Nnterhaltungsblatt des Horwärts Nr. 194. Sonnabend, den 5. Oktober. 1907 (Nachdruck verboten.) 703 Die JVIutter» Roman von Maxim Gorli. Deutsch von Adolf Heß. Als die Mutter geendet hatte, stand Nikolai auf, ging, die Fäuste tief in den Taschen, eine Minute lang schweigend im Zimmer auf und ab. Dann murmelte er durch die Zähne: „Das muß ein großer Mann sein... Diese innere Schönheit I Es wird ihm schwer im Gefängnis werden, Leute, wie er fühlen sich da schlecht!" Dann blieb er vor der Mutter stehen und rief mit tönender Stimme: „Natürlich, all diese Kommissare und Wachtmeister sind gar nichts, sind der Stock in der Hand des klugen Schurken, des Dresseurs, ja, ja... Aber man muß das Tier deswegen töten, weil es sich in ein Raubtier hat verwandeln lassen! Man muß toll gewordene Schweine töten!..." Er barg seine Hände immer tiefer und bemühte sich, seine Erregung zu dämpfen, trotzdem fühlte die Mutter sie, und sie teilte sich ihr mit. Seine Augen waren ganz klein ge- worden, wie Messerspitzen. Er schritt wieder im Zimmer hin und her und sagte kalt und zornig: „Sie sehen den Schrecken! Eine Hand voll dummer Menschen, die ihre verderbliche Macht über das Volk ver- teidigt, schlägt, würgt, vernichtet alle... Die Verwilderung wächst, die Grausamkeit wird Lebensgesetz— bedenken Sie! Die einen schlagen und gebärden sich wie wilde Tiere, weil sie straflos ausgehen, sie kranken an der wollüstigen Gier nach Folterqualen, der abscheulichen Krankheit von Sklaven, denen gestattet ist, ihre Sklavengefühle und tierischen Ge- wohnheiten in ganzer Schändlichkeit zu zeigen. Andere werden durch Rachedurst vergiftet, noch anderd, die bis zur Stumpf- sinnigkeit geprügelt sind, werden stumm und blind... So wird ein Volk verdorben, ein ganzes Volk!" Er hielt inne, griff sich an den Kopf und schwieg einen Augenblick, indem er die Zähne aufeinander preßte. „In diesem tierischen Leben wird man unwillkürlich selbst zum Tier," sagte er leise Dann beherrschte er aber seine Erregung und blickte fast ruhig in das von stummen Tränen überströmte Gesicht der Mutter. „Aber wir dürfen keine Zeit verlieren, Nilowna... Wo ist Ihr Koffer?" „In der Küchel" antwortete sie. „An unserein Torweg stehen Spione — solche Menge Schriften werden wir nicht unbemerkt aus dem Haufe schaffen ... Verstecken können wir sie nirgends, denn ich denke, sie kommen heute nacht wieder. Ich will nicht, daß Sie verhaftet werden... Also, so leid mir die Arbeit auch tut, wir wollen alles verbrennen." „Was?" fragte die Mutter. „Alles, was im Koffer ist." Sie verstand ihn, und so traurig ihr auch zu Mute war, jetzt rief ein stolzes Gefühl über ihren Erfolg in ihrem Gesicht ein Lächeln hervor. „Da ist nichts, kein einziges Blatt!" sagte sie und begann allmählich lebhafter von ihrem Zufammentreffen mit Tschumakows zu erzählen. Nikolai hörte sie anfangs mit unruhigem Stirnrunzeln, dann mit Erstaunen an und rief schließlich' indem er sie in ihrer Erzählung unterbrach: „Hören Sie— das ist ja ausgezeichnet! Sie haben er- staunliches Glück..." Er blieb verwirrt stehen, preßte ihre Hand zusammen und rief leise: „Sie sind rührend mit ihrem Glauben an die Menschen. Sie haben solch gutes Herz... Ich liebe Sie wirklich mehr als meine leibliche Mutter..." Sie faßte ihn um den Hals und preßte schluchzend seinen Kopf an ihre Lippen. „Vielleicht..." murmelte er erregt und verwirrt über dieses neue Gefühl„vielleicht spreche ich sehr dumm..." Als sie sah, daß er wieder auflebte und die große Freude in ihm spürte, beobachtete sie ihn lächelnd mit leiser Neu- gier de: sie wollte dahinter kommen, warum er so strahlend und lebhaft geworden sei. „Ueberhaupt— das ist wundervoll!" sagte er, die Hände reibend und lachte dabei leise und freundlich.