Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 219.

Sonnabend den 9 November.

( Nachdrud verboten.)

7] Die Brüder Zemganno.

Von Edmond de Goncourt  . Gianni war ein Jongleur ersten Ranges; feine Sände waren mit einer Feinheit des Fühlens und Erfassens begabt, daß die glatten Flächen der Jongliergegenstände von selbst an diesen zu haften schienen, einer Bartheit des Berührens, von der man hätte meinen mögen, daß sie von Saugnäpfchen an den Fingerspigen hervorgerufen wurde. Es war ein seffelnder, zauberischer Anblid, zu sehen, wie der junge Künft­ler, mit der ganzen fraftvollen Gewandtheit seines Körpers dabei in Tätigkeit, einen Teller ergriff und ihn unter jenem ein wenig mystischen Lächeln, wie der Magier zu feinen Stückchen zu lächeln pflegt, auf seinen Händen hin und her laufen ließ jeden Moment bereit, zu fallen, und doch niemals zu Falle kommend. Einen Augenblick sah man den Teller so­gar, als er flach auf der Hand lag, sich von dieser empor­flappen, wie der Dedel einer Schachtel aufflappt, bis er mit jeinem Rande just nur noch auf dem äußersten Ende des Fingers ruhte, und dann sich wieder auf die Handfläche nieder­legen, als bewegte er sich in einem Charnier, das sich wieder fchloß.

Dann zeigte Gianni seine Geschicklichkeit im Songlieren mit drei Gegenständen von verschiedener Schwere: einer Eisen­fugel, einer Flasche und einem Ei, welchen Trid er damit be­schloß, daß er das Ei, ohne es zu zerbrechen, in der Höhlung des Bodens der Flasche auffing.

Endlich, ganz zuletzt, wo er mit den Händen sich ständig überschlagende brennende Fackeln jonglierte und Schüffeln und tugeln sich auf der Spike von Stäbchen drehten, die an einer Vorrichtung, welche er im Munde hielt, und oberhalb seiner Brust befestigt waren, erschien Gianni, umgeben von den Blitzen der Flammen und ihrer Reflere in dem Porzellan, wie der Mittelpunkt und die Achse der flimmernden Umdrehung all diefer hin und her trubelnden Maschinen", nach dem alten, malerischen Ausdruck von Réné François, Hofprediger des Königs.

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Den Beschluß der Vorstellung bildete eine komische Szene von drei oder vier Personen, in der bald die Kopfnuß", bald der Bajazzo, bald der Herkules agierte, und in welche der Direktor, der darin die Hauptrolle spielte, eine Phantasie der Erfindung hineingetragen hatte, wie man sie in solchen Buden­aufführungen nicht zu finden gewohnt ist. Es waren burleske Arrangements, drollige Episoden ohne Kopf und Schwanz, luftige Allerleis mit schallenden Ohrfeigen und Fußtritten auf die Hinterseite, die seit Anbeginn der Welt her das Privi­Tegium haben, die Welt lachen zu machen, närrische Dinge, die in luftig spaßhaften Gesten erzählt wurden, wunderliche Ver­wandlungen, tolle Narreteien, ein pofsenhafter Humor in feiner Glanzentfaltung, in welchen der Direktor effektvoll noch durch die Gewandtheit und Beweglichkeit seines alten Körpers wirkte.

1907

ländlichen Gegenden erzielte. Es war dies die Pantomime: Der verzauberte Sad.

1. Umgebung der Stadt Konstantinopel  , repräsentiert durch ein Stück spanischer Wand, dessen oberer Teil minaret­förmig ausgeschnitten ist. Promenade des alten Bescapé als Engländerin kostümiert, mit dem unvermeidlichen blauen Pincenez, dem weltenlaubfarbigen Schleier und komischer englischer Toilette.

2. Zusammentreffen der Engländerin mit zwei schwarzen Eunuchen.

3. Schmeichelnde und unmoralische Erzählung der Eunuchen, welche der Engländerin die Freuden und Annehm­lichkeiten schildern, die sie in dem Eierail des Großtürken finden würde.

4. Tugendhafte und unwillige Entgegnung der Eng­länderin, die erklärt, daß sie eine ehremverte Miß und ent­schloffen sei, eher zu sterben, als ihrer Jungfräulichkeit zu entjagen.

5. Versuch einer gewaltsamen Entführung der Eng­länderin. Heldenmütiger Widerstand der jungen Dame, im Verlauf dessen einer der Eunuchen einen Sad hervorzieht, unterſtüki von seinen Gefährten die Engländerin in denselben hineinsteckt und ihn mit einer Schnur oben fest zubindet.

