Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 193.

69]

Die Mutter.

Freitag, den 4. Oktober.

( Nachdrud berboten.)

Roman bon Magim Gori. Deutsch von Adolf Heß. In ihrer schweren Schlaftrunkenheit hörte die Mutter Sumpfe Schritte auf der Straße, im Flur. Die Tür wurde behutsam geöffnet, ein leiser Anruf ertönte:

"

Latjana... Hast Dich schon hingelegt?" Nein."

„ Aber sie schläft?" Sicher."

Ein Licht flammte auf, zitterte und ertrank in der Finsternis. Der Bauer trat ans Bett der Mutter und legte den Schafpelz zurecht, der ihre Füße einhüllte. Diese Bärt lichkeit rührte die Mutter wegen ihrer Einfachheit, und sie schloß lächelnd wieder die Augen. Stephan entkleidete sich schweigend und kletterte auf die Pritsche. Es wurde still.

Die Mutter lag, gespannt auf das träge Schwanken der träumerischen Stille lauschend unbeweglich da, und vor ihr bewegte sich in der Finsternis das blutüberströmte Gesicht Rybins hin und her...

Auf der Pritsche ertönte ein trockenes Geflüster. Siehst Du, was für Leute sich damit abgeben Schon bejahrte, die den Kummer gründlich kennen gelernt, die gearbeitet haben, für die es Zeit wäre, auszuruhen, die machen sich noch daran!... Du bist doch noch jung und vernünftig... Ach, Stephan..."

Der Bauer antwortete mit seiner tiefen, feuchten Stimme: Ohne Ueberiegung soll man an solche Sachen nicht Herangehen... Du mußt abwarten..."

„ Das habe ich schon gehört."

Die Laute rissen ab und erklangen wieder- Stephans Stimme summte:

-

So muß man es machen muß erst mit den Bauern einzeln reden, da ist zum Beispiel der Alerei Makow. der ist mutig, kann lesen und schreiben und ist von der Obrigkeit gekränkt Sergej Schorin ist auch) ein vernünftiger Bauer Anjasem ist ein recht­schaffener, verwegener Mann. Das genügt einstweilen! Wir müssen herausbekommen, wo wir fie treffen,

und dann müssen wir selbst die Leute zu sehen bekommen, von denen sie sprach. Ich nehme ein Beil und gehe in die Stadt... Holz spalten. Stann ja hinge gangen sein, um Geld zu verdienen.. Hier muß man vor fichtig sein... Sie hat recht der Preis eines Menschen ist scine Arbeit... und dieses ist eine Arbeit und dieses ist eine Arbeit- daß man fich hoch einschätzen muß, wenn man daran geht. Denk einmal an jenen Bauer. Den fannst Du vor Gott hinstellen, nicht vor den Kommissar und er gibt nicht nach... Der besteht auf seinem Recht, gräbt sich bis in die Knie hinein Was sagt Du zu Nikita? Der hat sich geschämt... Ein­fach wunderbar! Nein, wenn ein Bolt einmütig an etwas Herangeht, dann zieht es alle hinter sich her..."

...

„ Einmütig! Man schlägt in Eurer Gegenwart einen Menschen und Ihr sperrt das Maul auf.

"

" Wart doch einmal... Sag- Gott sei dank, daß wir selbst den Mann nicht geschlagen haben... jawohl! Es kommt vor, daß sie einen zwingen, jemanden zu schlagen! Und man haut ihn. Vielleicht weint man innen vor Mitleid, aber man haut doch zu.. sonst wird man selbst dafür ge­houen. Da wird befohlen, zu sein, was die Behörde will: Wolf, Schwein... aber Mensch sein, ist verboten... Und mer es riskiert der wird aus der Welt geschafft. Nein, man muß es so zu drehen wissen, daß mit einem Male viele es riskieren und plöglich alle aufstehen."

Er flüsterte lange und dämpfte seine Stimme bald so, daß die Mutter seine Worte kaum hörte, dann begann er wieder lauter. Sein Weib hielt ihn zurück:

,, Still, Du wedst sie auf.

"

Die Mutter lag in tiefem Schlaf, der sich plötzlich wie eine dichte Wolfe auf sie gewälzt, fie umfangen und sie fort­getragen hatte.

Tatjana weďte fie, als die graue Morgendämmerung noch blind mit leeren Augen in die Fenster blickte, und der

•

1907

fupferne Klang der Wächterglode in der falten Stille über dem Dorf schläfrig dahinschwamm.

