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Er setzte sich und verbarg fein flammendes Gesicht hinter Andrej's Schulter. Der dicke Richter neigte seinen Kopf dem Alten zu und flüsterte etwas. Der Richter mit dem blassen Gesicht blickte seitwärts nach dem Angeklagten hin und frigelte etwas mit Bleistift auf ein Blatt. Der Bezirksälteste schüttelte den Kopf und setzte die Füße vorsichtig um. Der Adelsmarschall unterhielt sich mit dem Staatsanwalt, das Stadtoberhaupt hörte zu und lächelte, indem es sich die Bade rieb.

Wieder erklang die trübe Rede des ältesten Richters. Die Advokaten horchten alle vier aufmerksam, die An­geklagten sprachen leise mit einander. Fedja, der verwirrt lächelte, hatte sich versteckt.

Wie hat er abgeschnitten?... Geradezu Festen!" flüsterte Sisow der Mutter ins Dhr. Bürschchen!..

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am aller Ach, Du, Die Mutter lächelte verwundert. Sämtliche Vorgänge waren ihr zuerst als eine überflüssige und schwere Einleitung zu dem Schrecklichen erschienen, das plötzlich alle mit faltem Schrecken erfüllen würde. Aber Pawels und Andrejs ruhige Worte flangen so furchtlos und fest, als wenn sie in dem Kleinen Haus der Vorstadt und nicht angesichts des Gerichts­hofes gesprochen wären. Fedjas leidenschaftlicher jugend­licher Ausfall tam ihr komisch vor. Im Saal bildete sich eine mutige, frische Stimmung; aus der Bewegung der Leute hinter sich erriet die Mutter, daß sie diese Stimmung nicht allein empfand.

( Fortsetzung folgt.)

Neue Erzählungsliteratur. Dida Jbsens Geschichte. Ein Finale zum Tagebuch einer Berlorenen von Margarete Böhme . Fontane u. Co., Berlin . Hedwig Hard. Die im Schatten gehen. Gustav Riedes Nach fl., Berlin W.

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zu bewerten. Das Thema Dirne flieg im Kurs und man benutte die Konjunktur. Margarete Böhme selbst, des guten Geschäftes ein­gedent, topierte fich und warf abermals die Geschichte einer Ver­lornen auf den Büchermarkt. Mir scheint, es ist an der Zeit, daß mit ihrem schief behandelten Thema langfam Front macht, wie es man gegen diese nunmehr zum Geschäft herabgefunkene Literatur mir nötig schien, obige Ausführungen vorauszuschicken. Denn unser Jahrhundert hat vorläufig noch andere gwede und Ziele als ein Jahrhundert der Dirne zu werden. Es könnte wiederum Buch­Beugung geschehen und eine Generation der Dirnen aus Passion entstehen, da ja alle Bücher so viel Schönes, Bewunderungswürdiges, Ruhmvolles von ihnen zu erzählen wissen. Dida Jbsens Tagebuch Spefulation- zeigt wiederum die sogenannte schöne Seele einer - der Name Jbsen fällt schon sehr verstimmend in das Kapitel Gefallenen, umranft von Webflagen über die pharisäische Welt, die auf den schweren Beruf der Dirne verächtlich herabfieht. Wie alte Kirchenbilder auf Goldgrund, so ist hier die Verführte und Aus­gehaltene tendenziös als Heilige auf den geldvergoldeten Hinter­grund der reichen Lebewelt gemalt. Psychologisch stößt man auf manche Feinheiten, namentlich in der Schilderung der Kinderjahre Didas in der Marsch( wobei Frenssen sichtlich abgefärbt hat), bann aber drängt sich eine Sensationstaktik unkünstlerisch vor. Der senti­spendenden Heldin und dito Genoffinnen, die alle wohl den Mut zur mentale Einschlag und die gewaltsame Verherrlichung der Freuden bequemen freien Liebe, nicht aber den Mut zur unbequemen frei­willigen Arbeit haben, machen aus dem Buch ein Zwitterding. Man dient den fäuflichen Mädchen nicht, daß man für idealere An­schauung ihrer Person sorgt, sondern daß man für idealere wirt­schaftliche Verhältnisse forgt. Denn die Prostitution ist keine Sittlich feitsfrage, sondern eine soziale Frage. Margarete Böhme faßt vom fentimentalen Frauenstandpunkt die Sache in erster Linie beim morali­schen Zipfel und gerät dabei zu falschen Berspektiven. Vom sozialen wie literarischen Standpunkte aus ist Dida Jbsens Tagebuch mithin wenig hoch zu bewerten, als Sittenbild aus dem Großstadtsumpfe wird es interessieren.