6. Aufladen des Sades auf die Schultern der beiden Schwarzen unter dem Sträuben der Unglücklichen, die mit den Beinen strampelt und sich verteidigt wie ein kleiner

Teufel. Nun aber kam der Knalleffekt. In dem Moment, wo die

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beiden Eunuchen mit ihrer Beute verschwinden wollen, öffnet sich plötzlich der Sad unten und die Engländerin kommt zum Borschein im Hemd, davon laufend, was ihre Beine fie tragen wollen, unter grotesken Geberden des Schreckens und hochkomisch dazwischen geworfenen Gesten der Verlegenheit und Verschämtheit, fortwährend verfolgt von den beiden Gumichen und unter dem schallenden Lachen des Publikums in den Sand purzelnd und sich überschlagend, dann rasch sich wieder aufraffend, um weiter zu laufen, noch entsegter als vorher, noch verwirrter, drolliger verschämt in ihrer Blöße, ihrer unzureichenden Nachttoilette, bis es ihr endlich gelingt, durch einen rettenden Horizontalsprung, den fie quer durch ein Fenster in der Hinterwand ausführt, zu verschwinden.

Noch ganz das Nesthäfchen, brachte Nello, drei oder vier Jahre alt, für sein Teil den Leistungen der Truppe nur die Neugier seiner flugen, geweckt blickenden Augen und die um­hertrubelnde Munterfeit seines Körpers zu.

Auf der Bühne des Schaugerüftes sah man ihn anfanas, halb versteckt hinter den Röcken der Kopfmus", die er mit beiden Händen festhielt, für einen Moment den Kopf vor­strecken, noch bedeckt mit dem aus drei Stücken zusammen­gesetzten weißen Müßchen der erfteen Kindheit, unter dem die blonden Fiederchen des Haares sich hervorstahlen- dann, erschreckt von dem Gesumm der Menge, den Kopf und das München   wieder in dem beflitterten Tarlatan verbergen- dann von neuem ein diesmal etwas größeres Stückchen seiner Kleinen Person zu zeigen, diesmal etwas länger als vorher und mit etwas weniger Aengstlichkeit. Bald darauf, nady einem diefer niedlichen fühn- schüchternen Versuche und in einer Amwandlung zögernder Entschlossenheit, faßte er sich soweit ein Herz, über die Bühne nach vorn zu kommen: einen Finger im Munde, mit Schritten, die zugleich vorwärts gingen und zurüchielten, und mit einem Blid, der fich unablässig hinter ihm nach einer Rückzugedeckung, einem Ort der Zuflucht um­fah. Endlich, ein ungestümes, plötzliches Vorwärtsstürzen, und er war an der Barriere des Empors, wo er, niederkauernd, fich so klein wie möglich machte und, das Geficht hinter der Rampe verborgen, mit Arm und Sand fich an ihr festhaltend, seine Blicke über den Meßplat dort unten schweifen ließ. Doch nicht lange währte es, so flößten ihm die aufregenden Klänge der großen Paufe hinter ihm in feiner verlegenen, furchtsamen

Tomaso Bescapé hatte in seinen jüngeren Jahren als hervorragender Gymnastiker geglänzt. Er erzählte, daß er fich in einer Pantomime seiner Erfindung aus einer Mühle, in der er von dem eifersüchtigen Gatten der Müllerin über rascht wurde, rettete, indem er auf den Spiten aufrecht in die Luft emporgerichteter Stangen, die von den ausgefandten Leuten des Müllers gehalten wurden, um damit Sagd auf den Galan zu machen, über sie hinweg spazierte. Mit zu­nehmendem Alter indes hatte unser Italiener sich genötigt ge­fehen, fich auf Stücke zu beschränken, welche bescheidenere gymnastische Leistungen von ihm selbst heischten und in denen er sich damit begnügte, durch gewandte komische Pantomimik zu wirken oder hier und da einen weniger schwierigen Saut de poltron, einen Saut d'ivrogne oder dergleichen in den Gang| Bewegungslosigkeit eine gewisse Courage ein, feine Füße be­der Handlung hineinzuspielen.

Unter den gymnastischen Pantomimen seiner Autorschaft fultivierte er gegenwärtig besonders ein kleines Intermezzo, das seinen jetzigen Mitteln so recht entsprach und zugleich auch den besten Erfolg bei dem Publikum der kleinen Städte und

gannen nach dem Takt zu zuden, sein aufgesperrter Mund zu fingen, und nun, seinen Stopf tapfer nach außen über die Rampe streckend, blidte er mit unerschrockenem Auge auf all die vielen zu ihm emporgerichteten Gesichter herab. Zulegt, unter dem Toben der Mufit, dem Rasen der Finale, dem