" Ich habe den Samowar aufgefeßt, trinkt Tee, sonst wird Euch kalt, wenn Ihr Euch direkt aus dem Schlaf auf die Fahrt macht.

Mutter eifrig, wie er sie in der Stadt finden könnte. Ihr Stephan kämmte seinen wirren Bart und fragte die schien, daß das Gesicht des Bauers heute besser und fertiger als gestern war Beim Tee meinte er lächelnd:

Wie ist das wunderbar zugegangen!..." " Was?" fragte Tatjana.

,, Nun, diese Bekanntschaft!... So einfach..." Die Mutter fagte nachdenklich, aber überzeugt:

In der Sache herrscht überall wunderbare Einfachheit." machten nur wenig Worte, aber erwiesen ihr Gefälligkeiten, Die Wirtsleute verabschiedeten sich zurückhaltend von ihr, die zu ihrer Bequemlichkeit dienten.

Als die Mutter in der Postkutsche saß, dachte sie, dieser Bauer würde vorsichtig und lautlos wie ein Maulwurf und friedene Stimme seiner Frau an sein Ohr dringen und ihre ebenso unermüdlich arbeiten. Und stets würde die unzu­trockenen und brennenden grünen Augen glänzen, und solange fie lebte, würde niemals der rachedurstige, wolfsähnliche Mutterschmerz um ihre verlorenen Kinder in ihr sterben...

Sie dachte an Rybin, sein Blut, sein Gesicht, seine brennenden Augen und seine Worte, und ihr Herz krampfte sich wieder in bitterem Gefühl der Ohnmacht gegenüber den wilden Tieren zusammen. Und auf dem ganzen Wege bis zur Stadt stand vor ihr auf dem trüben Hintergrunde des grauen Tages die stämmige Gestalt des schwarzbärtigen Michailo im zerrissenen Hemde mit auf den Rücken gebundenen Händen, von Zorn und Glauben an seine Wahrheit erfüllt. Sic dachte an die unzähligen Dörfer, die sich schüchtern an den Boden schmiegten, an die Menschen, die heimlich den Einzug der Wahrheit erwarteten und an die Tausende, die ohne Nachdenken und schweigend ihr ganzes Leben arbeiteten, ohne etwas zu erwarten.

Das Leben erschien ihr wie ein ungepflügtes, hügeliges Feld, das stumm und gespannt auf die Arbeiter wartet und freien, rechtschaffenen Händen schweigend verheißt:

Streut den Samen der Vernunft und Wahrheit auf mir aus, id trage hundertfältige Frucht!"

Als sie in der Ferne die Kirchtürme und Häuser der Stadt erblickte, belebte und beschleunigte ein warmes Gefühl den Schlag ihres unruhigen, müden Herzens. In ihrer Er­innerung tauchten die besorgten Gesichter der Menschen auf, die von Tag zu Tag unermüdlich und voll fester Zuversicht die Flamme des Gedankens entzündeten und seine Funken über die Erde hinstreuten. Und die Seele des Weibes wurde vom ruhigen Wunsch erfüllt, diesen Menschen all ihre Kräfte zu widmen und dann noch ihre ganze Mutterliebe, die durch die Gedanken dieser Menschen zu neuem Leben erweckt war.

XVIII.

Zu Hause öffnete ihr Nikolai zerzaust, mit einem Buche in der Hand die Tür:

Schon zurück?" rief er fröhlich. Das ist wundervoll! Ich freue mich... sehr!"

Seine Augen blinzelten freundlich und lebhaft unter der Brille, er half ihr beim Auskleiden, blickte mit freund­ltchem Lächeln in ihr Gesicht und sagte:

,, Sehen Sie, bei mir war nachts Haussuchung, da dachte ich: Was mag das für einen Grund haben? Ist doch nichts mit Ionen passiert? Aber ich wurde nicht verhaftet Wenn man Sie festgenommen hätte, wäre auch ich nicht auf freiem Fuß geblieben."

"

-

Er führte sie ins Enzimmer und fuhr lebhaft fort: Aber man hat meiner Behörde nahe gelegt, mich aus dem Dienst zu jagen. Das macht mir aber keinen Ruminer... Ich habe es schon fait, die landlosen Bauern zu zählen und habe auch feine Zeit dazu

Das Zimmer fab aus, als wenn irgendwer von det Straße aus gegen die Wand gestoßen hätte, bis drinnen alles durcheinander geschüttelt war. Die Bilder lagen auf dem Fußboden, die Tapeten waren abaeriffen und hinaen in Feben