„Wissen Sie, ich habe diese Tage ein furchtbar schönes Leben geführt— die ganze Heit mit Arbeitern gelesen, gesprochen, zugesehen ... und in meinem Herzen haben sich so erstaunliche, ge- sunde, reine Gefühle angesammelt... Was sind das für gute Menschen, Nilowna l Wie Maientage! Ich spreche von den jungen Arbeitern— die sind so stark und feinfühlig... voll Begierde, alles zu verstehen... Sieht man die an, so weiß man— Rußland wird die erleuchtetste Demokratie auf Erden!" Er hob zur Bekräftigung die Hand auf, als leistete er einen Schwur und fuhr nach kurzem Schweigen fort: „Ich habe hier gesessen und geschrieben und bin gleich- sam— versauert, über den Büchern und Ziffern verschimmelt ... fast ein Jahr solchen Lebens— Das ist Blödsinn... Ich bin gewohnt, zwischen Arbeitern zu sein, und wenn ich mich von ihnen entferne, wird mir ungemütlich... Ich gräme mich und sehne mich nach diesem Leben... Aber jetzt kann ich wieder mit ihnen zusammentreffen, mich be- schäftigen... Sie verstehen— Da stehe ich dann an der Wiege ungeborener Gedanken, vor dem Angesicht junger, schöpferischer Energie. Das ist erstaunlich einfach und hübsch und regt schrecklich auf... Man wird jung und fest, strahlt und führt ein reiches Leben!" Er lachte verwirrt und glücklich, und seine Freude ergriff auch das Herz der Mutter, die sie wohl verstand. „Dann aber— sind Sie eine furchtbar gute Frau!" rief Nikolai.„Sie besitzen eine so große, sanfte Macht... Die zieht gebieterisch die Herzen an Sie heran... Wie hell zeichnen Sie die Menschen... Wie gut sehen Sie sie!..." „Ich sehe ihr Leben und verstehe es, mein Freund..." „Sie— liebt man... und es ist so wundervoll, jemand zu lieben... so schön...!" „Nein, Sie sind es, die die Menschen von den Toten auf- erwecken, Sie!" flüsterte die Mutter, innig seine Hand streichelnd.„Mein teurer Freund, ich denke und sehe— eS ist viel Arbeit und viel Geduld nötig! Und ich möchte, daß Ihre Kräfte nicht schwinden... Hören Sie also, wie es weiter war... Da ist ein Weib, die Frau dieses Mannes." Nikolai setzte sich neben sie, wandte sein frohes Gesicht verwirrt ab, strich sein Haar, wandte das Gesicht aber bald wieder um, blickte die Mutter an und hörte ihre fließende, einfache und klare Erzählung begierig an. „Ein erstaunlicher Erfolg!" rief er.„Es war sehr wohl möglich, daß Sie ins Gefängnis kämen... und da plötzlich diese Ueberraschung! Augenscheinlich rührt sich auch der Bauer... Das ist übrigens ganz natürlich. Dieses Weib — ich sehe sie wunderbar deutlich!... Fühle ihr zorniges .Herz... Sie haben recht gesagt... das erlischt nicht... niemals! Wir müssen für die ländliche Arbeit besondere Leute ausbilden... Leute! Es fehlt uns an Leuten... überall! Das Leben verlangt hundert Hände..." „Wenn doch Paul frei käme... und Andrej" sagte sie leise. Er blickte sie an und senkte den Kopf. „Sehen Sie, Nilowna... es wird Ihnen schwer werden, das mit anzuhören, aber ich will Ihnen dennoch sagen... Ich kenne Paul gut— aus dem Gefängnis geht er nicht fort! Er will ein Gericht, er will in ganzer Größe dastehen... Darauf verzichtet er nicht. Das ist auch nicht nötig!... Er wird aus Sibirien entfliehen." Die Mutter seufzte und erwiderte leise: „Nun... Er weiß am besten.. Nikolai sprang schnell auf und sagte, plötzlich wieder von Freude ergriffen und den Kopf neigend: „Ich danke Ihnen, Nilowna, ich habe heute herrliche Minuten durchlebt... vielleicht die besten in meinem Leben... Ich danke Ihnen... und kommen Sie— wollen uns küssen!" Sie umarmten sich und blickten sich schweigend in die Augen. „Das— ist gut!" sagte er leise. Die Mutter löste die Hände, die semen Hals umschlangen und lächelte glückselig.
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24 (5.10.1907) 194
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