Hedwig Hard, deren Stizzen: Die im Schatten gehen" ich aus dem Stoß der Berlorenen Literatur gerade herausgegriffen habe, wandelt ganz im Schatten reip. in der Sonne Margarete Böhmes. In ihrem ersten Buche: Beichte einer Ge fallenen" bekennt sich die Verfasserin selbst als einstige Halbweltlerin. Aus diesem Grunde sah man in den Aufzeichnungen ein menschliches Es ist nicht so ohne weiteres zu entscheiden, ob die Zeit die Dokument. Und man überfah die Unzulänglichkeit ihrer schrift­Literatur bestimmt, oder ob umgekehrt die Literatur die Zeit be- ftellerischen Begabung. Die vorliegenden Stizzen von jenen Schatten­einflußt. Manchmal ist letzteres der Fall. Eine bestimmte Literatur- geherinnen, die heute in Seft schwelgen und morgen in der Haftzelle gattung, ein bestimmter Literaturtyp, frei aus der Bhantafie eines fißen, können jedoch kaum noch auf eine ernstere Beurteilung An­Dichters herausgeflossen, färbt auf Beit und Menschen ab. In Zeit spruch machen. Wollte man der Verfasserin auch ihren dilettantischen und Menschen wird lebendig, was dichterische Intuition geboren. Stil nachsehen, die rührselige Aufmachung ihrer Erinnerungen an Man könnte das Buch- Zeugung nennen. Jbsens Nora" ist ein Bei- Arbeitshaus, Haft, nächtliches Gewerbe usw. gemahnen umerquicklich spiel hierfür. Mit Nora wurde die ganze Generation der un- an die Hintertreppe. Frau Hard zeigt eine tiefere Schichte der verstandenen Frauen gezeugt. Das Drama färbte auf Zeit und Benusjüngerinnen, als Frau Böhme die Kontrolldirnen. Kleine An­Menschen ab. Die Literatur aller Länder ist reich an der- läufe zu einer gewiffen Sachlichkeit verlieren fich hierbei bedauerlich artigen Beugungsbüchern, die die Empfindungen und das in üppig wuchernden Sentimentalitäten. Die romanhaften Effekte Gebaren der Menschen in eine bestimmte Mode flei- find ebenso titschig wie das für den Käuferfang berechnete Titelbild

gewissermaßen dem Angesicht der Beit auf

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des Buches.

Berlin .

