Unterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 220.

Dienstag, den 12 November.

( Nachdrud verboten.)

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Die Brüder Zemganno.

Von Edmond de Goncourt

Die letzte Vorstellung war beendet, der Mast des Belt zirkus niedergelegt und die drei Stüde , aus denen er zu fammengefügt wurde, das Leinendach, das Tautverk und alles Zubehör aufs schnellste in die mächtige Sadkleinwand verpadt, Gezogen von dem alten Schimmel, entfernte sich die Marin­gotte*) von den Mauern der Stadt.

1907

Zigeunerin aus der Zeit her, wo sie in der Krim tanzte, ein furzer Rod mit aufgenähten blutigen Herzen aus rotem Tuch.

Stepanida Roudak war für ihren älteren Sohn eine Mutter ohne Zärtlichkeit, ohne Wärme des Herzens, ohne Empfindung des Glücks gewesen, wenn er sich bei ihr befand; sein schien, nicht mehr. Gianni hatte die Folgen davon zu eine Mutter, deren Sorgfalt die Erfüllung einer Pflicht zu tragen, daß er in der ersten Zeit einer Ehe empfangen worden war, in welcher die Gedanken der jungen Frau noch ganz einem Jüngling ihres Stammes angehörten, und auf die Lippen der Gattin des alten Tommaso Bescapé noch oftmals ein Lied aus ihrem Heimatlande trat, in welchem es lautete: Greiser Gatte, grausamer Gatte, Erwürge mich! Verbrenne mich!

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Ich hasse Dich! Ich verachte Dich!

Einen Anderen liebe ich,

Und liebe ihn und sterbe!

Alle Wärme und Leidenschaftlichkeit der Mutterliebe,

Die Maringotte ist ein wandelndes Wohnhaus, unter­wegs von morgens bis abends, das häusliche ein und alles seiner Bewohner auf Wegen und Straßen: ein wandelndes Haus, das um elf Uhr am Rande einer Quelle Station macht, mit verstreutem Stroh aus seinen geöffneten Körben auf dem Wagendach und Strümpfen zum Trocknen auf den Rädern; ein Haus, das mit Einbruch der Nacht ausspannt und das Licht seines kleinen Fensterchens in das tiefe Dunkel einsamer, unbewohnter Gegenden hinaussendet, die Maringotte ist das wandernde Heim, in welchem der Bankist**) geboren wird, die es in dem Busen der Zigeunerin gab und die bisher keinen lebt und stirbt, und in welches, einer nach dem anderen, die Ausbruch gefunden, konzentrierte sich dann auf Nello, der Hebamme und der Totengräber kommt; das rollende Bretter- awölf Jahre nach Gianni zur Welt fan: auf Nello, ihren Letzt. Somizil, an welchem seine Bewohner mit einer Liebe hangen, geborenen, den sie nicht füßte, sondern in glühender Leiden­wie der Seemann an seinem Schiff. schaft und wilder Umschlingung an ihre Bruft preßte, als Und die guten Leutchen aus der Maringotte möchten um wollte sie ihn erstiden. Gianni, der unter einem kühlen feinen Preis der Welt anders wohnen, als in ihr; sie wissen Aeußeren ein warmes, liebendes Naturell verbarg, litt unter zu wohl, daß fie mur in ihr das sanfte Studern" bei dem dieser ungleichen Verteilung der mütterlichen Zuneigung, doch träumerischen Schlummer am Nachmittage finden, und das ohne daß die Bevorzugung Nellos dabei ein unfreundliches Ge­berwunderte Erwachen morgens an Orten, die man in dem fühl gegen den jüngeren Bruder in ihm rege gemacht. Gianni Dämmerlicht des gestrigen Abends zum ersten Male halb ge- fand die größere Liebe, die Nello zuteil wurde, natürlich. Er schen. Und, ei was! Genügten der Wagen und der Weg- wußte, daß er selbst, Gianni, nicht schön war, und er war abhang an den Wiesen und der Waldrand nicht, wenn die melancholischen Gemütes. Er sprach wenig. Seine Jugend Sonne schien? Und wenn es regnete hatte die Maringotte verbreitete feine Fröhlichkeit um sich her; er besaß nichts, was Selbst die nicht unter ihrem Vorraum, auf der entgegengesetten Seite der Eitelfeit einer Mutter schmeicheln fonnte. vom Hemmschuh, einen fleinen Ofen zum Kochen, und ließ sich Bei seinem jüngeren Bruder hingegen vereinigte sich Schön­Rundgebungen seiner Sohnesliebe famen ungeschickt zutage. die Kammer der Kopfmus" nicht zu einem prächtigen EB­zimmer für alle umwandeln? Denn die Maringotte enthielt heit mit einer füßen Munterfeit des Wesens, Reiz der äußeren zwei oder eigentlich drei Piecen, je von dem Umfang und der Erscheinung mit einschmeichelnder Zärtlichkeit, um ihn zu Höhe eines Schiffslogis. Da gab es zunächst, gleich hinter einem Geschöpfchen von einer Lieblichkeit zu machen, daß dem fleinen Vorraum, ein erstes Gemach mit einem aus andere Mütter die seinige mit neidischen Blicken betrachteten Brettern zusammengezimmerten großen Tisch in der Mitte, und die Vorübergehenden auf den Straßen Halt machten, um welcher abends, wo er mit einer Matrate bedeckt wurde, der ihn zu liebkosen. Man hätte das Gefichtchen Nellos einen Drahtseiltänzerin als Bett diente. Eine Tür in der Rückwand rosigen Strahl der Morgensonne nennen mögen. Und immer führte zu einem zweiten Gemach, der Wohnung des Direktors, gab es bei ihm muntere Drolligkeiten, lustige kleine Bagen­wo er mit seiner ganzen Familie, außer Gianni, schlief, der streiche, ein niedliches Allerlei von Dingen zum Lachen, mit den männlichen Mitgliedern der Truppe seinen Schlaf- tausenderlei von reizenden Kindlichkeiten, die nichts und doch raum in dem grünen Karren hatte. Der Direktor aber hatte jo bezaubernd find; immer fröhliches Leben und Lärmen und aus seinem Zimmer deren zwei gemacht, durch Zusammen- umherspringen. Er war eines jener entzückenden Kinder, stellung von ein paar Stücken spanischer Wand, welche, die zur Freude der Lebenden zur Welt gesandt zu sein scheinen, bei Tage halb wieder zusammengelegt, bei Nacht einen ge- und das Lächeln seines Rosenmundes und seiner dunklen schlossenen Alkoven um das Ehebett bildeten: einer Bettstelle Augen ließ die Truppe so manchesmal die beklagenswerten bon Mahagoni mit drei Matraßen versehen. Einnahmen, die mageren Mahlzeiten vergessen.

