aus dem Zustande tiefster Verachtung zu fast göttlicher Ver» ehrung erhoben und durften die Erlösung hoffen, die ihnen sonst ewig verschlossen bliebt Die englische Regierung hat die Witwen» Verbrennung verboten, aber fie hat das Los der Witwen nicht bessern können. Eine der letzten Volkszählungen ergab im britischen Gebiet 20 030 628 Witwen, ein Verhältnis, das sich nur dadurch erklärt, daß bei verschiedenen Volksstämmen Indiens , sowie in der großen Brahmanenkaste die Vielweiberei herrscht Von diesen Witwen waren 73 976 unter 9 Jahren. 207 388 kamen auf das Alter von 10— 14 Jahren und 382 736 auf das Alter von 14 bis zu 19 Jahren. Alle diese Kinder an Alter und Verständnis ver» fallen dem furchtbaren Schicksal, das der religiöse Fanatismus über sie verhängt.„Die Engländer haben die Suttee oder Sati abge» schafft", schreibt ein gelehrter Hindu,„aber acht weder die Eng- länder noch die Engel wissen, was in unseren Häusern vor sich gehtt Mit der armen Hülflosen Witwe der hohen Kaste steht es gerade wie in früheren Jahrhunderten. Das einzige Mittel, ihr Elend zu enden, ist ihr mit der Suttenfeier genommen« und niemand ist da. der ihr helfe l" Allerdings ist es nicht ganz richtig, anzunehmen, daß die Sitte der Witwenverbrennung vollständig in Indien beseitigt fet Gerade in der neuesten Zeit zeigt sich die britische Regierung in Indien lebhaft beunruhigt, daß alle ihre Bemühungen, die„Satt* oder den frelkvilligen Feuertod der Witwen auszurotten, diesen furchtbaren Brauch nicht völlig haben beseitigen können. Im vorigen Jahre wurden sieben bei einer solchen Verbrennung be» teiligte Personen streng bestraft um ein Exempel zu statuieren, und vor kurzem kam schon wieder die Nachricht, daß eine junge Witwe mit Hülfe von Verwandten und Nachbarn auf dem Scheiter- Haufen ihrem Gatten in das Paradies gefolgt ist. Man weiß nicht genau, wann der Brauch der Sati begann. Der griechische Geschichtschreiber Diodorus Siculus erwähnt ihn als etwas ganz Gewöhnliches zu der Zeit, als die Mazedonier zum erstenmal nach Indien kamen. Heute sieht man in allen heiligen Orten an den Wegen der Hindustanischen Pilgerfahrten kleine weiße Säulen zur Erinnerung an die„Sati"— der Name bedeutet im Sanskrit eigentlich„Die Gute",„Die Treue", und ist erst spät von Euro» päcrn irrtümlich auf die Witwenverbrennuna übertragen worden die sich neben der Leiche ihres Mannes in die Flammen geworfen haben. Erst im Jahre 1829 wagten es die Engländer, den tief ein- gewurzelten religiösen Brauch als„strafbaren Mord" zu bezeichnen, und Sir William Bentinck hielt aus eine so strenge Anwendung des Gesetzes, daß die„Sati" nur in abseits gelegenen Gemeinden im geheimen geübt wurde. Im Jahre 1817 waren allein in der Präsidentschaft Bengalen 700 Witwen lebendig verbrannt worden. Die Witwe, die nicht freiwillig den Flammentod starb, mußte ein elendes Leben führen und wurde von allen verachtet. Den Hindus erschien„Sati" als das einzige Mittel, das Glück der Eheleute im zukünftigen Leben zu sichern. Der letzte Fall, über den ein Mitarbeiter des„World Maga» zine" berichtet, hat sich erst vor kurzem ereignet. Die Beamten in Lucknow erfuhren, daß eine jugendliche Witwe in Cawnporc den Feuertod gestorben wäre, und die Untersuchung ergab, daß das Gerücht auf Wahrheit beruhte. Verhaftungen konnten nicht vor- genommen werden, da die fanatischen Anhänger der allen Religion die Namen der Mitschuldigen geheim hielten. Auf demselben Scheiterhaufen, der die Leiche des Arbeiters Thunder Mookerjhan verzehrte, hauchte auch seine fünfzehnjährige Witwe freiwillig den Atem aus. Die beiden Eheleute, die der alten Religion anhingen, hatten sich erst vor kurzem geheiratet und liebten sich leidenschast- lich. Als dann Chunder Mookerjhan nach kurzer Krankheit starb, schien die junge Witwe wie betäubt. Niemand drängte fie zu ihrem Opfer, fie begleitete die Leiche auch nicht zum Scheiterhaufen. Erst als das Holz schon angezündet war, erschien sie ganz in Weiß gekleidet. Ihre Gewänder waren mit Kerosin gettänkt, und ihren Unterkiefer hatte fie festgebunden, als ob fie schon eine Leiche wäre, wahrscheinlich um nicht vor Schmerz zu schreien, wenn die Flammen sie ergriffen. In ihren Augen leuchtete der Entschluß, sich mit ihrem Gatten in der anderen Welt zu vereinen, und ohne
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24 (20.9.1907) 183
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