deten, die eine furze Spanne Zeit ihren Stempel aufdrüdten. Zwischen Goethes Werther" und Jbjens Nora" wären die verschiedensten Beein-. E. Porizky: Meine Hölle. Erschienen im Selbst­flussungsbücher zu nennen. Solche Beeinfluffung ist aber nur dann berlag des Berfassers. Berlin , Schleswiger­möglich, wenn die Zeit die Kraft verloren hat, ihren Stil selbst zu Ufer 6. bestimmen. In traftvollen Zeiten befruchtet das Leben die Literatur. E. Porizky: Liebesgewalten. Novollen. Karl Freund , und nicht die Literatur das Leben. In Sturm- und Drangperioden, tvo Gedanken und Jdeen, und mit den Gedanken und Ideen Der Verfasser nennt die Reihe seiner Schriften, für die sich erst Menschen reifen, bestimmt sich die Zeit selbst und ihre Signatur in letzter Zeit ein paar Verleger interessierten, Sammlung mensch manifestiert sich dann in den Büchern. Unsere heutige Zeit ist feine licher Dokumente. Benn man mir ein paar Blätter gelesen hat, traftvolle, teine große Zeit, aber sie hat immerhin doch ihre gewisse fühlt man, daß hier ein Mensch mit seinem Herzblut schreibt. Und Signatur. Wo find die Bücher, die diese Signatur eingefangen hinter den Tränen, hinter der Verzweiflung, dem auflehnenden Troz haben? Etwa Stilgebauers größenwahnsinniger Götz Krafft", das und wildem Hasse gegen eine grauiame Welt fieht man einen sich ein Buch der Zeit nemnt, oder Bierbaums erotischer Prinz Menschen, ein menschliches Herz. Ein Leidender schreibt hier ein er­Kudud", das fich den Untertitel ein Beitroman gibt? Oder findet ſchütterndes Anklagebuch: Meine Hölle. Nur Strindbergs grimmige fich ein Abbild unserer Zeit in den Büchern wieder, die Beichte, Dostojewskis zerfleischende Seelenbohrungen, Gortis pein­nach Margarete Böhmes Tagebuch einer Verlorenen" wie volle Sfizzen aus feinem Vagabundenleben unter Brüden Pilze aus dem Erdboden wachsen und von denen gerade bögen und Kellerbewohnern oder Semut Hamsuns be jetzt ein ganzer Stoß auf meinem Schreibtisch liegt? flemmender Hungerroman predigen die Erbärmlichkeit des Daseins Sehe ich mir diese Bücher auf ihren Zusammenhang mit dem Leben fo aus dem Erlebten heraus, wie Poriglys flammendes hin an, wahrlich so muß ich annehmen, daß wir jetzt im Zeitalter Lied vom Hunger, von dem fressenden Hunger, der das Gehirn der Dirne leben. Die Dirne und immer wieder die Dirne liefert taub macht und die Seele vergiftet. Der Verfasser ist eine jener den Stoff. Es sind Beichten, Tagebücher, Briefe, Geschichten, die alle das Faktum des Erlebten für sich in Anspruch nehmen. Und die Dirne soll umgewertet werden zu einem hochfittlichen Wesen. Weiß Gott , die Prostitution ist ein trauriges Kapitel in unserer Gesellschaftsordnung, aber das Bestreben dieser ganzen neuen Ge­fallenen- und Verlorenen- Literatur, die Dirne zu glorifizieren, eben weil sie Dirne ist, heißt denn doch die Begriffe arg verschieben. Die mutigen Kämpfer- und Vorfämpferinnen für die gerechte Beurteilung der unglücklichen käuflichen Geschöpfe haben gewiß ein verdienstvolles Stück Arbeit getan. Margarete Böhmes Tagebuch einer Ber­Lorenen" zeigte, daß in den verachteten Mädchen auch eine Seele, sagen wir poetisch ein Funken Göttlichkeit lebt. Aber num eine Regel daraus machen und alle Dirnen quafi ats. göttlich befingen, das geht wider den Strich. Und darum sind alle diefe Epigonenschriften, die Margarete Böhme heraufbeschworen hat, nicht viel höher als Spekulationsbücher

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tiefen problematischen Naturen, an denen das moderne flawische Judentum so reich ist. Er ringt mit dem Leben, das er in seiner ganzen schmutzigen Bestialität in Paris fennen lernt. Seine Ein­geweide brennen, weil er nicht den Sinn für die Brutalität hat, die man prahlerisches Leben nennt. Denken muß er, immer denken, lernen möchte er, aber der Magen fnurrt und meldet sich als der oberste Herr der Maschine Menich. Sein Bauch und seine Seele schreien zusammen nach Brot, aber das Leben schreit: verrecke. Er geht zu den Ausgestoßenen, bei denen er ein Herz für seine Dualen findet und flicht seinem Buche ein Kapitel ein: Den Huren ge­widmet. Ein Kapitel voller Schmerz, voll grausamer Wahrheit, voll weinender Menschenliebe, phrafenlos bis zur Erschütterung! Margarete Böhme möge es lejen. In Berlin , wohin er der Hölle Paris ent flieht, kriecht der Hungertod abermals an ihn heran. Er wohnt in einer Eierfifte und nährt fich bon faulen Heringen, schreibt Adressen und wartet als ingelesener Autor auf