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Mit seinen alljährlich neu angestrichenen Holzwänden, Sen weißen Gardinen seiner kleinen Fensterchen, den auf die Bettschirme aufgeklebten Bildern, die in dem naiven Un­gefchid ihrer Malerei alte Legenden vorführten, und dem Schlafforbe Nellos in der einen Ede, machte dieses teine, enge und niedere Stückchen Häuslichkeit den Eindruck eines schmucken Kästchens, das von dem angenehmen Duft der mit

Thymian gefüllten Kissen durchweht war, den Sieucha zur

Beit seines Blühens gepflückt.

Ueber dem einfachen Bett hing an einem Nagel ein bunter, schimmernder Feßen Zeug: das kurze Nöckchen der

*) Die Maringotte" war ursprünglich das Fuhrwerk der aus­ländischen Sändler, die in der Provinz umherzogen; erst seit etwa 40 Jahren ist diese Bezeichnung auch auf das Gefährt der Wander fünftler ausgedehnt worden. Es wird bei diesen auch die Caravane" oder das Zu Hause"( le chez- soi) genannt. Anmerkung des Ver­fassers. **) Uebliche Gesamtbezeichnung der wandernden Künstler, ohne Unterscheidung ihres speziellen Faches( Sunstreiter, Gymnastiker, Seiltänger u. dergl.), etwa entsprechend dem alten" Gauller" oder fahrendes Volk" oder dem von Holtei gebrauchten Bagabunden ujm nm. d. Uebers.

Dieses von allen verzogene Kind aber war nirgends lieber als in der Gesellschaft des einzigen, der es zuweilen auszankte: den lärmenden, geschwäßigen Nello sah man, so oft er dazu gelangen konnte, geraume Zeit hindurch artig und still Seite an Seite mit dem wortfargen Gianni figen, als ob er just dessen Schweigfamkeit suche und liebe.

fünften Jahre ihren Anfang: als er vier und ein halbes Jahr Die akrobatische Ausbildung Nellos nahm in seinem zählte. Bunächst war es nur erst ein gymnastisches Bewegen der Glieder, Armstrecken, Beugen der Beine, gewissermaßen ein Erwecken der einzelnen Muskel- und Nervenpartien der jugendlichen Gliedmaßen, ein versuchsweises und maẞvolles in Zugbringen der Kräfte des Meinen Burschen. Fast gleich­zeitig damit wurden, bevor das Skelett fest geworden und die Anochen die Biegsamkeit der frühesten Jahre verloren hatten, die Beine des Kindes täglichen Spreizungen unterworfen, die ben Tag zu Tag ein wenig größer wurden, so daß sie in einigen Monaten den Knaben dahin brachten, die volle Spreizung nach der ganzen Länge der Beine mit ihnen aus. zuführen. Ebenso übte man ihn darin, das eine seiner Beine mit der Hand bis zur Höhe des Kopfes emporzuheben, dann,